Jürgen P. Wallmann | Plagiat im deutschen Blätterwald. Der "Fall Celan", mit einem Nachspiel

"Man sollte doch erwägen, ob es nicht an der Zeit wäre, den altindischen Brauch der Witwenverbrennung zumindest bei den Witwen von Schriftstellern wieder einzuführen", meinte vor vollbesetztem Auditorium jüngst der Münsteraner Germanist Dr. Klaus Günther Just. Zu solchen Überlegungen hatte den rabiaten Dozenten die 1960 erschienene Ausgabe der Dichtungen von Iwan Goll veranlaßt, die von dessen Witwe Claire Goll betreut worden ist.

Wie "fahrlässigschludrig" (Walter Jens) diese Gesamtausgabe in Wirklichkeit ist, stellte sich heraus, als einige Anhänger der Goll-Witwe versuchten, mit Hilfe dieses Buches die Plagiats-Vorwürfe der streitbaren Claire gegen den Lyriker Paul Celan zu beweisen.

Seit Jahren schon unternimmt es Claire Goll, die Person und Dichtung Paul Celans mit allen Mitteln zu diffamieren. Celan, Büchner-Preisträger 1960, gilt mit seinen bisher vier Gedichtbänden als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker. Unter tragischen Umständen. mußte der 1920 in Tschernowitz in der Bukowina geborene Dichter 1948 seine Heimat verlassen und lebt nun seit vierzehn Jahren in Paris. Vorn Spätherbst 1949 bis März 1950 verkehrte er mit dem ebenfalls in Paris lebenden Goll, der seine eigenen Dichtungen in deutscher, französischer und englischer Sprache veröffentlicht hatte.

Kurz vor seinem Tode bat Goll Celan darum, seine französischen Gedichte ins Deutsche zu übertragen. Celan erfüllte den Wunsch. Nach Abschluß der Übertragungen, Ende 1951, aber ließ die Witwe Claire Goll von ihrem Verleger das Manuskript zurückweisen, mit der Bemerkung, es trage allzu deutlich die Signatur Celans. Dann machte sich Claire selbst an die Übersetzung, offenbar in der Meinung, die Gedichte trügen ohnhin alle ihre Signatur:

Claire übersetzte also, aber: Abschriften der Übertragungen Celans blieben "zur Arbeitserleichterung" in ihrem Besitz ... Diese Beschuldigungen wurden zum Teil kritiklos übernommen, und die Anhänger der Witwe starteten eine sich ständig steigernde Kampagne gegen den, wie sie schrieben, "Meisterplagiator" Paul Celan. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die muntere Treibjagd, als ein Mitarbeiter der Zeitschrift "Baubudenpoet" und rüder "Fallbeil"-Autor Zitate positiver Celan-Kritiken mit dem eigenen Zusatz abdrucken ließ: So zu lesen im "Baubudenpoet", verfaßt von einem "Felix Mondstrahl". Und im März 1960 schrieb Claire Goll dem "Baubudenpoet" erfreut, sie habe sich Weiter berichtete sie von der Bekanntschaft Golls mit Celan, den sie diesmal beiläufig der Erbschleicherei verdächtigte, und schrieb von Celans Goll-Übertragungen aus dem Französischen, sie seien - ein Vorwurf, den ihr keiner abnehmen wird, der Celans meisterhafte Übertragungen von Rimbauds "Bateau ivre", Valerys "Die junge Parze" und von Gedichten von Apollinaire, Char, Nerval und Supervielle kennt. Überdies schrieb Claire Goll von der Konterten die Celan-Verteidiger Marie-Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann und Klaus Demus: Wieder suchte Claire Goll Celan Plagiate vorzuwerfen, mußte aber nun die Zahl der "Parallelstellen" auf eine einzige reduzieren, da sich die anderen als unhaltbar erwiesen hatten. Auch diese eine Stelle erwies sich später als nichtig. Denn beim Vergleich der älteren Ausgaben von Büchern Iwan Golls mit der 1960 erschienenen Gesamtausgabe stellte sich heraus daß Aber noch immer gab es einige unentwegte "Gollisten", und so beschuldigte, allerdings in wesentlich vorsichtigerer Weise, Rainer K. Abel (= Kabel) in der "Welt" vom 11.11.1960 Celan der "Anleihe" bei Goll. Paul Celan hat die ganzen Jahre hindurch und bis heute zu den Verleumdungen geschwiegen. Endlich, 1960, übernahm es ein anderer für ihn, die Hetze zu stoppen: Hans Magnus Enzensberger bezeichnete Claire Goll als Peter Szondi schrieb in der "Neuen Zürcher Zeitung" gegen Kabel, eine Reihe von Büchner-Preisträgern stellte sich öffentlich hinter Celan, die "Neue Rundschau" veröffentlichte eine Entgegnung, um "einer systematischen Hetze entgegenzutreten". Schließlich mußte Kabel in der "Welt" vom 12.4.1961 zugeben, daß er Inzwischen war nämlich nachgewiesen worden, daß Claire Goll, um zu ihren "Parallelstellen" zu kommen, falsch und ungenau zitiert hatte. Am verblüffendsten für die literarische Öffentlichkeit allerdings ist die Widerlegung des Vorwurfs, Celans "Mohn und Gedächtnis" (1952) sei ein Plagiat des Nachlaßbandes "Traumkraut" (1951) von Goll. In Wirklichkeit waren die von Claire Goll zitierten Gedichte Celans nämlich Claire Goll konnte die Öffentlichkeit leicht irreführen, weil das Buch "Der Sand aus den Urnen", Auflage 500 Exemplare, in Deutschland so gut wie unbekannt war, da es wegen seiner zahlreichen Druckfehler kurz nach dem Erscheinen wieder aus dem Handel gezogen worden war. "Der Sand aus den Urnen" (Interessenten finden ein Exemplar unter der Nummer 770474-B in der Nationalbibliothek in Wien) war Claire Goll bekannt, sie besaß das Buch sogar. Im "Baubudenpoet" schrieb sie zwar im März 1960 von den aber in Wirklichkeit wußte sie genau, daß der Name des Verfassers Paul Celan war. Das Attentat Claire Golls ist vereitelt, aber immerhin - semper aliquid haeret. Manche von denen, die Celan früher heftig attackierten, versuchen jetzt, mit halbem Herzen das Gegenteil zu beweisen. So auch Reinhard Döhl, der im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auf Anweisung seines Stuttgarter Chefs Prof. Fritz Martini eine dreißig Seiten lange Abhandlung geschrieben hat, umständlich, wissenschaftlich verbrämt und wenig lesbar. Man merkt Döhl an, welche Mühe es ihm macht, das Gegenteil von dem zu behaupten, was er früher vertreten hat, als er Celan angriff und auf Kabels Artikel als Bestätigung seines Angriffes hinwies. Jetzt gibt er zwar zu, Kabels Behauptungen seien unbegründet, die wirklichen aufschlußreichen Textstellen aber werden verschwiegen, einige Unterstellungen ungeprüft übernommen.
Daß Döhl auch nicht gerade der geeignetste Mann war, sich mit Fragen des literarischen Plagiats auseinanderzusetzen, erweist sich bei näherer Betrachtung eigener Arbeiten Döhls. Döhl war mit seinem 1959 veröffentlichten Gedicht "Missa profana" bekanntgeworden, das ihm einbrachte. Jetzt sind erste Gedichte von ihm in Buchform erschienen, der erste Band "Missa profana" (1961), der zweite "Fingerübungen"; (1962). Im ersten Buch hat sich Döhl, nach seinen Bemerkungen zur Affäre Goll doch eigentlich über Plagiatsfragen informiert, deutlich an der Lyrik Enzensbergers "orientiert".

Enzensberger beispielsweise liebt es, Klassikerzitate ironisch abzuwandeln; aus dem Hölderlinvers etwa "Was bleibet aber, stiften die Dichter" wird

Wenn Enzensberger die Technik der ironischen Kombination von Wörtern und Wortgruppen zusammen mit der Alliteration als wesentliches Stilmittel kennt und schreibt, steht Döhl mit ähnlichen Bildungen nicht zurück. Weitere Anzeichen chronischer "Epigonorrhoe" (Alfred Kerr) zeigen sich in Döhls Buch "fingerübungen". Diesmal ist nicht Enzensberger das Vorbild, sondern Helmut Heißenbüttel. So finden wir In seinem Aufsatz, in dem er sich mit den Plagiatsvorwürfen gegen Paul Celan beschäftigte, hatte Döhl 1960 geschrieben: "Zunächst muß einmal feststehen, wann die Werke - dasjenige, das sich als Original bezeichnet, und dasjenige, das Plagiat sein soll - geschaffen wurden. Erst dann läßt sich prüfen, ob ein Nachschaffen möglich ist."

Im Falle Döhl ist diese Prüfung recht einfach: die zitierten Gedichte von Enzensberger erschienen 1957 und 1960 in Buchform, die Gedichte von Heißenbüttel 1956, Döhls Texte 1961 und 1962.

[In: LiteraturREVUE, H. 6, Juni/Juli 1962, S. 5]
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Helmut Kreuzer: betr. PLAGIAT LR 6/62

Darf ich Ihnen gestehen, daß mich der Aufsatz von J.P. Wallmann über Yvan Goll, Paul Celan und Reinhard Döhl enttäuscht hat. W. und Döhl haben, wie ich recht genau weiß, einige Zeit in der Redaktion der Studentenzeitschrift "notizen" zusammengearbeitet und sich dabei persönlich nicht sehr gut verstanden. Dieses private Zerwürfnis ist literarisch völlig irrelevant, weshalb ich sehr bedaure, daß Sie sich, gewiß unwissentlich, dazu mißbrauchen ließen, als Instrument einer Privatfehde unter Studenten zu dienen. Über die Goll-Ausgabe und über die Plagiatsvorwürfe gegen Paul Celan ist das literarische Publikum bereits gut informiert nicht nur durch Fach-, sondern auch durch Massenblätter ("DIE ZEIT", "DIE NZZ", "DIE KULTUR" usw.) Die gründlichsten Arbeiten zu diesen beiden Themen hat der von Ihnen angegriffene Reinhard Döhl geschrieben. W's Aufsatz enthielt weder einen einzigen neuen Gedanken noch neues Material. Er hat sich schlicht darauf beschränkt, schlicht wiederzugeben, was andere ermittelt haben, besonders Döhl, den ausgerechnet nun er des Plagiats bezichtigt. (Man muß freilich zugeben, daß er die Fälle Goll und Celan wohl nur aufgegriffen hat, um am Ende des Artikels seine Anti-Döhl-Affekte entladen zu können, die ansonsten keinen Menschen interessieren könnten.) Die Plagiatsvorwürfe sind überdies dürftig. Weil Enzensberger "an alle fernsehteilnehmer" schrieb, soll Döhl sich nicht "an alle haushaltungen" wenden dürfen? Warum soll man nicht "an den Mond" schreiben dürfen, wenn vorher schon jemand an Luna geschrieben hatte, warum nicht an Maria, wenn schon Gedichte "an Laura" vorliegen? So ist das Niveau aller Beispiele. Am schlimmsten finde ich, daß W. keinen Sinn für die Fairneß hat, mit der Döhl nach dem Studium des Materials für den angegriffenen Celan eingetreten ist, obwohl er zu einer anderen literarischen "Partei" gehört. Sollte sich das Moralische nicht auch in der Literatur von selbst verstehen?

[In: LiteraturREVUE, H. 7, Juli/August 1962, S. 5]