Das Werk des Andre' Ficus, soweit, es hier anläßlich seines 70. Geburtstages ausgestellt ist, soweit es aus dem selben Anlaß in seiner Komplexität monographisch endlich einmal überschaubar gemacht wurde, dieses Werk ist für mich - alles in allem genommen -. der Versuch einer Wiederfindung. Das will auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so scheinen. Und es ist zugleich in diesem Sinne mehr Kunst als vieles heute auf dem Kunstmarkt der Eitelkeiten unter diesem Zeichen Gehandelte.
Man kann sich dem Oeuvre von André Ficus auf verschiedene Weise nähern. Der Kunsthistoriker kann zum Beispiel von den Gattungen ausgehen und zwischen Akt, Stilleben, Landschaft, Stadtbild, Portrait unterscheiden. Er kann auf die unterschiedlichen Techniken achten und von der Ölmalerei, dem Aquarell, der Rohrfeder-, Blei - und Filzstiftzeichnung sprechen, von der Kohle- und Kreidezeichnung, von den Holzschnitten und davon, daß sich zu einem Bild gelegentlich mehrere Techniken verbinden. Das alles ist in der Monographie geleistet und nachzulesen. Auch, daß es innerhalb der genannten Gattungen, im Einsatz der aufgelisteten Techniken Entwicklungen zu registrieren gilt, wobei sich Gattung und Technik in jeweils umfassendere Traditionen einordnen lassen, in die Geschichte des Aquarells zum Beispiel, des Portraits, der Landschaftsmalerei oder des Stadtbildes.
Die hier zu beachtenden Einflüsse sind gleichermaßen leicht aufzeigbar, der Einfluß vor allem und ein sich langsames Lösen vom Kubismus, aber auch vom Werk Feinigers mit seinen prismatischen Brechungen, auf das André Ficus selbst hingewiesen hat. Bei den Holzschnitten wäre an den expressionistischen Beitrag zu dieser Gattung zu denken, bei den Rohrfederzeichnungen wiederum an französische Vorbilder. Aber all dies würde nur das allgemein Bekannte bestätigen, daß es die deutschen Künstler und wie schwer sie es nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg hatten, den Anschluß an die internationale Entwicklung der Künste wiederzugewinnen.
Daß Ficus den Anschluß nicht nur gefunden, sondern die Traditionen auf eine sehr eigene Weise weitergeführt hat, ist das eine, was der Kunsthistoriker wird festhalten müssen. Dabei wird er zweitens hervorheben, daß Ficus nicht nur dem Gegenständlichen treu geblieben ist, sondern auch in seiner konsequenten Werkentwicklung sich modischen Trends stets entzogen hat.
Das findet seine Begründung unter anderem darin, daß die Bilder des Andre Ficus nicht bloß Malerei sind, sondern Ausdruck einer umfassenderen geistigen Auseinandersetzung. Martin Walsers Diktum, Ficus habe in seinen Literaten-Portraits immer sein ganzes Literaturverständnis mitgemalt, läßt sich fast auf das ganze Werk übertragen, auf die Frankreich- ebenso wie auf die Amerika-Bilder ebenso wie auf die Bodensee-Aquarelle. Damit ist nicht gemeint, daß diese Bilder und Aquarelle, die ihnen oft vorausgehenden Reisen Nachvollzug von Literatur sind. Hier sind sie allenfalls Spurensicherung. Gemeint ist, daß Ficus sich seinen Gegenständen nicht oberflächlich als abzubildenden Gegenständen nähert. Daß er ihnen vielmehr begegnet als Erscheinungsformen von etwas, das sich dahinter verbirgt, von dem lediglich die äußere Hülle wahrgenommen werden kann. André Ficus hat in der ihm eigenen Nachdenklichkeit die autobiographischen Skizzen der Monographie als Hintergründe bezeichnet, zu denen das künstlerische Werk dann - um im Wortspiel zu bleiben - die Vordergründe bieten würde. In diesem Sinne ist sein Werk zunehmend auch Selbstaussprache, hinter der sich mehr verbirgt, als die Bilder auf den ersten Blick freigeben.
Ich möchte, damit das Gesagte für Sie überprüfbar wird, mich auf ein konkretes Beispiel beziehen, auf den "Strandspaziergang" von 1981. Er wird zwar in der Ausstellung nicht gezeigt, aber auf dem Umschlag und innerhalb der Monographie ein weiteres Mal abgebildet. Doris Rümmele hat in ihrem Beitrag bereits auf die Bedeutung dieser Arbeit hingewiesen, auf die Anregung durch Thomas Manns "Zauberberg" und den naheliegenden Vergleich mit Caspar David Friedrichs "Der Mönch am Meer". Angeregt ist dieses Bild durch die Einleitung zum siebten Kapitel des "Zauberbergs", die Thomas Mann ebenfalls mit "Strandspaziergang" überschrieben hat. Thomas Mann nutzt diese Einleitung zunächst für ein längeres Gedankenspiel über Zeit und Raum. Erst gegen Schluß kommt er auf den Strandspaziergang, eine Lebenslage und einen landschaftlichen Umstand (beides Formulierungen von Thomas Mann) zu sprechen, in denen sich die zeiträumlichen Distanzen verwischen. Ich zitiere mit Auslassungen:
Wir meinen den Spaziergang am Meeresstrande,
- ein Sichbefinden, dessen Hans Castorp nie ohne größere Zuneigung
gedachte [...]. Wir vertrauen, daß auch Erfahrung und Erinnerung
des Lesers uns nicht im Stich lassen werde, wenn wir auf diese wundersame
Verlorenheit Bezug nehmen. Du gehst und gehst .. . du wirst von solchem
Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zurückkehren, denn du bist
der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen. 0 Meer, wir sitzen erzählend
fern von dir, wir wenden dir unsere Gedanken, unsre Liebe zu, ausdrücklich
und laut anrufungsweise sollst Du in unserer Erzählung gegenwärtig
sein, wie du es im Stillen immer warst und bist und sein wirst... Sausende
Öde, blaß hellgrau überspannt, voll herber Feuchte, von
der ein Salzgeschmack auf unseren Lippen haftet. Wir gehen, gehen auf leicht
federndem, mit
lang und kleinen Muscheln bestreutem
Grunde, die Ohren eingehüllt vom Wind, von diesem großen, weiten
Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tücke den Raum durchfährt
und eine sanfte Betäubung in unserem Kopfe erzeugt - wir wandern,
wandern und sehen die Schaumzungen der vorgetrieben und wieder rückwärts
wallenden See nach unseren Füßen lecken. Die Brandung siedet,
hell-dumpf aufprallend rauscht Welle auf Welle seidig auf den flachen Strand,
- so dort wie hier und an den Bänken draußen, und dieses wirre
und allgemeine, sanft brausende Getöse sperrt unser Ohr für jede
Stimme der Welt. Tiefes Genügen, wissentlich Vergessen... schließen
wir doch die Augen, geborgen von Ewigkeit! Nein, sieh, dort in grau-grünen
Weite, die sich in ungeheuren Verkürzungen zum Horizont verliert,
dort steht ein Segel. Dort? Was ist das für ein Dort? Wie weit? Wie
nah? Das weißt du nicht. Auf schwindelige Weise entzieht es sich
deinem Urteil. Um zu sagen, wie weit dies Schiff vom Ufer entfernt ist,
müßtest du wissen, wie groß es an sich- selbst als Körper
ist. Klein und nahe oder groß und fern? In Unwissenheit bricht sich
dein Blick, denn aus dir selber sagt kein Organ und Sinn dir über
den Baum Bescheid... Wir gehen, gehen, - wie lange schon? Wie weit? Das
steht dahin. Nichts ändert sich bei unserem Schritt, dort ist wie
hier, vorhin wie jetzt und dann; in ungemessener Monotonie des Raumes ertrinkt
die Zeit, Bewegung von Punkt zu Punkt ist keine Bewegung mehr, wenn Einerleiheit
regiert, und wo Bewegung nicht mehr Bewegung ist, ist keine Zeit.
Ein derart ausführliches Zitieren erfährt seine Rechtfertigung einmal durch direkte Berührbarkeit. Es ist zum anderen vom Maler selbst durch jahrzehntelange Lektüre dieses Großautors legitimiert. André Ficus hat Thomas Mann bereits 1974 einen Holzschnitt gewidmet, ja er ist mit einem "Versuch über Thomas Mann" sogar fremd gegangen in einem Vortrag, in dem - wen wundert's? - am ausführlichsten vom "Zauberberg" die Rede ist, aus ihm zitiert wird. Das Werk, betont dieser Vortrag die Aktualität, die der Roman für Ficus besitzt: Das Werk schließt mit einem Fragezeichen, den Leser ins Ungewisse entlassend - wir aber haben über den Fortgang der Historie inzwischen traurige Gewißheit erlangt (und stehen, so scheint mir, heute vor einem noch größeren Fragezeichen).
Darf man den "Zauberberg", Ficus' immer
neu ansetzende Lektüre und Beschäftigung mit ihm als literarischen
Hintergrund des hier in Frage stehenden Bildes bezeichnen, erhellt sich
auch eine biographische Konstante. Während seiner Ausbildung an der
Berliner Reimann-Schule für freie und angewandte Kunst war Ficus'
Plan zunächst nicht, freier Künstler zu werden. Vielmehr,
schreiben die autobiographischen Notizen: Vielmehr erblickte ich damals
meine Leitbilder in Künstlern, die ihr Talent illustrativen Sujets
liehen, vornehmlich als Mitgestalter der in Paris, London und New York
publizierten Mode- und Gesellschaftsrevue "Vogue".
Beruflicher Werdegang und Geschichte
haben es jedoch anders gewollt und Ficus das Tätigkeitsfeld der angewandten
Künste - erfreulicherweise, möchte ich gern anmerken - verschlossen.
Auch ein naheliegendes Ausweichen ins Illustrieren von Büchern war
ihm als Beruf nicht vorgesehen. Dennoch bildet dies alles so etwas wie
eine ideale aufsteigende Linie vom angewandten Künstler über
den Buchillustrator zum literarisch ambitionierten Künstler, dem Literatur
einen Hintergrund seiner Bilder liefert.
So sollte man die Blues-Serie, die Amerika-Bilder insgesamt der 80er Jahre nicht studieren ohne das Wissen, daß zum Beispiel Romane Theodore Dreisers, John Dos Passos' undsoweiter den Leser Ficus nicht nur beeindruckt, sondern auch das Amerika-Bild des Malers in nuce begründet haben.
Nicht anders liegt der Fall bei den Frankreich-Bildern, insbesondere beim Zyklus der "Pariser Tagträume" (1973-76) oder der "Strände"-Serie, in der das Bild "Balbec" (1981) zum Verständnis Proust-Kenntnisse voraussetzt. Das will nicht heißen, daß diese Bilder literarische Malerei sind. Literatur ist einer ihrer Hintergründe, zu dem andere hinzutreten.
Ich hatte bereits, Frau Rümmele folgend, auf Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" verwiesen, ein Bild, das umgekehrt merkwürdigerweise Gegenstand der Literatur wurde. Ursprünglich sollte nämlich Clemens Brentano die Ausstellung dieses Bildes für die "Berliner Abendblätter" rezensieren. Was dabei herauskam, lautet, redigiert durch Heinrich von Kleist:
Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahingegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den einem die Natur tut. Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: ein einziger Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis.
Soweit der Exkurs. Stünde die Zeit zur Verfügung, sagte ich, müßte man jetzt die Bilder Friedrichs und Ficus', die Texte Manns und Brentanos, und schließlich die Texte und Bilder mit einander vergleichen, um sich dem "Strandspazierung" von André Ficus ein entschiedenes Stück zu nähern. Allerdings bliebe ein zentrales Bildelement und seine Funktion immer noch ungeklärt. Ich meine den schon durch seine Farbigkeit auffälligen leeren Stuhl, der in seiner Plazierung den Strand derartig dominiert, daß die menschliche Figur an der Flutmarke zunächst kaum ins Gesicht fällt. Dieser Stuhl assoziiert einmal das "Balbec"-Bild, auf dem leere Stühle um einen Tisch gruppiert sind, der zu einem Festmahl gedeckt ist, das weder serviert noch eingenommen werden wird. Und Ficus entfernt ihn durch die an der Flutmarke eher angedeutete menschliche Figur zugleich von dieser Tischrunde ohne Menschen. Auf merkwürdige Weise erinnert der "Strandspaziergang" dabei an ein Gedicht Hans Arps, das er kurze Zeit nach dem Tode von Sophie Taeuber schrieb, als ihm die durch ihren Tod entstandene Leere bewußt wurde. Das Gedicht heißt "Die Ebene" und lautet:
Ich befand mich allein mit einem Stuhl aufEin derartiger Umgang mit Bildern kann natürlich nicht die traditionelle Bildanalyse ersetzen, die die Komposition der jeweils zur Diskussion stehenden Arbeit, die Technik, die verwandten Materialien und die bei Ficus besonders zu beachtende Farbgebung zu berücksichtigen und zu bewerten hat. Solche Bildanalysen sind, wenigstens in Ansätzen, in der Monographie mehrfach nachlesbar, so daß ich glaubte, in meiner Annäherung auf sie verzichten zu dürfen. Dagegen schien mir ein konnotatives Interpretieren am ehesten geeignet anzudeuten, wie hintergründig die Malerei des André Ficus sein kann, geeignet, am Beispiel vorzuführen daß beim Umgang mit seinen Bildern die gedankliche Anstrengung des Betrachters hinzukommen muß, will er sich nicht mit dem äußeren Schein begnügen. So oberflächlich, wie manches heute in Ausstellungen zu Besichtigende, ist die Kunst des André Ficus' nämlich nicht.
einer Ebene,
die sich in einen leeren Horizont verlor.
Die Ebene war fehlerlos asphaltiert.
Nichts, aber auch gar nichts ausser mir und
dem Stuhl befand sich auf ihr.
Der Himmel war immerwährend blau.
keine Sonne belebte ihn.
Ein unerklärliches, vernünftiges Licht erhellte
die endlose Ebene.
Wie künstlich aus einer anderen Sphäre
projiziert,
erschien mir dieser ewige Tag.
Ich hatte nie Schlaf, nie Hunger, nie Durst,
nie heiss nie kalt.
Da sich nichts auf dieser Ebene ereignete
und veränderte,
war die Zeit nur ein abwegiges Gespenst.
Die Zeit lebte noch ein wenig in mir,
und dies hauptsächlich wegen des Stuhles.
Durch meine Beschäftigung mit ihm verlor
ich den Sinn für Vergangenes nicht ganz.
Ab und zu spannte ich mich, als sei ich ein
Pferd, vor dein Stuhl
und trabte mit ihm bald im Kreis, bald
gerade aus.
Dass es gelang, nehme ich an
0b es gelang, weiss ich nicht,
da sich ja im Raume nichts befand,
an dem ich meine Bewegung hätte nach-
prüfen können.
Sass ich auf dem Stuhl, so grübelte ich
traurig, aber nicht verzweifelt,
warum das Innere der Welt ein solch schwarzes
Licht ausstrahlte.
Auf drei Aspekte muß ich - diese sehr vorläufige Annäherung an das Werk des André Ficus abschließend - noch eingehen: erstens auf die roten Fäden, die thematischen Konstanten dieses Oeuvres; zweitens auf die Frage, inwiefern die Bilder von André Ficus Zeitbilder (Rümmele) sind, ihr Maler ein realistischer Maler (Walser). Es ist dies zugleich die Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff der Malerei, der Kunst des André Ficus. Drittens wäre noch von dem zu sprechen, was ich die Antithetik seines Werkes nennen möchte.
Es wurde bereits angemerkt, daß Lektüre das Amerika-Bild des Malers in nuce bestimmte, bevor er Ende der 70er Jahre zum ersten Mal den Boden der USA betrat. Eine weitere ,Vorbestimmung' nennen die autobiographischen Notizen: Im übrigen wollten wir uns außerhalb des Studiums amüsieren, Hollywood-Filme sehen, Jazz hören, Swing tanzen." Das ist Ende der 30er Jahre kein Einzelfall. So verzeichnet zum Beispiel eine Vita K. R. H. Sonderborgs, eines künstlerisch ansonsten völlig andersgearteten Temperarnents, für die Jahre 1939/41: Als Jugendlicher gehört sonderborg zu den ,Swing Boys' in Hamburg. Jazzbegeistert, äußerlich auffallend durch lange Haare und anglophile Kleidung."
Zwei Fotos in der Monographie bestätigen
dies gleichermaßen für Ficus: eine Berliner Portrait-Aufnahme
aus dem Jahre 1940 und ein undatiertes Foto, das ihn mit dem Jugendfreund
Heinz Lewin zeigt - vor einem Bild, dessen männliche Figur eindeutig
als Clark Gable identifierbar ist. Einem Bild, das ich als Szene aus "Gone
with the Wind" deute, einem Roman Margaret Mitchells, der noch 1937 in
deutscher Übersetzung durch Martin Beheim-Schwarzbach unter dem Titel
"Vom Winde verweht" in Hamburg erscheinen konnte. Ob der 1939 mit Clark
Gable in einer Hauptrolle abgedrehte Film noch im nationalsozialistischen
Deutschland gezeigt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Dieses zunächst
eher kulturelle Interesse muß sich André Ficus in wechselnder
Intensität durch die Jahre bewahrt haben, denn ein Foto von 1952 zeigt
ihn am Flügel, Gershwin spielend.
Es folgen die genannten und weitere
Lektüren, bis Ficus Ende der 70er Jahre zum ersten Mal eine Amerika-Reise
unternimmt, der weitere, zum Teil in Gemeinschaft mit Martin Walser, der
vor allem aber eine intensive künstlerische Auseinandersetzung folgen.
Daß eine der ersten Amerika-Serien von Ficus "Blues" getitelt wird,
schlägt einmal den Bogen zur Jazz- und Swing-Begeisterung des Kunststudenten
zurück. Zum andern signalisiert es, wie die Konfrontation mit der
Wirklichkeit die jugendlich-spontane Zuwendung zum Jazz auf das elegische
Maß des Blues herunterstimmt.
Zeigen die einzelnen Arbeiten und Serien des Amerika-Komplexes zunächst durchaus noch Menschen, in den 80er Jahren werden diese zunehmend aus den Bildern verschwinden, tauchen dafür aber in einem "Note Book" (1981) auf. Die Amerika-Bilder bekommen stattdessen eine immer strengere Tektonik und nähern sich dergestalt einer neuen Sachlichkeit, ja sogar dem Fotorealismus, sind aber beides allenfalls uneigentlich, nämlich als ein mit malerischen Mitteln möglichst präzis gefaßtes Amerika-Bild ihres Autors, in Ficus' eigenen Worten: Gleichnisse der Trauer, der Brutalität und der Angst, einer in Europa so nicht zu Tage tretenden Unmenschlichkeit, einer abgrundtiefen Isolation des Individuums, das den Erfolg nicht schaffte. Der zerbrochene American Dream.
Deutlicher als Amerika läßt sich Frankreich als roter Faden im Werk verfolgen, beginnend mit der Fortsetzung der Ausbildung in Paris und der Tätigkeit als Dolmetscher in Frankreich während des Krieges. Das Interesse wendet sich dabei fürs erste von der Musik, vom Jazz der Literatur zu; erst jetzt setzt in der Auseinandersetzung mit Arbeiten der Fauvisten und Kubisten, die eigentliche Entwicklung zum Maler ein. Von den literarischen Begegnungen, den begleitenden Lektüren wird vor allem Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" wichtiger Hintergrund nicht nur der schon genannten "Tagträume", der "Strände"-Serie, der das ebenfalls schon genannte "Balbec" zugehört.
Die "Strände"-Serie ist Ausdruck einer Reise, die André Ficus im Herbst 1980 durch die Normandie gezielt auf den Spuren Prousts unternahm. Wie die Amerika-Bilder den zerbrochenen American Drearn spiegeln, zeigen die Bilder der "Strände"-Serie die Schwierigkeiten dieser Spurensuche, sprechen sie davon, daß diese verlorene Zeit nur noch als Erinnerung eingeholt werden kann.
Es ist historisch nicht korrekt, in einem metaphorischen Sinne vielleicht aber doch erlaubt, zu sagen, daß André Ficus auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit zufällig an den Bodensee verschlagen wurde und nicht zufällig dort hängen blieb. Wenn ich abschließend auf den Komplex der Bodensee-Bilder zu sprechen komme, ist das an diesem Ort so viel, wie Eulen nach Athen oder den Bodensee nach Langenargen zu tragen. Ich beschränke mich deshalb auf die Aquarelle, da sie einen letzten Werkaspekt verdeutlichen können, den Aspekt einer dem Werk des André Ficus immanenten Antithetik.
Man kann das Aquarell definieren als Versuch, den flüchtigen Augenblick von Landschafts- und Lichtstimmungen festzuhalten. Als solcher wurde es zunehmend zum Vehikel malerischer Stimmung, malerischer Ausdruck einer Haltung, die im Augenblick Vergängliches zu fassen versucht. Die Bodensee-Aquarelle des André Ficus sind augenscheinlich derartige Stenogramme des im Augenblick Vergänglichen, stenographierte Spuren aber auch der Suche nach der verlorenen Zeit. In diesem Sinne sind sie - antithetisch zu den Ölbildern - eine sehr private, sogar eine ,romantische' Kunst, die allerdings geprägt ist von den Spuren der Erinnerung an nicht mehr Zurückholbares. Zugleich verweisen sie in ihrer zunehmenden Sparsamkeit und Spröde in einer ihnen eigentümlichen Dialektik nach vorne, lassen sie sich auch lesen als Spuren einer Suche nach Reglosigkeit, Lautlosigkeit, Zeitlosigkeit, nach jener absoluten Stille, von der Hans Arp befürchtete, es werde von ihr bald nur noch wie von einem Märchen erzählt werden. In den sparsamsten, asketischsten seiner Aquarelle gelingt es André Ficus, dieses Märchen zu erzählen.
Man kann dies auch weniger poetisch ausdrücken und zugleich biografisch stützen. In den Hintergründen spricht André Ficus im Kapitel "Vier Meister" von seiner Begegnung und langjährigen Bekanntschaft mit Julius Bissier, und er schreibt: Besonders beschäftigte ihn fernöstliche Philosophie sowie der damals so vieldiskutierte ZEN-Buddhismus, aus dem er auch Anregungen für seine neueren Bilder zog.
Das hat André Ficus künstlerisch nicht nachvollzugen. Der "Strandspaziergang", "Balbec" thematisierten noch Leere als Verlust. Aber so, wie die immer meditativeren Aquarelle der letzten Jahre Spuren der Suche nach dem Verlorenen und Spuren der Suche nach Bewegungslosigkeit, Lautlosigkeit, Zeitlosigkeit sind, läßt sich auch Leere in einem zweifachen Sinne erfahren, als Verlust auf der einen und auf der anderen Seite als "Leerheit" (jap.: ku / sora), die zugleich alles ist. Der ZEN-Buddhismus gibt zum Beispiel diese Antwort und Julius Bissier hätte sie wohl akzeptiert. André Ficus, seinem Temperament entsprechend, wahrscheinlich nicht. Aber ist er nicht auf seine Weise, mit seinen Aquarellen auf Japanpapier, auf einem ihm eigenen, europäischen, dennoch vergleichbaren Weg?
[Museum Langenargen, April 1989]