Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet | Ehehalt
Reinhard Döhl | Sand im Getriebe. Zu einem Objektkasten Wolfgang Ehehalts

Wenn eine Ausstellung "Sand im Getriebe" überschrieben ist und in einer Mühle stattfindet, stimmt das bedenklich. Denn Sand im Getriebe ist das Letzte, was ein Müller sich wünscht, es sei denn, er ist Besitzer einer Schrottmühle. Und vielleicht ist das diesmal wirklich der Fall, weil die aktuellen Produkte der Mühle, die Objekte, Objektbilder und Skulpturen der augenblicklichen Ausstellung, als Trash vom Feinsten angeboten werden.

Trash im Englischen bedeutet Schund, Kitsch, im amerikanischen Englisch, wie jeder, der mit einem PC arbeitet, aus leidvoller Erfahrung weiß, auch Abfall, schließlich sogar Gesindel. Ich schweife nicht ab, sondern mir geht es ernsthaft um den Nachweis, daß die heutige Ausstellung mit Schund, Kitsch, Abfall sehr wohl zu tun hat und ihr Künstler den vaterlandslosen Gesellen, der heimatlosen Linken, also jener Spezies zugehört, die Ludwig Ehrhard seinerzeit als Pinscher klassifizierte.

Und ich konzentriere mich dabei auf den auch auf der Einladungskarte abgebildeten Objektkasten "Sand im Getriebe", der assoziativ nicht nur an einen durch Rahmen (Frames) unterteilten Bildschirm erinnert, sondern auch in den einzelnen Bildteilen deutlich auf unsere elektronische Welt verweist. Icons für Elektrizität, Hochspannung etc. geben, vertikal und diagonal, auf dem Glas die Leserichtung an von rechts oben nach rechts unten, von rechts oben nach links unten. Der Rahmen oben rechts umfaßt zwei in Ehehalts Ikonographie häufigere Elemente, einen Adler (auf dem Hintergrund) und ein Herz (auf dem Deckglas), wobei die Farben den Adler als Bundesadler ausweisen. Unter dem Adler wurde mit Hilfe von Blättern etwas angekreuzt (gültig gemacht) oder durchgestrichen (ungültig gemacht).

Interpretatorisch bedeutend zerschneiden bzw. zerbrechen die vertikalen Icons Herz und Adler. Folgt man den Icons vertikal von oben nach unten, führen sie das Auge in ein quasi-archäologisches Scherbenfeld, das sich unter anderem aus einem Gartenzwerg, aus Schiller- und Mozart-Medaillons zusammensetzt, Gipsabnahmen von Nippesfiguren allesamt. Auf dem Deckglas ist vor das Feld der Gipse wie zu Schutz oder als Aussperrung ein exaktes Gitter gelegt, das mit der peniblen Untergrundzeichnung des Bildfelds links unten korrespondiert.
Diagonal verbinden die Icons für Elektrizität, Hochspannung den Adler mit einer Schalttafel, einem Kopf voller Elektronik, der nach unten mit einem viereckigen Kästchen, einer Uhr verkabelt ist, die sich an etwa der Stelle befindet, an der man traditioneller Weise das Herz vermuten würde. Dieses 'Herzstück' ist seinerseits nach rechts mit den Medaillons verkabelt, die in der Diagonalen von links oben nach rechts unten dem Kopf links oben entsprechen, während in der Bilddiagonalen von rechts oben nach links unten dem Herzen die Uhr zugeordnet ist, wobei zerbrochenes Herz und stehengebliebene Uhr korrespondieren. Zählwerk kaputt, signalisiert dies eine auf der Einladungskarte nicht zu erkennende Aufschrift auf dem Deckglas des Objektkastens.

Daß diesen vielfältigen Entsprechungen auch eine Verbindung unterschiedlichster kunsthandwerklicher Techniken entspricht, der Collage, Montage gefundener Materialien aus der elektro-technischen Welt mit dem Gipsabdruck von Nippesfiguren, dem Kitsch mit der peniblen Farbstiftzeichnung und dem Einsatz malerischer Mittel -

Daß diesen vielfältigen Entsprechungen, sage ich, auch eine Verbindung unterschiedlichster kunsthandwerklicher Techniken entspricht, ist augenscheinig und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Dabei können sich semantisch überraschende Bezüge herstellen, wenn man z.B. die Ziffern im Uhren-Feld mit den Blättern unter dem Bundesadler zu ZifferBlatt bzw. zu ZifferBlätter kombiniert. Die Rahmen, die Bilder im Bild stehen also nicht nebeneinander, sondern sind auf vielfache Weise technisch und semantisch miteinander verkabelt und vernetzt. Aber zu was?

Im vorliegenden Fall geht es vordergründig um das Thema Volkszählung, die auch den konkreten Anstoß zu diesem Objektkasten gab. Hier wäre darauf zu achten, daß das, was vom Zählwerk gezählt wird, Gartenzwerg und Gipskopf, Kitsch und Abdruck ist, daß das Zählwerk kaputt und das Herz zerbrochen ist, daß das X unter dem Adler als Ankreuzen und als Durchstreichen gelesen werden kann. Lese ich das Durchstreichen als Durchkreuzen, kommt der subversive Sinn des Objektkastens deutlicher zum Vorschein. Und es wird noch deutlicher, wenn ich eine weitere Eigenheit der Ehehaltschen Ikonographie berücksichtige.

Wolfgang Ehehalt hat sich in vielen seiner Bilder selbst versteckt, ist in ihnen auf vertrackte Weise anwesend. Ich habe das an anderer Stelle, z.B. im "Tagebuch einer Fliege", ausführlicher dargestellt und beschränke mich hier auf Nennung einiger Titel: unter ihnen das Studienblatt "Selbstbildnis mit Falke", auf dem sich Ehehalt ein paar Narrenschellen appliziert hat, also als närrisch deklariert. Ich nenne den "Mann mit Goldhelm", dessen Kopfbedeckung, Rembrandt zum Possen, ein Sturz- oder Schutzhelm ist, den ein aufgesetzter Reichs- oder Bundesadler entfunktionalisiert. Ich nenne die Radierung "Selbstbildnis mit Stieglitz", auf dem das rechte Brillenglas durch eine Palette ersetzt ist, verweise auf ein "Selbstbildnis beim Hohen C", das "Selbstbildnis mit Gletscherhütchen", die Studie "Selbstbildnis als Stillebenmaler mit wieherndem Einhorn und flüchtendem Wildschwein" oder die Radierung "Maler und Modell", der die frühe Skizze "Der Maler beäugt sein Schwein" zugehört, die das Schwein zum Modell des Malers erklärt.

Bereits diese unvollständige Liste einschlägiger Titel macht deutlich, daß es Ehehalt in keinem Fall um das traditionelle Selbstbildnis mit all seinen Implikationen geht, sondern um seine ironische Brechung. Indem er sich in die verrückte Welt seiner Arbeiten miteinbezieht, macht er deutlich, daß dies eine Welt ist, in der auch er lebt bzw. leben muß. Die Rolle, die er dabei annimmt oder spielt, gleicht der des traditionellen Pikaro, des Schelmen oder Narren, der der Welt die Zunge heraustreckt.

Genau dies tut auch der Kopf im Seitenprofil, und seine Zunge stößt dabei durch den Bildrahmen, zerstört die Ordnung. (Wozu ich ergänze, daß sich diese Ätschhaltung des die Zunge Herausstreckens auch auf anderen Selbstbildnissen Ehehalts findet und die Zerstörung bzw. Überschreitung des Bildrahmens eine vom ihm gelegentlich gern geübte Praxis der Illusionsbrechung ist.)

Ein Charakteristikum (in einem recht verstandenen Sinne) der Ehehaltschen Kunst ist ihre Neigung zu überraschender Kombination heterogenster Elemente, wobei sie durchaus so etwas wie ein unsinnige Syntax oder Kombinatorik entwickelt. Dabei verweisen seine Objektkästen auch auf die Tradition der Raritätenkästen zurück, sind sie so etwas wie säkularisierte Reliquienschreine, in denen nun nicht Reliquien, sondern Abfälle unserer Zivilisation wie Reliquien aufbewahrt werden. Sie zeigen, was sie zeigen. Sie stellen kritisch zur Schau und bedeuten doch nichts außer sich selbst. Der Kontrast zu den Reliquien zum Beispiel, die nach einer Chronik an Michaelis im Magdeburger Dom zur kritiklos öffentlichen Verehrung gezeigt wurde, macht es deutlicher als jeder Kommentar:

Ein Stück der Laterne des Judas Ischariot;
ein Splitter von der Leiter, auf welcher der warnende Hahn des Apostels Petrus gesessen hatte;
das Waschbecken des Pilatus;
eine Rippe vom Walfisch des Propheten Jonas;
eine Schleife vom Pantoffel der Jungfrau Maria;
vier Blätter von den Palmen, die das jüdische Volk Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem unter Hosiannahrufen zu Füßen legte;
und eine Scherbe von einem der Wasserkrüge, die bei der Hochzeit von Kana Verwendung fanden.
Die Einladung zur heutigen Ausstellung hat die Exponate als satirische Objekte, Objektbilder und [...] Skulpturen benannt. Satire definiert sich als radikale Überzeichnung weltanschaulich gesellschaftlicher Zustände mit der moralischen Absicht, diese zu verändern. Nicht die Welt der Elektronik ist dabei Ehehalts Ziel. Wie sollte sie auch, hat er doch selbst bei einem Stuttgarter internationalen Internetprojekt tatkräftig mitgewirkt. Ziel dieses Objektkastens war konkret eine überflüssige Volkszählung und darüber hinaus eine immer perfekter reglementierte und reglementierbare Gesellschaft. Auf sie bezogen, plädiert Wolfgang Ehehalt für den notwendigen Sand im Getriebe. Bei aller närrischen Verspieltheit können Ehehalts Arbeiten dabei durchaus die Grenze zum Alptraum überschreiten, in der Nachbarschaft anderer zeitkritischer Künstler, von denen wohl als erster Günter Eich bereits kurz nach Etablierung der Bundesrepublik in seine berühmten "Träume[n]" an den Hörer appellierte:
Nein, schlaft nicht, während die Ordner Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.
Wolfgang Ehehalt ist so ein unbequemer Künstler, seine künstlerischen Hervorbringungen sind unnütz, wollen Sand sein im Getriebe - eben Trash, alles in allem genommen.

[Schorndorf-Schornbach: Galerie in der Mühle, 26.4.1998]