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Reinhard Döhl | Der Wassermaler

Er malte auf Wasser - läßt Helmut Heißenbüttel eine seiner frühesten Erzählungen, "Der Wassermaler", beginnen:
Er malte auf Wasser. Dies war seine Entdeckung. Eine Entdeckung, zu der er sich schon lange auf dem Wege gefühlt hatte [...]
Er malte auf Wasser. Das heißt, er ließ nicht, wie frühere Maler, Wasser über eine Papierfläche oder Farben ineinander laufen. Er malte keine Bilder zum Aufhängen. Er malte überhaupt keine Bilder, das heißt Bilder, wie man sie bis zu dieser Entdeckung verstand.
Er malte auf Wasser. Auf alle Arten von Wasser. Auf Regenpfützen. Auf Seeflächen. Auf die Wasserspiegel vollgelaufener Töpfe und Teller. Auf übergelaufenes Wasser rund um eine Blurnenvase. Auf Meerwasser. Auf das seifige Wasser einer Badewanne.
Er malte auf glattes Wasser. Er malte auf bewegtes Wasser. Auf durchsichtiges Wasser und gefärbtes Wasser. Auf trübes Wasser voller Algen und Sinkstoffe. Auf Wasser mit Sonnenreflexen. Auf Wasser mit Schatten.. Auf begrenztes und unbegrenztes Wasser.
Manchmal befriedigte ihn das, was er zur Hand hatte, nicht, und reiste lange, bis er das richtige Wasser fand. Manchmal begnügte er sich mit dem ersten besten. Es konnte sein, daß eine fleckig überschwemmte Schreibtischplatte ihn bezauberte. Es konnte sein, daß er gerade diesen einen Bergsee zwischen dunkel bewaldeten Hängen benötigte. Manchmal, an Seen oder am Meer, beschränkte er sich darauf, vom Ufer aus, im Kies kniend, oder auf einem Landesteg liegend, zu malen. Manchmal ruderte er stundenlang hinaus, ehe er die richtige Beleuchtung, die richtige Abgeschiedenheit fand. Eine Zeitlang benutzte er ein Floß, das in der Mitte rechteckig ausgeschnitten war.

Diesen Wassermaler, von dem Heißenbüttel erzählt, gibt es - zur Beruhigung des Kunstmarktes und seiner Händler - natürlich nicht. Er ist letzte Konsequenz, als Fiktion gleichsam die Utopie der Wasserfarbenmalerei. Und ihre Vertreter sind allenfalls auf dem Wege dorthin.

Auch André Ficus ist kein Maler, der auf der Fläche zum Beispiel des Bodensees malt. Er malt noch Bilder auf dem Papier und zum Aufhängen. Er malt zum Beispiel den Bodensee, wie er ihn sieht. Er läßt dazu noch Wasser über eine Papierfläche oder Farben ineinanderlaufen. Und er tut dies in größerem Umfang seit Ende der 50er Jahre.

Wie sehr Ficus in den letzten beiden Jahrzehnten zum Aquarellisten des Bodensees und der Bodenseelandschaft geworden ist, belegt nicht zuletzt 1978 ein Gemeinschaftswerk mit Martin Walser, "Heimatlob. Ein Bodenseebuch", das auch denjenigen neugierig machte, der die Aquarelle bisher nicht kannte. In diesem Buch ging es, und Ficus geht es bis heute nicht darum, Bodensee und Bodenseelandschaft naturgetreu und möglichst lückenlos abzukonterfeien. Denn Ficus sieht sein Sujet nicht einäugig wie die Kamera des Sommertouristen. Er sieht es zu allen Jahres- und Tageszeiten mit dem Auge des Malers, das nicht abbildet, sondern als farbiges Ereignis unter bestimmten Licht Verhältnissen wahrnimmt und im flüchtigen Aquarell notiert. Natürlich heißen einzelne Blätter "Meersburg" (1973), "Köngisweg" (1977), "Spätwinter in Lindau" (1982), "Spätsommer in Wasserburg" (1985) oder "Bregenz" (1985), aber sie zeigen weniger Meersburg oder Bregenz, vielmehr halten sie, wie die Titel schon signalisieren spätwinterliche, spätsommerliche Atmosphäre fest. Und es ist kaum Zufall, wenn Ficus bei seinen Aquarellen zunehmend auf örtliche Zuweisungen verzichtet, stattdessen allgemein titelt, z.B. "Im Januar" (1986), "Abschied vom Sommer" (1986), "Nebel" (1986), "Gegenlicht" (1986), "Frühling im Schilf" (1984), "Winterföhn" (1983), "Niedrigwasser" (1978), "Fallendes Licht" (1977), obwohl die Arbeiten für den Bodenseekenner teilweise durchaus lokalisierbar wären. Nur kommt es Ficus eben darauf nicht an.

Ficus der in seinem malerischen Werk mit allen möglichen Techniken gearbeitet hat und arbeitet, auch mit Filzstift, mit der Rohrfeder, in Holz, entwickelte mit seinen Aquarellen der letzten zwanzig Jahre zugleich eine inhaltlich/malerische Antithese zu seinen Ölbildern, dem Schwerpunkt seiner Malerei. Auf die Gegensätzlichkeit von Ölbild und Aquarell nehmen denn auch wiederholt Autoren, die über ihn geschrieben haben, Bezug, wenn sie zwischen ,,Poesie und Prosa" unterscheiden oder - wie Martin Walser, zwischen den Ölbildern, in denen alles ein irrsinniges Gewicht habe, und den Aquarellen, in denen die leichte Hand Triumphe feiere.

Manchmal, schreibt Walser, in seinen Aquarellen, herrscht Ficus glücklich über einen Augenblick, über ein paar Augenblicke, kriegt er es hin: den bildlichen Aufenthalt des Eiligen, Jagenden, Wegfegenden, Untergehenden. Diese Aquarelle, diese manchmal geradezu glücklichen Bilder, sind Ausnahmen. Da feiert die leichte Hand Triumphe. Daß man lebt, scheint schön zu sein. Keine Arbeit. Die Zeit gibt sich innig als Augenblick.

Was hier angesprochen aber nicht expliziert wird, ist die Technik des Aquarells, die Schnelle des Auftrags, die nur wenig Variationen zuläßt, eine Sicherheit des Setzens und der Pinselführung verlangt, da Korrekturen praktisch unmöglich sind. Der falsche Ansatz, schon ein Zögern der Hand macht den Versuch reif für den Papierkorb. Oft sitzt erst der vierte, fünfte oder sechste Versuch, einen Landschaftseindruck, ein Stück Architektur, ein Stilleben in ihren spezifischen Lichtverhältnissen im Pinselstrich festzuhalten. Der Aquarellist wird zum Stenographen mit dem Pinsel. Und was er festhält, ist nicht nur, was er sieht, sondern auch, wie er es sieht. Und über dieses Wie fließt zugleich eine Menge Persönliches in das flüchtige Stenogramm mit ein.

Wenn ich die Werkentwicklung des Künstlers richtig sehe, ist dies nicht Von Anfang an so gewesen, sind seine Aquarelle, zunächst noch in der Nähe der Ölbilder, auch Versuche, sich von der Schwere zu lösen. Ficus hat rückblickend selbst darauf aufmerksam gemacht, als er schrieb:

Meine ersten Japanaquarelle, gegen Ende der fünfziger Jahre, waren meist dunklen Kolorits, schwer von Farbe, die Flächen zur Gänze geschlossen. Auch wandte ich viele Stunden an ein Blatt mit zwischenzeitlichen Trockenprozessen, wiederholten Übermalungen, grübelnd und experimentierend. Zum Schluß kam oft noch ein schwarzes grafisches Gerüst über das Ganze, ähnlich wie in den Ölbildern jener Epoche.

Die Aquarelle der 70er und 80er Jahre zeigen den Weg an, die Entfernung, lassen - technisch gesehen - ablesen, in welche Richtung die Eigengesetzlichkeit des Aquarells den Maler geführt hat. Physikalisch ausgedrückt, demonstrieren sie zunehmend eine Antithese zu den kompakten Farbpigmentschichten des Ölbilds: die Entkörperlichung der Farbe, die Lichtqualität des Pigments. Nicht so sehr die Stofflichkeit der erkennbaren Gegenstände, der Pflanzen, einer Architekturlandschaft, sind Inhalte dieser Aquarelle, vielmehr ihre Entstofflichung, in der Entstofflichung der Farbe ("Die Birnen", 1986; "Meersburg", 1985). Daß dabei - um noch einen Moment beim Technischen zu verweilen - der Bildträger eine besondere Rolle spielt, ist bei genauerem Hinsehen leicht einsehbar. Nicht nur Grund, auf den eine kompakte Schicht von Farbpigmenten aufgetragen wird, wie auf die Leinwand des Ölbildes, wirkt das Papier des Aquarells gleichsam wie ein Reflektor, ist es Bestandteil des Bildes.

Die reine Aquarellmalerei - sagt es ein verbreitetes Lexikon - läßt im Gegensatz zu den beiden anderen Wasserfarbentechniken, Gouache und Tempera, den Malgrund durchscheinen, bezieht ihn in den koloristischen Aufbau des Bildes ein; sie verzichtet also auf Deckfarben und verwendet stattdessen möglichst klare, ungebrochene Töne in dünnstem, lasierendem Auftrag. Als ideal gilt dabei die Beschränkung auf wenige Grundfarben wie etwa Indischgelb, Ockertöne, Preußischblau, Chromoxydgrün und Alizarinkrapp. Tonabstufungen innerhalb einer Farbe werden nicht durch Mischen mit Weiß, sondern vor allem durch die Intensität des Auftrags erreicht.

Ist der Malgrund derart in den koloristischen Aufbau des Bildes einbezogen, muß ihm, muß der Wahl des Papiers ein besonderes Augenmerk gelten So ist denn auch die Geschichte des Aquarells weniger die Geschichte seiner technischen Möglichkeiten - die Technik war, wenn man so will, sogar schon lange vor dem Aquarell da -, die Geschichte des Aquarells ist vielmehr wesentlich die Geschichte der Erprobung geeigneter Malgründe, speziell des geeigneten Papiers. Das Festhalten von landschaftlichen Atmosphäre, von Lichtempfindungen, das Stenogramm des Pinsels und die Lichtempfindlichkeit des Papiers machen in ihrer Verbindung erst eigentlich den Reiz des Aquarells aus. Diese Empfindlichkeit des Papiers hat zur Folge, daß große Aquarell-Sammlungen gerne unter Verschluß gehalten werden, daß grafische Sammlungen dem Interessierten nur ungern die Grafikschränke öffnen, daß Ausstellungen bevorzugt im späten Jahr (z.B. im November) wegen der dann günstigeren klimatischen Bedingungen gezeigt werden. Wenn Ficus ein sogenanntes Japanpapier für seine Aquarelle wählt, also das lichtbeständigere, in der langen Tradition chinesisch-japanischer Aquarelle und Schreibbilder erprobte Reispapier, muß man das auch in diesem Zusammenhang sehen. Was er darüber hinaus mit der Wahl dieses Papiers für die Struktur seiner Aquarelle gewinnt, macht ein genaues Hinsehen, bei Tageslicht sogar mehr noch als bei künstlicher Beleuchtung, schnell deutlich.

Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß es schon in den 70er Jahren gelungen ist, nach Aquarellen André Ficus' vielfarbige Serigrafien ebenfalls auf Japan-Papier zu drucken, die, wahrscheinlich erstmalig in der Geschichte des Siebdrucks, in ihrer Wechselwirkung von aufgedruckten Farbe und bedrucktem Papier jenen vergänglichen Augenblick noch im Medium der Serigrafie adäquat festzuhalten vermochten, den das Aquarell des Malers stenografiert hatte.

Damit komme ich zu einen Letzten: Man könnte die Geschichte des Aquarells von einem frühen Ansatz bei Dürer, von den Niederländern des 17. Jahrhunderts über das englische Landschaftsaquarell des 18. Jahrhunderts, seine Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert vor allem durch William Turner, seine Bevorzugung im Umkreis des Blauen Reiters, die Aquarelle Mackes bis hin zu den Arbeiten von Andre' Ficus und neuerdings Günther C. Kirchbergers - man kann die Geschichte des Aquarells, unabhängig davon, ob es als Skizze, als vorläufige Notiz oder als selbständiger Bildtypus begegnet, subsumieren als eine Geschichte unablässiger Versuche, den flüchtigen Augenblick von Landschafts- und Lichtstimmungen festzuhalten. Dabei wurde das Aquarell zunehmend zum Vehikel malerischer Stimmung, malerischer Ausdruck einer Haltung, die im Augenblick Vergängliches zu fassen versucht. Die Bodensee-Aquarelle André Ficus' sind augenscheinlich derartige Stenogramme des im Augenblick Vergänglichen, stenografierte Spuren aber auch der Erinnerung und Suche nach der verlorenen Zeit eines Marcel Proust, den Ficus so gerne zitiert: Peinture à la recherche du temps perdu. In diesem Sinne sind sie zugleich eine sehr private, sogar eine 'romantische' Malerei (auch hier antithetisch zu den Ölbildern). Sie sind allerdings - da möchte ich Martin Walser widersprechen - keine glücklichen Bilder, kein glückliches Herrschen über den Augenblick. Dazu zeigen sie zu deutliche Spuren der Suche nach dem Verlorenen, der Erinnerung an nicht mehr Zurückholbares. Wobei die Bodensee-Aquarelle André Ficus' in einer ihnen eigenen Dialektik zugleich nach vorne verweisen, indem sie zugleich gelesen werden können als Spuren einer Suche nach Reglosigkeit, Lautlosigkeit, Zeitlosigkeit, nach jener absoluten Stille, von der Hans Arp befürchtete, es werde von ihr bald nur noch wie von einem Märchen erzählt werden. In den sparsamsten, den asketischsten seiner Aquarelle, "Fallendes Licht" (1977), "Frühling im Schilf" (1984), "Bregenz" (1985), "Nebelmorgen am See" (1986), "Nebel" (1986) u.a., gelingt es André Ficus, dieses Märchen zu erzählen. Das aber gibt seinen Bodensee-Aquarellen über die lokale Gebundenheit hinaus einen tieferen Sinn, macht aus der auf ihnen fixierten Landschaft mit ihren vielfältigen Stimmungen auch einen Katalysator einer existentiellen recherche.

[Galerie Geiger, Kornwestheim, 20.4.1977]