Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet
Reinhard Döhl | Von "Underground" zu "Twin IV"

Zu Plastischen Arbeiten und Photographien Stephanie Bollingers

Ich beginne mit einem Zitat, zunächst ohne Kommentar. Es stammt von Edvard Munch und lautet: "Ich male nicht, was ich sehe sondern was ich sah."

Die Einladungskarte zur Ausstellung gibt ein Exponat wieder, das, "Steven's BMW, NYC, 1999" datiert und getitelt, den Blick durch die Frontscheibe eines Autos zeigt. Auch dies lasse ich zunächst unkommentiert.

Die heutige Ausstellung ist bereits der dritte Ulmer Auftritt Stephanie Bollingers. 1995 stellte sie sich mit der Klasse Micha Ullman im Künstlerhaus Ulm (Katalog) vor, 1996 hatte sie in der Galerie Sebastianskapelle ihre erste Einzelausstellung. Heute zeigt sie zum zweiten Mal eine umfassendere Werkübersicht. Dennoch halte ich eine kurze Vorstellung der Künstlerin für nicht überflüssig.

1967 in Stuttgart geboren, studiert Stephanie Bollinger nach dem Abitur zunächst das Fach Psychologie an der Universität Landau/ Pfalz (1987-1990), wendet sich dann aber entschieden der bildenden Kunst zu: zunächst mit einem Studium der Bildhauerei (Klasse Türk) an der Freien Kunsthochschule Nürtingen (1990-1992). Dann in der Fachklasse Micha Ullman an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart (1992-1998), dem sie noch ein Aufbaustudium im Fach Bildhauerei bei Micha Ullman und Karin Sander (1997-1998) folgen läßt. Seit 1997 nimmt sie selbst einen Lehrauftrag an der Katholischen Fachschule für Sozialpädagogik in Stuttgart wahr und seit 1998 arbeitet sie freischaffend.

Stephanie Bollinger hat sich also - und das ist zugleich das erste, was ich festhalten möchte - bei ihrer Entscheidung für den Beruf der Künstlerin Zeit genommen. Und sie hat in dieser Zeit nicht nur handwerklich/künstlerische Erfahrungen gesammelt, sondern auch in einem wörtlichen Sinne Welt er-fahren auf ausgedehnteren Reisen, schon in ihrer Kindheit/Jugend durch Europa (durch Frankreich, Italien, England, Spanien, die Niederlande und Dänemark), während ihres Studiums 1990 auf einer 2monatigen Reise via Österreich und Ungarn in die Ukraine, 1991 auf einer 6wöchigen Reise durch Schottland und Irland. 1992/93 war sie über New York City 2 Monate in Chile und Argentinien unterwegs.

Stephanie Bollingers künstlerische Entwicklung findet also - und das ist das zweite, was ich festhalten möchte - auffallend zugleich auf dem Weg des Reisens / vor dem Hintergrund von Reisen statt, die auch nach Abschluß der Ausbildung den weiteren künstlerischen Werdegang mit bestimmen werden, beginnend 1997 mit einem 3monatigen Stipendienaufenthalt in Prag und Tschechien, 1999 mit einem Arbeitsaufenthalt in New York City, wo das auf der Einladungskarte wiedergegebene Photo zu lokalisieren wäre. 2000 folgen ein Arbeitsaufenthalt in Washington D.C., Zwischenstationen in New York City und Cleveland, Ohio, ist Stephanie Bollinger, als Gast der Ragdale Foundation, Artist in Residence in Lake Forrest, Chicago, Illinois, um danach ihren 3monatigen Amerikaaufenthalt in Orlando/ Miami, Florida und Washington D.C. zu beschließen. Über den Jahreswechsel 2000/01 hält sie sich ein weiteres mal für 1 Monat in Florida auf.

Die letztjährige Rundreise zu den gotischen Kathedralen Nord- und Mittelfrankreichs vernachlässige ich, weil sie meiner Kenntnis nach bisher keine Spuren im Oeuvre Stephanie Bollingers hinterlassen hat, und halte drittens fest, daß Stephanie Bollingers Reisestationen zunehmend auch Arbeitsaufenthalte waren, was den Betrachter ihrer Arbeiten zu Spurensuche provozieren muß.

Betrachtet man das bisherige Werk Stephanie Bollingers, wie es sich hier und heute präsentiert, läßt sich oberflächlich zwischen "Plastischen Arbeiten" (S.B.) und Photoserien unterscheiden, die sich aber in der Wurzel als zwei Seiten ein und derselben Münze berühren. Dies gilt es also unter anderem deutlich zu machen, wobei ich unter Bezug auf das eingangs gegebene Munch-Zitat von der Hypothese ausgehe, daß die "Plastischen Arbeiten" Stephanie Bollingers zeigen, was sie sah (= Vregangenheit), während die Photoserien zeigen, was und wie sie es sieht (= Gegenwart).

Der Titel der auf der Einladungskarte wiedergegebenen Photographie lautet "Steven's BMW, NYC, 1999". Mit der Jahreszahl 2000 ist die Arbeit a.a.O. der "Gladstone Series, New York City" zugeordnet. Die Photographie zeigt aber nicht Steven's BMW, sondern den Blick durch die Frontscheibe des Autos. Und nicht der Besitzer des Autos, sondern die Photographin hat mit Hilfe einer Kamera diesen Blick durch die Frontscheibe des Autos geworfen, nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen auf etwas, das sich nicht nur wegen der unsauberen Frontscheibe so genau nicht erkennen läßt, zumal es sich links und rechts zusätzlich um Spiegelungen handelt, so als sei weder die Frontscheibe, durch die das Auge blickt, noch das, was das Auge sieht das eigentlich Wichtige, als käme es vielmehr darauf an, den Blick selbst festzuhalten, einen Blick in seiner Idee wahrzunehmen. (Und dies in einem durchaus wörtlichen Sinne, denn das griechische idea bedeutet ja nicht nur Aussehen, Anblick, sondern auch Ansicht, Vorstellung sowie das, was wir unter Idee verstehen.)

"Steven's BMW, NYC, 1999" gehört zu einer Folge von Photos, die in New York aufgenommen wurden, nachdem Stephanie Bollinger ihre Produktion auf Farbphotographie umgestellt hatte. Vorausgegangen war, noch schwarzweiß, eine während des Pragaufenthalts 1997 entstandene Photosequenz, die ebenso in dieser Ausstellung zu sehen ist wie die 2000 entstandene Witney Series nebst einer umfassenderen Folge von Farbphotographien aus Chicago.

Für sie alle gilt das eher Unübliche. Wenzelsplatz oder Karlsbrücke wird man auf den Prager Panorama-Photographien umsonst suchen, stattdessen Abseitiges finden, das dem touristischen Auge in der Regel entgeht und dennoch auch Prag ausmacht. Für die klassische Städteansicht untypisch sind auch die gelegentlichen Unschärfe, die sich durch das sandgestrahlte Glas, hinter dem die Photographien präsentiert werden, noch verstärkt.

Während die Panorama-Photographien der Pragserie Augenblicke abseits der im Reiseführer für einem Stadtbummel vorgeschriebenen Wege festhalten, während sich die Farbphotos der Witney Series um einen unsichtbar bleibenden Menschen gruppieren und seinen Lebensumraum (einschließlich monumentaler Architektur) fixieren, blickt die Serie der "Rooms" in die Miniaturzimmer einer Mrs. James Ward Thorn, die im Art Institute of Chicago als Wohnraum-Modelle zu besichtigen sind: New York City 1930, Paris 1940, Virginia 1870, California 1910, Connecticut 1920. Der Museumskatalog gibt diese Stuben ohne Puppen, diese Räume ohne Bewohner in einer Einsicht von Oben wieder, während Stephanie Bollinger sie aus der Froschperspektive photographiert. Dabei bekommen sie, nicht nur durch die Unschärfen, etwas beklemmend Auratisches, das sich für den Betrachter durch das auch hier wieder zwischengeschaltete Fliegengitter noch verstärkt.

Ob damit der von Benjamin beklagte Verlust der Aura des Bildes durch die Photographie auf eine freilich vertrackte Weise zurückgewonnen wird, will ich hier nicht erörtern. In jedem Fall halten die Photographien fest, was Stephanie Bollinger und wie sie es sieht, auch anders sieht, während ihre "Plastischen Arbeiten" zeigen, was sie gesehen und in ihrem visuellen Gedächtnis als Form modellhaft gespeichert hat.

Der Eröffner der ersten Ulmer Einzelausstellung hat dies anekdotisch an einem Exponat erläutert:

"Als ich es zum erstenmal in ihrem Atelier sah, mußte ich sie mitten in unserem Gespräch unterbrechen, weil ich ganz aufgeregt war. Ich sagte: an der Schorndorfer Straße in Richtung Schwäbisch Gmünd stehen an der linken Straßenseite Holzschuppen oder Scheuern... Ja! rief sie, nun wiederum mich unterbrechend, genau! Das sind sie!
Mich faszinierten diese Schuppen schon seit langem allein schon wegen ihrer archetypischen Form, die sich unauslöschlich in mein Gehirn eingegraben hatte. [...] Es sind Häuser wie Kinder die zeichnen, klar, einfach, funktional, voller Kraft im Diesseits fest verankert. Ihre Form, steht für sich. Und damit sich keine Überhöhung einschleicht, ist das von ihr verwendete Material nicht edel, sondern einem Aktenrollschrank entnommen und zurechtgesägt. [...] Doch lassen wir uns nicht täuschen! Die Einfachheit ist verwickelt!"

Man könnte bei den "Plastischen Arbeiten" der heutigen Ausstellung grob zwischen Landschaft und Architektur im weiteren Sinne unterscheiden, oder auch, wenn man die Begriffe Stadt- und Architekturlandschaft beim Wort nimmt, von 'natürlichen' und 'künstlichen Landschaften' sprechen.

Von 'natürlichen Landschaften' z.B. bei den Exponaten "Plateau", "Tal"[schluß], "Ufer", [Fels]"Überhang", für die ìn der Regel das anekdotisch Mitgeteilte gilt. Entstanden 1998 oder 1999, zeigen sie wenig Entwicklung, sind eher so etwas wie Landschaftsvarianten, Formen, die sich einprägen, wenn man sich in Landschaft bewegt.

Ganz anders die 'künstlichen Landschaften', bei denen Stephanie Bollinger werkgeschichtlich zunächst mit einer Art Untergrundarchitektur, mit Tunneln und Unterführungen begonnen hat um sich fortschreitend einer Hochhausarchitektur zuzuwenden.

Als Beispiel für erstere nenne ich eine bezeichnenderweise "Underground" getitelte Arbeit aus dem Jahre 1997, als Beispiele für letztere die diesjährigen Arbeiten der Ausstellung: "Mart", "Sears", "Amoco", "North Lake Shore Drive" oder "First National".

Wie immer gilt diese angenommene Werkentwicklung nicht ohne Ausnahme, was die "Twin Towers" belegen, deren erste Realisation noch aus der Akademiezeit, 1997, datiert, der noch im gleichen Jahr ein zweiteiliges Sperrholzmodell und 1998 und 2001 "The Twins III" und "The Twins IV" folgen. Ich komme auf sie zurück.

Nun könnte man es bei diesem Nebeneinander von 'natürlicher' und 'künstlicher Landschaft' als dem Nebeneinander zweier Werksujets der Künstlerin belassen, wenn sie nicht (und dazu noch als geborene) Stuttgarter Künstlerin in einer Stadt lebte und arbeitete, deren Topographie Landschaft so sehr negiert, daß das künstlerische Bewahren und Hervorbringen von Landschaft im Atelier ein nahezu oppositioneller Akt ist.

Johannes Auer hat vor gut zwei Jahren bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Stuttgarts Topographie der zur Landschaft gehörenden "Horizontlinie oder Horizontalen" gleich "zweifach" ausweiche. Ich zitiere:

"Nach unten fällt und verschwindet die Horizontale im Stuttgarter Kessel - nach oben wird die Horizontlinie vom allgegenwärtigen Stuttgarter Symbol, dem Fernsehturm, himmelwärts verwiesen. Wie ein überdimensionaler deutender Zeigefinger lenkt der Fernsehturm unseren Blick nach oben. Anders ausgedrückt: Stuttgart fehlt die sinnlich erfahrbare Mittelebene. Die Horizontale ist auf abstrakte Konstruktion und gedankliche Imagination beschränkt."

Und Johannes Auer sieht einen Ansatz der "Plastischen Arbeiten" Stephanie Bollingers darin, daß sie "die Stuttgarter Landschaftsnegation" [ich möchte hinzufügen: ein weiteres Mal] radikalisiere, daß sie in einer Stadt, "die ihre Horizontlinie in den Kessel fallen läßt" und "in zusätzlicher radikaler Konsequenz, die Menschen, die sie durchqueren, unter die Erde verbannt", die Stuttgarter "Stadtlandschaft im Untergrund" [er]findet.

Der "himmelwärts" weisende Fernsehturm ließe sich in diesem Gedankenspiel dann als ein zweiter Anstoß benennen, der in den letztjährigen "architektonischen" Arbeiten seine Ausformung fände in einem Wechselspiel zwischen Plastik und realer Architektur, bei der nun freilich nicht mehr der Stuttgarter Kessel mit seinen Tunneln, sondern die amerikanische Hochhausarchitektur Modell stünde, eine monumentale Skyline, der die Künstlerin auf ihren Reisen, die man auch als Ausbruchversuche aus dem Kessel interpretieren könnte, konfrontiert war.

Wie schon gesagt datiert die erste Auseinandersetzung mit den Twin Towers, 1997, noch in der Akademiezeit: zwei 4 m hohe, insgesamt 120 cm breite, 3 cm dicke zusammengetackerte Sperrholzstreifen, die oben mit Spiegelfolie begrenzt und links und rechts mit weißer Farbe abgesetzt sind, flankiert von einem zweiteiligen Modell aus dem gleichen Material, nun aber in den Maßen 85 x 40 x 35 cm. Es befindet sich ebenso in der Ausstellung wie das 2,50 m hohe Folgemodell (Polyesterharz, Edelstahl) von 1999, wie eine vierte Arbeit, die 2001 in zeitlicher Nähe zur Zerstörung des World Trade Centers am 11. September entstand.

Nicht aber als Reaktion auf eine Zerstörung, die im World Trade Center symbolisch den Kapitalismus treffen wollte, diskutiert "Twin IV", wie man aus der Goldfarbe, mit der die Plastik überzogen wurde, schließen könnte, diesen folgenreichen Vorfall. Und falls doch, dann in eine ganz andere Richgtung. Wie bei allen Arbeiten der letzten Zeit geht es Stephanie Bollinger auch bei "Twin IV" um die Beziehung zwischen Plastik und realer amerikanischer Architektur. "Die goldene Farbe", zitiere ich eine Werkstattnotiz der Künstlerin,

"Die goldene Farbe, ebenso wie der Sockel klassisches Medium kultischer Überhöhung, einerseits und die Schrumpfung von Maßstäben weltläufiger Monumentalarchitektur andererseits konfrontieren sich in diesen aus sehr dünnem Sperrholz zusammengefügten Hohlplastiken."

Aber das ist noch nicht alles. Die hier einschlägigen Arbeiten diskutieren nämlich über die Konfrontation hinaus noch ein zweites und, wie mir scheinen will, gewichtigeres Problem. Auch in seinem Fall darf ich aus einer Werkstattnotiz, diesmal vom Januar dieses Jahres, zitieren:

"Beim Machen der 'goldenen Arbeiten' schien es mir ganz unabdingbar, den Innenraum der Plastiken vollkommen leer, also auch frei von allen stützenden Elementen, zu halten. Schaut man von unten in die Arbeiten hinein, sieht man die genau Umkehrung der Außenform, also das 'luftige' Negativ der nach oben den Raum verdrängenden Außenform.

Während der Wochen, die ich damit zubrachte, die Arbeiten [...] aus dem dünnsten Sperrholz zusammenzunageln, das ich finden konnte, konnte ich mir den Drang[,] dies so zu machen[,] nicht genau erklären.
Es schien mir eine rein ästhetische Notwendigkeit zu sein, die Formen, allen landläufigen Konstruktionsfragen zum Trotz, ein zweites Mal zu erschaffen, nun aber hohl, [um] dem nach außen verdrängten Raum den hohlen, leeren Raum wieder 'zurückzugeben'.

Später [...] wurde mir [...] besser verständlich, daß es sich nicht um einen Gegensatz zwischen Form und Raum handelt, sondern um einen Zusammenhang."

Zu diesem Verständnis hatte Stephanie Bollinger eine Sutrenlektüre verholfen, konkret die Lektüre der "Sutra vom Herzen der vollkommenen Weisheit":

"Form ist nicht verschieden von Leerheit,
noch ist Leerheit verschieden von Form;
wahrlich: Form ist Leere, und Leere ist Form."

[Galerie in Kornhauskeller / Pro Arte - Ulmer Kunststiftung, 26, 4.2002]