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Im September 1929 fand in Kassel eine Arbeitstagung "Dichtung und Rundfunk" statt, deren Berichte und Aussprachen mehr Aufmerksamkeit verdienen, als sie in der Literatur über das Hörspiel bisher gefunden haben. Auf dieser Tagung knüpft der Mitberichterstatter in Sachen Epik, Hans Roeseler, an den einzig häufiger zitierten Bericht Alfred Döblins, "Literatur und Rundfunk", mit der Bestätigung an:
Zitat
Welcher Art voraussichtlich die künstlerische Gestaltung der Rundfunkdichtung; sein wird, das hat Dr. Döblin richtig angedeutet: eine episch-lyrische, balladistisch-dramatische Mischform mit musikalischer Untermalung, wie Sie sie von der musikalischen Seite her kennen und wie sie, glaube ich, auch von der literarischen Seite her in einigen Darbietungen gerade der letzten Zeit schon Wirklichkeit geworden ist. Ich möchte an den "Lindbergh-Flug", an "Michael Kohlhaas" erinnern und an eine Darbietung, die auch hier zu nennen ist, an die von Herrn Bischoff angekündigte Abenddarbietung.
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Stellt man Döblins eigentlich bis heute gültigen Versuch, das Wesen des Hörspiels als das einer Mischform zu bestimmen, für den Augenblick hintan, dann ist die Bestandsaufnahme Roeselers so überraschend wie aufschlußreich. Denn diese drei genannten Beispiele, um nicht zu sagen Modelle für eine zukünftige "künstlerische Gestaltung der Rundfunkdichtung" sind alles andere als Belege für das von Heinz Schwitzke so leidenschaftlich verfochtene eigentliche, da literarische Hörspiel. Sie finden denn auch in seiner "Geschichte und Dramaturgie" des Hörspiels kaum, falls überhaupt Erwähnung (Bischoff, Bronnen) oder werden (im Falle Brechts) als Beispiel dafür abgehandelt, "wie die Sprache im Hörspiel nicht sein kann", wobei es vor allem Brechts "Radiotheorie" zu sein scheint, die hier zu zahlreichen Mißverständnissen geführt hat.
Meiner Meinung nach deuten die drei genannten Hörspiele aber sehr gut die Breite dessen an, was sich seither als Hörspiel ausgab, bzw. ausgewiesen wurde. So gehört Arnolt Bronnens "Michael Kohlhaas" zum einen in die Vorgeschichte der ein wenig mißverständlich und auch provinziell sogenannten Funkerzählung, die man besser unter dem allgemeineren Aspekt des Erzählers im Hörspiel subsumieren würde. Zum anderen hat er seinen Stellenwert inder bis heute leider ungeschriebenen, sehr komplexen Geschichte der Bearbeitungen.
Friedrich Bischoffs und Franz Joseph Engels "Hörspiel vom Hörspiel", auf das Roeseler offensichtlich anspielt, die von Bischoff entwickelten Formen der "Hörfolge" sind ebenso wie der "akustische Film" Alfred Brauns, beziehungsweise der ihm folgende "Aufriß" dem "ersten Experimentieren an der Form des Feature" (Braun) zuzurechnen.
Ein differenzierendes Zitat Eugen Kurt Fischers kann hier die durch die letzten Lektionen sich hinziehende Erörterung dieses Hörspieltyps vorerst abschließen und zum heutigen Thema zurückleiten:
Zitat
Im Drang nach Zeitnähe und Aktualität haben Praktiker wie Arno Schirokauer in ihren eigenenArbeiten, aber auch in ihren theoretischen Veröffentlichungen neben mehr spielmäßigen Formen auch "Fragegespräche, Hörberichte, Urkunden, Zeugnisse und Belehrungen" in den Rahmen des Begriffs Hörspiel einbezogen, und Friedrich Bischoff hat sogar in seiner Demonstrationssendung "Das Hörspiel vom Hörspiel" (1930) alle von ihm entwickelten Formen seiner "Hörfolge" zum Hörspiel gerechnet. Bei Bischoff wie bei Schirokauer war das Individuum kein Handlungsträger, es ging nicht um mehr oder minder dramatisch empfundene und gestaltete Einzelschicksale, sondern um Zeitkritik, Situationsanalysen, Querschnitte, die das Neben- und Ineinander aufbauender und zerstörender Kräfte erkennbar machen sollten. Vom Hörspiel nahm man die dramaturgischen Hilfsmittel des Arbeitens mit sprachlichen Kontrasten, mit Dialogen, kennzeichnenden oder "mitspielenden" Geräuschen und mit Musik. Die eigenen Arbeiten Bischoffs und Schirokauers unterschieden sich vom "Aufriss" einesEdlef Koeppen nur durch den Verzicht auf den Einbau von Fremdkörpern in der Form von Dokumenten aller Art und durch eine dem Dichterischen sich nähernde sprachliche Durchformung, die Herbert Jherings damals für das Theater eifrig propagierter "Einfrostung der Gefühle" ebenso entsprach wie Brechts Verfremdungstendenz, die auch in seinem "Lindberghflug" zutage tritt. Auch für Hermann Kesser hat das Spiel im Rundfunk Reportagechrakter.
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Die Aufnahme eines aktuellen Stoffes weist Brechts "Lindberghflug" der dritten Phase der ersten sechs Jahre Hörspielgeschichte zu, die rein äußerlich durch die Darstellung sich ereigneter sensationeller Begebenheiten in zeitlicher Nähe ihrer Darstellung charakterisiert ist. Wie wenig Brecht dabei dann aus politischen Gründen an einem Heldenlied gelegen war, zeigt ein Brief vom 3.1.1950 an den Süddeutschen Rundfunk:
Zitat
Wenn Sie den Lindberghflug in einem historischen Überblick bringen wollen, muß ich Sie bitten, der Sendung einen Prolog voranzustellen und einige kleine Änderungen im Text selber vorzunehmen. Lindbergh hat bekanntlich zu den Nazis enge Beziehungen unterhalten; sein damaliger enthusiastischer Bericht über die Unbesieglichkeit der Nazi-Luftwaffe hat in einer Reihe von Ländern lähmend gewirkt. Auch hat L. in den USA als Faschist eine dunkle Rolle gespielt. In meinem Hörspiel muß daher der Titel in "Der Ozeanflug" umgeändert werden, man muß den Prolog sprechen und den Namen Lindbergh ausmerzen.
Autor
Prolog, vor einer Sendung des "Ozeanflug" zu sprechen.
Zitat
Hier hört ihr
Den Bericht über den
ersten Ozeanflug
Im Mai 1927. Ein junger
Mensch
Vollführte ihn. Er
triumphierte
Über Sturm, Eis und
gefräßige Wasser. Dennoch
Sei sein Name ausgemerzt,
denn
Der sich zurechtfand über
weglosen Wassern
Verlor sich im Sumpf unserer
Städte. Sturm und Eis
Besiegte ihn nicht, aber
der Mitmensch
Besiegte ihn. Ein Jahrzehnt
Ruhm und Reichtum und der
Unselige
Zeigte den Hitlerschlächtern
das Fliegen
Mit tödlichen Bombern.
Darum
Sei sein Name ausgemerzt.
Ihr aber
Seid gewarnt: Nicht Mut
noch Kenntnis
Von Motoren und Seekarten
tragen den Asozialen
Ins Heldenlied.
Autor
Es geht Brecht von Anfang an also nicht um ein "Heldenlied", die Darstellung eines Einzelschicksals, das dramatisch gestaltet auch so empfunden werden sollte, sondern die Überquerung des Atlantik durch Charles Lindbergh hatte als Sieg einer vom Menschen verbesserten Technik über die Naturgewalten parabolische Bedeutung. Die späteren Fassungen ersetzen entsprechend den Ersttitel "Lindberghflug" durch "Flug der Lindberghs", schließlich "Ozeanflug", multiplizieren die Stimme "Lindbergh" zu "die Lindberghs", schließlich "die Flieger". Und in den Brecht/Suhrkamp gezeichneten "Erläuterungen zum 'Ozeanflug'"(1930) heißt es erklärend:
Zitat
Wie die Anwendung über den Text entscheidet, zeigt folgendes Beispiel: Die Figur eines öffentlichen Helden im 'Ozeanflug' könnte dazu benutzt werden, die Hörer etwa eines Konzertes zu veranlassen, sich durch Hineinfühlen in den Helden von der Masse zu trennen. In einer konzertanten, also falschen Aufführung muß wenigstens, damit der Sinn des Ganzen nicht völlig zerstört werde, der Fliegerpart von einem Chor gesungen werden. Nur durch dasgemeinsame Ich-Singen (Ich bin Derundder, ich breche auf, ich bin nicht müde und so weiter) kann ein weniges von der pädagogischen Wirkung gerettet werden.
Autor
Wer diesen Vorschlag des "gemeinsamen Ich-Singens" - wie etwa Schwitzke - als "grotesk" abtut, hat nicht verstanden, um was es Brecht hier geht. Zwar weist Schwitzke mit Recht auf eine Sendeart hin, die sich "Musizieren mit unbekannten Partnern" nannte, und nimmt an, daß dies auch Brecht bekannt gewesen sein müsse. Bei diesem "Musizieren mit unbekannten Partnern" wurde ein Stück Kammermusik in der Instrumentierung unvollständig gesendet, so daß der Hörer zu Hause mit seinem Instrument die Besetzung und damit das Musikstück vervollständigen konnte. Aber die Einbeziehung des Hörers im Bereich der Rundfunkmusik ging weiter, und wenn Brecht hier etwas für sein Experiment übernommen hat, dann wohl allgemein Erfahrungen aus Versuchen, den Rundfunkhörer zu aktivieren. Hier sind zum Vergleich Berichte und Aussprachen der "Sitzungen des "Programmausschusses der deutschen Rundfunkgesellschaften" 1928 in Wiesbaden, 1929 in Bremen, recht aufschlußreich. In Bremen argumentiert z.B. Konrad Dürre:
Zitat
Es ist schrecklich, denken zu müssen, daß der Hörer durch den Rundfunk entmutigt wird, selbst zu musizieren; daß der Laie überhaupt aufhört, sich mit Musik zu beschäftigen. Er hört schöne Musik. Er ist entmutigt, weil er es so schön doch nicht machen kann. Hier muß man einsetzen und Laienmusiker heranbringen und zeigen, daß es noch Wert hat, selbst zu musizieren. Welche Mittel zur Aktivierung führen, das muß genau untersucht werden.
Autor
Während Hermann Scherchen in seinem Bericht "Musik und Rundfunk" z.B. fordert:
Zitat
Diesen Versuchen sollten sich andere anschließen, die mehr direkt auf den Hörerkreis eingehen müßten (...). Die Spielmusikstunden könnten von großer Bedeutung werden, wenn man allgemein zugängliche, leicht spielbare Kompositionen dafür benutzte. Diese wären nur rechtzeitig bekanntzugeben und damit die Aufforderung zu verknüpfen, selbst zu Hause mitzuspielen; sicherlich würde vielen Freunden der Musik dadurch eine wichtige Anregung gegeben.
Autor
Wenn überhaupt, hat man es beim "Lindberghflug" also weniger mit einem dem "Musizieren mit unbekannten Partnern" als vielmehr mit einem der Aufforderung Scherchens zum Mitspiel korrespondierenden Hörspielversuch zu tun. Dem entspricht, daß sowohl "Die Werag - Ansageblatt der Westdeutschen Rundfunk A.-G. Köln" als auch die "Südwestdeutsche Rundfunkzeitung" zugleich mit der Programmankündigung den Text des Hörspiels abgedruckt haben, so daß er entsprechend der Brechtschen Intention mitgelesen werden konnte. Was die Absichten Brechts von den Vorstellungen Scherchens dabei wesentlich unterscheidet, ist ihre gesellschaftliche Zielsetzung, die Sendung nicht eines zu ergänzenden oder anregenden Kunstwerks, sondern eines "Lehrgegenstandes":
Zitat
Der "Ozeanflug" hat keinen Wert, wenn man sich nicht daran schult. Er besitzt keinen Kunstwert, der eine Aufführung rechtfertigt, die diese Schulung nicht bezweckt. Er ist ein Lehrgegenstand und zerfällt in zwei Teile. Der eine Teil (die Gesänge der Elemente, die Chöre, die Wasser- und Motorengeräusche und so weiter) hat die Aufgabe, die Übung zu ermöglichen, daß heißt einzuleiten und zu unterbrechen, was am besten durch, einenApparat geschieht. Der andere pädagogische Teil (der Fliegerpart) ist der Text für die Übung: Der Übende ist Hörer des einen Textteiles und Sprecher des anderes Teiles. Auf diese Art entsteht eine Zusammenarbeit zwischen Apparat und Übenden, wobei es mehr auf Genauigkeit, als auf Ausdruck ankommt. Der Text ist mechanisch zu sprechen und zu singen, am Schluß jeder Verszeile ist abzusetzen, der abgehörte Teil ist mechanisch mitzulesen.
Autor
Es geht Brecht aber nicht nur um die Zusammenarbeit zwischen Apparat und Übenden. Er fragt weiter nach Zweck und Funktion dieser Zusammenarbeit und antwortet nach (inzwischen) immerhin drei Sendungen des "Lindberghfluges":
Zitat
Diese Übung dient der Disziplinierung, welche die Grundlage der Freiheit ist. Der einzelne aber wird zwar nach einem Genußmittel von selber greifen, nicht aber nach einem Lehrgegenstand, der ihm weder Verdienst noch gesellschaftliche Vorteile verspricht.
Solche Übungen nützen dem einzelnen nur, indem sie dem Staat nützen, und sie nützen nur einem Staat, der allen gleichmäßig nützen will. Der "Ozeanflug" hat also weder einen ästhetischen noch einen revolutionären Wert, der unabhängig von seiner Anwendundung besteht, die nur der Staat organisieren kann. Seine richtige Anwendung aber macht ihn immerhin so weit "revolutionär", daß der gegenwärtige Staat kein Interesse hat, diese Übungen zu veranstalten."
Autor
Dem kollektiven Wir des übenden Hörers entspricht ein kollektives Wir im Text, die kollektiv verstandene Leistung der 0zeanüberquerung, wenn sich z.B. in der letzten Sequenz der Apparat und die Übenden zusammenfinden zum "Bericht über das Erreichte":
Zitat
Bericht über das Erreichte:
zu der zeit wo die menschheit
anfing sich zu erkennen
haben wir wägen gemacht
aus holz und eisen und glas
und sind durch die luft
geflogen
und zwar mit einer schnelligkeit,
die den hurrikan
um das doppelte übertraf
und zwar war unser motor
stärker als 100 pferde,
aber
kleiner als ein einziges
1000 jahre fiel alles von
oben nach unten
ausgenommen der vogel
selbst auf den ältesten
steinen
fanden wir keine zeichnung
von irgend einem menschen,
der
durch die luft geflogen
ist
aber wir haben uns erhoben
gegen ende des 3. jahrtausend
unserer zeitrechnung
erhob sich unsere
stählerne einfalt
aufzeigend das mögliche
ohne uns vergessend zu machen:
das
Unerreichbare.
diesen ist dieser bericht
gewidmet.
Autor
In Paranthese: Brecht hat später das "Unerreichbare" marxistisch richtiger in das "Noch nicht Erreichte" verbessert.
Diese von Brecht kollektiv erstandene technische Leistung, bzw. ihre modellhafte Vorstellung durch den Apparat und den Hörer rückt den "Lindberghflug" aus der Nähe zu "Hörfolge", bzw. "Aufriß", mit denen er gemeinsam hat, daß auch bei ihnen nicht das Individuum Handlungsträger ist, in enge Nachbarschaft zu Friedrich Wolfs "S.O.S. ... Rao, Rao ... Foyn", von dem er sich zugleich durch seine sprachliche Organisation wesentlich unterscheidet. Was Siegfried Hähnel für Wolfs Hörspiel als die "entscheidende, wirklich historische Leistung" festhält, die "Umfunktionierung des Hörspiels, ja - für die Sendezeit - des Rundfunks im gesellschaftlich progressiven Sinne", hat Brecht in den "Erläuterungen" ausdrücklich als seine Absicht bekundet:
Zitat
Dem gegenwärtigen Rundfunk soll der "Ozeanflug" nicht zum Gebrauch dienen, sondern er soll ihn verändern. Die zunehmende Konzentration der mechanischen Mittel sowie die zunehmende Spezialisierung in der Ausbildung - Vorgänge, die zu beschleunigen sind - erfordern eine Art Aufstand des Hörers,- seine Aktivisierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent.
Autor
Dieser beabsichtigten Veränderung des Rundfunks entspricht die "Umfunktionierung der Kunst in eine pädagogische Disziplin", wie Brecht es im "Dreigroschenprozeß" einmal genannt hat. Das ist zunächst ein Rückgriff auf die Lehrdichtung des 17./18. Jahrhunderts, deren Funktion nach einer Sachwörterbuch-Definition in der Vermittlung von "Wissen um subjektive oder objektive Wahrheiten (Lehren, Erkenntnisse) in künstlerischer Form besteht. Neu ist der Inhalt, der - wie Klaus Schumann es sieht - Versuch, "die Übergangsprobleme von der bürgerlichen zur marxistischen-Weltanschauung künstlerisch zu gestalten", in einer "erneuten Diskussion der Beziehungen des Individuums zur Natur und zur Gesellschaft".
So gesehen leitet der "Lindberghflug"
die Phase der Lehrstücke" ein. Und es scheint mir bezeichnend, daß
Brecht für das erste seiner Lehrstücke das Massenmedium Rundfunk
wählt. Daß er es in den "Versuchen" als "Radiolehrstück
für Knaben und Mädchen" ausweist, findet wiederum eine interessante
Parallele in den damaligen Programmdiskussionen, so z.B. wenn
Roeseler auf der Kasseler
Arbeitstagung von der "Erziehung der Hörer zum Hören" spricht
und unter anderem ausführt:
Zitat
Wir gehen in unserer Gesellschaft, der Deutschen Welle, sehr von dem erzieherischen Gesichtspunkt aus, und ich glaube, daß der Schulfunk, eine Einrichtung unserer Sendegesellschaft, die besonders gepflegt wird, ein Weg wäre, um von der Schule aus, vom Kinde her, den Hörsinn lebendig zu machen. Die Kinderstunde wäre ein weiterer Weg zum Ziel.
Autor
Auch hier wäre Brechts "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" eine auf gesellschaftliche Veränderung zielende Anwendung, um nicht zu sagen dialektische Umkehrung zeitgenössischer Forderungen. Für seine Absichten bot sich dabei die Anlehnung an die literarische Redefigur der Parabel geradezu an wegen ihrer Zweiteiligkeit von Sach- und Bildhälfte, ihrer ausgesprochenen Publikumsbezogenheit, ihrer Absicht des Überzeugens, ihres deiktischen Charakters. Gegenüber den späteren Parabel-Stücken hat der "Lindberghflug" allerdings weniger einen allgemein ethischen als vielmehr einen "ideologischen" Sinn, ist die ethische Wahrheit, um die es geht, die Sachhälfte 'Ideologie'. Entsprechend hat Brecht dann auch nachträglich genau in der Mitte des Spiels eine gemessen an den anderen sehr umfangreiche, vierteilige, "Ideologie" überschriebene Sequenz eingefügt. Sie formuliert als Part der Flieger den 'ideologischen' Sinn des "Lindberghfluges", faßt in den ersten vier Versen des zweiten Teils formelhaft zusammen:
Zitat
Aber es ist eine Schlacht
gegen das Primitive
Und eine Anstrengung zur
Verbesserung des Planeten
Gleich der dialektischen
Ökonomie
Welche die Welt verändern
wird von Grund auf.
Autor
Nicht nur für den Literaturwissenschaftler interessant ist auch im "Lindberghflug" eine für Brecht typische, episodisch reihende Technik, ein additiver Bau, der ein ausgesprochen episches Moment in einen Text hineinbringt, der von seiner sprachlichen Anlage her durchaus in der Nähe von Brechts "pragmatischen (geschehnishaften) Gedichten" (Volker Klotz) verstanden werden kann. Man könnte den "Lindberghflug" sogar mit gewissem Recht als Zwischenglied sehen zwischen den balladesken Gedichten der "Hauspostille" (etwa der "Lithurgie vom Hauch") und den folgenden Lehrstücken (etwa dem Baden-Badener "Lehrstück vom Einverständnis"), in einer Entwicklung also, in der - wie Volker Klotz es formuliert hat - "künstlerische Gestaltung und ästhetisches Ergebnis" nicht mehr auf "ontologische sondern auf soziologische Konstellationen bezogen" seien, in der "die Einzelteile, die Dinge" geladen seien "von dem zu Grunde liegenden ideologichen Bezugssystem her".
Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner die Beobachtung, daß die Natur, der der Mensch beim jungen Brecht hilflos, als leidendes Objekt ausgeliefert war, jetzt vom Menschen besiegt werden kann mit Hilfe der technischen Apparate. Diese Faszination durch die Technik zeichnet die beiden Hörspiele Brechts und Wolfs ja gemeinsam aus. Aber Brecht ging es nicht um das "erste Heldenlied unserer Zeit, unserer Technik", er ist mißtrauischer:
Zitat
Jetzt nämlich
Laßt uns bekämpfen
die N a t u r
Bis wir selber natürlich
geworden sind.
Wir und unsere Technik sind
noch nicht natürlich
Wir und unsere Technik
Sind primitiv.
Autor:
Daß die mit "Ideologie" überschriebene Sequenz auch, wenn nicht sogar primär verstanden werden muß als Angriff gegen den religiösen Idealismus einer bürgerlichen Gesellschaft, wie Klotz annimmt, daß im Kampf gegen die Natur, auf dem Wege eines naturwissenschaftlichen Fortschritts Gott sukzessive aus der Natur vertrieben wird -
Zitat
Es vertreiben ihn
Die verbesserten Apparate
aus der Luft -
Autor
das kann hier aus Zeitgründen ohne Kommentar ebenso nur angemerkt werden wie einige aufschlußreiche Abweichungen von einem streng dialektischen Materialismus, auf die Ernst Schuhmacher hingewiesen hat. All dies wären weitere Indizien für den Stellenwert des "Lindberghfluges" als Zwischenglied zwischen den balladesken Gedichten der "Hauspostille" und den folgenden Lehrstücken. Den Stellenwert des "Lindberghfluges" innerhalb der Hörspielgeschichte habe ich schon angedeutet. Energisch möchte ich der Auffassung des "Hörspielführers" widersprechen, die ausgehend von dem Postulat des literarischen als des eigentlichen Hörspiels folgert: daß "Brechts theoretische Darlegungen (...) ebenso wie die weithin zum Singen bestimmten Texte" beweisen, "daß das Werk nicht als Hörspiel, sondern als Schuloratorium gedacht" sei. Daß also Rundfunksendungen "eigentlich auf einem Mißverständnis" beruhen. Womit nicht ausgeschlossen sei,
Zitat
daß das Stück ohne die überwuchernde Musik, als reiner Text, durchaus auch als Hörspiel aufzuführen und in der (beabsichtigten) Naivität seiner Sprache nicht ohne Wirkung ist."
Autor
Denn diese Art Wirkung hat Brecht nicht gemeint. Die Kritik der Baden-Badener Erstaufführung hat denn auch sehr genau verstanden, daß es sich hier nicht um Kunst "als private Gefühlskundgebung oder schönen Selbstzweck, sondern als Ausdruck eines kollektiven Willens" handele. Daß "kein dramatisches Spiel vorgegaukelt, sondern (...) in oratorischer Form etwas gelehrt" werde, "das alle" angehe "und an dem alle mitarbeiten" müßten.
Den "Lindberghflug" ohne Musik senden zu wollen, käme schließlich einer Kastration gleich, und kann als Vorschlag eigentlich nur von jemand gemacht werden, der völlig überlesen hat, daß Döblin, assistiert von Roeseler, seine Kasseler Ausführung schließt:
Zitat
Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihren Zweck nutzbar machen.
Autor:
So konnte nicht nur Roeseler den "Lindberghflug" gleichsam als ein Modell künftiger Hörspiele zitieren, auch der Kritik erschien er als das "funkgerechteste Werk" der Baden-Badener Aufführungen, als "ein Hörspiel, das kühn einen Stoff zum Vorwurf" wähle, "wie er zeitgemäßer nicht sein" könne, der "zugleich die schöpferische Phantasie des Wort- und Tondichters in neue Bahnen" locke. "Der "Lindberghflug" bedeute "gewiß einen Meilenstein in der Entwicklung des Rundfunks und seiner Kunstübung."
Daß die Baden-Badener Aufführung dennoch nur eine Behelfslösung war für ein Stück, daß für die Realisierung im Rundfunk geschrieben wurde, macht der Brief Brechts an den Intendanten des WDR, Ernst Hardt, eigentlich deutlich genug und bedürfte keiner weiteren Erwähnung, wenn die Literatur über das Hörspiel nicht in völlig unzulässiger Weise die von Brecht ausdrücklich als "Experiment" für die Generalprobe vorgeschlagenen Bühnenaufbau und Szenarium, durch die "wenigstens optisch gezeigt werden" sollte, "wie eine Beteiligung desHörers an der Radiokunst möglich" sei - in ihre Kritik an diesem Hörspiel einbezogen hätte.
Leider ist ein Tondokument der ersten Rundfunksendung in der Inszenierung Hardts, dirigiertvon Scherchen, nicht erhalten. Hier ist man, was Inszenierung und Wirkung betrifft, auf die zeitgenössischen Zeugnisse angewiesen. Als historisches Dokument erhalten und zur Sendung wieder freigegeben ist dagegen eine dritte Rundfunksendung des Berliner Rundfunks unter Leitung Scherchens aus dem Jahre 1930, deren Inszenierung in der Tat von "überwuchernder Musik" sprechen läßt. Aber diese Inszenierung ist auch in anderer Hinsicht problematisch, unterschlägt sie doch zum Verständnis des Ganzen wesentliche Sequenzen, darunter mit dem "Bericht über das Erreichte" gleichsam die abschließende Schlüsselsequenz der ganzen Frühfassung. Wenn wir diese gleichsam "veroperte" Interpretation dennoch in dieser Reihe vorstellen, geschieht dies zum einen" weil sie ein historisches Dokument (wenn auch ex negativo) ist, zum anderen, weil sie als historisches Dokument zeigt, wie sehr dieses Hörspiel, und die utopischen Intentionen Brechts von Anfang an Mißverständnissen, um nicht zu sagen: Verfälschungen ausgesetzt waren. Die in der Berliner Inszenierung fehlenden Passagen der Frühfassung werde ich deshalb an den entsprechenden Stellen, dem Erstdruck in "Die Werag" folgend, als Zitat wieder einsprechen, was bei dem episodischen Bau des Hörspiels ohne jeden Verlust möglich ist.
Zitate aus der WERAG
Die Stadt New York befragt die Schiffe:
hier spricht die stadt new
york
über das wasser eurem
kontinent entgegen
seit sieben stunden ist
er unterwegs
wir haben kein zeichen von
ihm und wir bitten
die schiffe uns zu sagen
wenn sie ihn sehen.
Hier spricht das Schiff "Empress of Scotland":
49 grad 24 minuten nördlicher
breite und 34 grad 78 minuten länge
vorhin hörten wir in
der luft
über uns das geräusch
eines motors
in ziemlicher höhe
wegen des nebels
konnten wir nichts genaues
sehen
es ist aber möglich,
daß
dies euer mann war
mit seinem apparat
dem "geist von st. louis"
DIE STADT NEW YORK:
ganz amerika glaubt, daß
der ozeanflug
des capitän lindbergh
glücken wird
trotz schlechter wetterberichte
und
des mangelhaften zustandes
seines leichten flugzeuges
glaubt jedermann in den
staaten, daß
er ankommen wird
niemals, schreibt eine zeitung,
ist ein mann
unseres landes so sehr
für einen glücklichen
gehalten worden
wenn der glückliche
üer das meer fliegt
halten sich die stürme
zurück
wenn die stürme sich
nicht zurückhalten
bewährt sich der motor
wenn der motor sich nicht
bewährt
bewährt sich der mann
und bewährt sich der
mann nicht
bewährt sich das glück
also darum glauben wir
daß der glückliche
ankommt.
DIE STADT PARIS:
auf unsern kontinent zu
seit mehr als 24 stunden
fliegt ein mann
wenn er ankommt
wird ein punkt erscheinen
am himmel
und größer werden
und
ein flugzeug sein und
wird herabkommen und
auf der wiese wird herauskommen
ein mann und
wir werden ihn erkennen
nach dem bild in der zeitung
das
vor ihm herüberkam
aber wir fürchten er
kommt nicht, die stürme
werden ihn ins meer werfen
sein motor wird nicht durchhalten
er selber wird den weg zu
uns nicht finden
also darum glauben wir
wir werden ihn nicht sehen.
Bericht über das Erreichte:
zu der zeit wo die menschheit
anfing sich zu erkennen
haben wir wägen gemacht
aus holz und eisen und glas
und sind durch die luft
geflogen
und zwar mit einer schnelligkeit,
die den hurrikan
um das doppelte übertraf
und zwar war unser motor
stärker als 100 pferde,
aber
kleiner als ein einziges
1000 jahre fiel alles von
oben nach unten
ausgenommen der vogel
selbst auf den ältesten
steinen
fanden wir keine zeichnung
von irgend einem menschen,
der
durch die luft geflogen
ist
aber wir haben uns erhoben
gegen ende des 3. jahrtausend
unserer zeitrechnung
erhob sich unsere
stählerne einfalt
aufzeigend das mögliche
ohne uns vergessend zu machen:
das
Unerreichbare.
diesen ist dieser bericht
gewidmet.
WDR III, 14.1.1971