Reinhard Döhl | Zu Alfred Döblins "Die Geschichte vom Franz Biberkopf

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In seinen "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks" fordert Bertolt Brecht 1927 im "Berliner Börsen-Courier" Carl Hagemann zu dem Versuch auf, "aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen"

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In dieser Hinsicht würden Sie zum Beispiel schon allerhand erreichen, wenn Sie es aufgäben, für die wunderbaren Verbreitungsapparate die Sie zur Verfügung haben, immerfort nur selbst zu produzieren, anstatt durch ihre bloße Aufstellung und in besonderen Fällen noch durch ein geschicktes zeitsparendes Management die aktuellen Ereignisse produktiv zu machen.

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Diese Unterscheidung Brechts zwischen einer "Produktion für das Radio" und dem ihm vorrangigen Produktiv-Machen der aktuellen Ereignisse blieb in der wesentlichen Phase der Hörspieldiskussion zwischen 1927 und 1929 leider ohne Folgen. Sie hat dennoch am Anfang dieser Diskussion ihren Stellenwert. Und sie könnte mit erklären helfen, wie Brecht in den nächsten Jahren zu seiner ebenfalls folgenlosen Hörspielkonzeption kam; und ebenso, warum er - vor die Frage gestellt, "wie man Kunst und Radio überhaupt verwerten kann" - aus seiner Einsicht in die Rundfunkverhältnisse mit nur zwei Hörspielen ausgesprochen wenig zur Geschichte dieser Gattung beitrug.

Wie sehr und welcher Art Brecht 1927 auch an der "Produktion für das Radio" interessiert war, zeigt der zweite Teil seiner "Vorschläge (...)", der gleichzeitig zum heutigen Hörspiel, bzw. zu dessen Autor überleitet.

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Was die Produktion für das Radio betrifft, so sollte sie, wie gesagt, erst an zweiter Stelle kommen, aber dafür sehr intensiviert werden. Man hört selten etwas von Arbeiten bedeutender Musiker für Ihr Institut. Es hat gar keinen Wert, gelegentlich in Konzerten Stücke von ihnen vorkommen zu lassen und sie gelegentlich zur Unterhaltung von Hörspielen heranzuziehen; ihre Arbeiten müssen in ihrer prinzipiellen Bedeutung vorgeführt werden, und es müssen Werke von ihnen ausschließlich für das Radio gemacht werden. Was die Hörspiele betrifft, so sind hier ja tatsächlich von Alfred Braun interessante Versuche unternommen worden. Der akustische Roman, den Arnolt Brennen versucht, muß ausprobiert und diese Versuche müssen von mehreren fortgesetzt werden. Der große Epiker Alfred Döblin wohnt Frankfurter Allee 244 (Berlin). Ich kann Ihnen aber vorher sagen, daß alle diese Versuche an den ganz lächerlichen Honoraren scheitern werden, die die Funkstunde für solche kulturellen Zwecke zu vergeben hat. Im Gegensatz zu der sehr anständigen Bezahlung der Schauspieler und sonstigen Vortragenden sind die literarischen Honorare so schlecht, daß auf die Dauer solche Arbeiten ausschließlich für das Radio nicht zustande kommen können. Mit der Zeit müssen Sie doch auch endlich eine Art Repertoire schaffen können, das heißt, Sie müssen Stücke in bestimmten Intervallen, sagen wir alljährlich, aufführen.

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Brechts Forderung nach "einer Art Repertoire" war jedoch derart in den Wind gesprochen, daß die Hamburger Hörspieldramaturgie bei Publikationen ihres Sommerprogramms 1954 den Begriff "Hörspielrepertoire", in Unkenntnis der Brechtschen "Vorschläge (...)", gleichsam noch einmal neu entdeckte, - allerdings auch anders dachte.

Brechts weitere Forderung, musikalische Werke ausschließlich "für das Radio" zu machen und "in ihrer prinzipiellen Bedeutung" vorzuführen, greift den Diskussionen der Programmausschüsse der deutschen Rundfunkgesellschaften zum Thema "Rundfunk und Musik", 1928 in Wiesbaden, 1929 in Bremen, ebenso vor, wie sich eine Bemerkung Hans Fleschs in Wiesbaden als ausgesprochen weitsichtig erweist:

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Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage des musikalischen Rundfunk-Eigenkunstwerkes. (...) Wir können uns heute noch keinen Begriff machen, wie diese ungeborene Schöpfung aussehen kann. Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozess in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat; ebenso wie wir davon überzeugt sind, daß das Hörspiel weder Theaterstück, noch Epos, noch Lyrik sein wird.

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Einer solchen Einschätzung des Hörspiels, die sich ein Jahr später bei Alfred Döblin zur Auffassung des Hörspiels als einer literarischen Mischform weiterformulieren wird, lassen sich ergänzend zwei weitere Hinweise der Brechtschen "Vorschläge (...)" zuordnen. Zunächst der Hinweis auf die "interessanten Versuche" Alfred Brauns, wobei ich sicher nicht fehl gehe mit der Annahme, daß hier der sogenannte "akustische Film" gemeint ist, dessen wesentliche Charakteristika Braun 1929 folgendermaßen beschreibt:

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Akustischer Film, - so nannten wir in Berlin in einer Zeit, in der ein Funkregisseur nicht nur das Regiebuch zu besorgen hatte, sondern auch seine Manuskripte mehr schlecht als recht schreiben mußte, ein Funkspiel, das in schnellster Folge traummäßig bunt und schnell vorübergleitender und springender Bilder, in Verkürzungen, in Überschneidungen - im Tempo - im Wechsel von Großaufnahmen und Gesamtbild mit Aufblendungen, Abblendungen, Überblendungen bewußt die Technik des Films auf den Funk übertrug. (...) 1 Minute Straße mit der ganz lauten Musik des Leipziger Platzes, 1 Minute Demonstrationszug, 1 Minute Börse am schwarzen Tag, 1 Minute Maschinensymphonie, 1 Minute Sportplatz, 1 Minute Bahnhofshalle, 1 Minute Zug in Fahrt usw.
Das Decrescendo, das Abblenden oder, um ins Akustische zu übersetzen, das Abdämpfen, das Abklingen einer Szene leitet über in das Aufklingen, das Crescendo der nächsten Szene. Eine einfache, typisch primitive Kintopphandlung mit Verfolgungen, mit Irrungen, Wirrungen und all den unbegrenzten Möglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, die wir aus den ersten Filmen her kennen, ging durch das Spiel. Warum nicht - uns handelte es sich ja nur um die Form; füllen sollten und sollen sie anderen, nämlich die Herren von der Dichterakademie und ihre Herren Kollegen. (...) Auf die dem Film entlehnte Technik gründet sich seit unserem ersten Versuch mit dem 'akustischen Film' die größte Zahl aller bisher dagewesenen Hörspielversuche; keine Szene breit ausspielen; sowie der Fortgang der Handlung erfaßt ist: fertig, abblenden, keine Pause, kein Zwischenspiel; sowie die neue Situation genügend bezeichnet ist: fertig, überblenden: Welche Ausdrucksmöglichkeiten bieten sich einem dramatischen Dichter in einem solchen Spiel: die der größten Unbegrenztheit, wie sie nicht einmal der Film hat; Zeit und Raum sind aufgegeben.

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Man täte gut daran, Döblins ein Jahr später erstgesendete "Geschichte von Franz Biberkopf" auch einmal als Versuch einer solchen von Braun vorgeschlagenen Form-Füllung, gleichsam auf der Folie des "akustischen Films" zu analysieren. Denn was Braun hier über schnellen Sequenzenwechsel, über Seguenzenkürze, über "Großaufnahme und Gesamtbild", über die "Ausdrucksmöglichkeiten" der Blende festhält, das läßt sich alles in modifizierter Form bei anderer inhaltlicher Füllung auch der "Geschichte von Franz Biberkopf" abhören. Daß die von Braun geforderte Form-Füllung dabei nicht von einem "dramatischen" sondern von einem "epischen" Dichter vorgenommen wurde, läßt sich - ohne 'episch' und 'dramatisch' hier weiter differenzieren und problematisieren zu wollen - aus einer zweiten Tradition erklären, auf deren Bedeutung Brecht ebenfalls hingewiesen hat mit der Forderung: "Der akustische Roman, den Arnolt Bronnen" versuche, müsse "ausprobiert" und "diese Versuche" müßten "von mehreren fortgesetzt werden", allerdings "auch weiterhin nur" von den "allerbesten Leuten", wobei Brecht dann, mit Angabe der Adresse, den "großen Epiker Alfred Döblin" nennt.

Wenn man so will, könnte man nach Bronnens "Michael Kohlhaas" also von Hermann Kessers "Schwester Henriette" und "Straßenmann", von Döblins "Berlin Alexanderplatz"-Hörspiel in einer weiteren Annäherung auch als von Versuchen in der Tradition des von Brecht so genannten "akustischen Romans" sprechen, beziehungsweise als von Hörspielen, die aus diesen Versuchen resultieren.

Eine dritte Annäherung an unser heutiges Beispiel läßt sich schließlich auf dem Wege über Döblins eigenen, eigentlich bis heute gültigen Versuch, das Hörspiel als eine mediumspezifische Kunstgattung zu definieren, gewinnen, der gleichzeitig das Ende der Hörspieldiskussion zwischen 1927 und 1929 signalisiert.

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In einer Hinsicht kommt der Rundfunk der Literatur weit entgegen. Die Literatur baut mit der Sprache, welche an sich ja auch immer ein akustischen Element ist. Wenn seit Erfindung der Buchdruckerkunst fortschreitend die Literatur in unserer Zeit zu einem stummen Gebiet geworden ist, so braucht das nicht unbedingt ein Vorteil zu sein. (...) Die lebende Sprache ist in ungenügender Weise in die geschriebene eingedrungen. (...) Da tritt nun im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts überraschend der Rundfunk auf und bietet uns, die wir mit Haut und Haaren Schriftsteller sind, aber nicht Sprachsteller, - und bietet uns wieder das akustische Medium, den eigentlichen Mutterboden jeder Literatur.

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Allerdings schränkt Döblin zugleich ein, daß das Radio ein "sehr künstliches, technisches Mittel" sei, angesichts der Tatsache, daß unsere "mündliche Sprache" vom Kontakt zwischen Redner und Hörer" lebe, daß "die lebende Sprache nie allein" stehe sondern "immer begleitet" sei "von Mimik, von wechselnden Gebärden, von Blicken". "Diese Situation" könne "der Rundfunk nicht erneuern".

Bei der weitergehenden Fragestellung, wie die vier herkömmlichen Literaturgattungen im Rundfunk, für den Rundfunk verwertbar seien, "ob da eine Ehe oder vielleicht nur eine Liaison möglich" sei, steht für Döblin einer "Ehe von Rundfunk und Literatur im
Essayistischen und im Lyrischen" nichts im Wege, während "die Sache gefährlich" würde, wenn man sich "den heute breitesten Gebieten der Literatur(..), der Epik und der Dramatik" nähere.

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Unser heutiger Roman ist mit von der Buchform erzeugt. Er ist stumm und mehr oder weniger lang, zu schweigen davon, ob er schwer ist. Jetzt tritt das Radio auf, Sprechen wird gefordert, Kürze, plastische Einfachheit. Es sieht so aus, als ob die Sprache ein Vorteil sei (...). Aber das gilt nur für eine kommende Epik (...). Der heutige Roman aber ist ein Buchroman, und für ihn ist der mündliche Vortrag ein Fehler.

Die heutigen epischen Werke vom Don Quichote bis zum Hintertreppenroman würden am mündlichen Vortrag zugrunde gehen, denn er verstößt gegen die Grundintentionen und damit gegen die Natur dieser Werke. Romanen und epischen Werken ist Breite, Ausdehnung und Fluß wesentlich. Für die Breite, diese Ausdehnung und den Fluß haben wir zur Verfügung die Augen, die über die Seiten weggleiten und die es ermöglichen, innerhalb weniger Stunden zu passieren, wofür ein eventueller Hörer viele Tage braucht, wenn er es überhaupt aushalten kann. Für diese Ausdehnung sind die Augen die Schnellreiter und die D-Züge, die es ermöglichen, das zu fassen, was man Spannung nennt. Alles, was Spannung ist in diesen großsen Zusammenhängen, wird durch das langsame Fuhrwerk der gesprochenen Sprache totgefahren.

Das ist das eine. Und nun das andere ist nicht weniger wichtig. So sehr es zunächst paradox erscheint nach dem vorher Bemerkten: die mündliche Sprache ist überhaupt schlecht für das bisherige epische Werk. Die tönende Sprache tut nichts Positives hinzu, nämlich das Tönen zum Roman, sondern sie engt die Phantasie ein durch den Stimmklang, die besondere Art der Stimme, ihren Tonfall, der vom Autor nicht vorgesehen ist. Der eigentliche Ort des Romans ist unstreitig die Phantasie, das geistig sinnliche Mitphantasieren, und darin führt unendlich besser das Lesen; die Konzentration wird hier tiefer, die Ablenkung ist geringer, es erfolgt leichter die notwendige Selbsthypnose, die unter Anleitung des Autors des Romans geschieht.

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Kann nun der Rundfunk zwar nicht - wie Döblin ausführlich nachweist - die "Epik und die Dramatik der Literatur übernehmen", so könne er sich aber "Epik und Dramatik auf eigene Weise assimilieren" und auf diesem Wege eine "spezifische volkstümliche Rundfunkkunst, eine besondere große, interessante Kunstgattung entwickeln".

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Diese Gattung hat den Merkmalen des Radio - Hörbarkeit, Kürze, Prägnanz, Einfachheit - Rechnung zu tragen. Der Rundfunk hat sein Hörspiel, das bisher mit Ausnahmen fast ganz in den Händen von Dramaturgen liegt, durchaus mit Hilfe der wirklichen Literatur zu entwickeln, denn es ist Sprache und dichterische Phantasie dazu nötig. Er bemüht sich schon, er möge aber, und mit ihm der Produzent solcher Werke, mehr als bisher bedenken, daß im Rundfunk jener alte Unterschied zwischen Epik und Dramatik aufhöre. Das sind Trennungen der Literatur, welche das Buch und das Theater kennen.

Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihre Zwecke nutzbar machen.

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Für unser heutiges Beispiel lassen die drei genannten möglichen Annäherungen über den "akustischen Film" Brauns, den "akustischen Roman" Bronnens und die Hörspielkonzeption Döblins fragen, wieweit und in welchem Maße die Erfahrungen der ersten sechs Jahre Hörspielgeschichte jetzt zum Tragen kommen.

Daß die Vorlage dabei ein Roman ist, impliziert zusätzlich die Frage nach der Umsetzung dieser Vorlage in ein anderes Medium. Der Vergleich mit der Umsetzung der Romanvcrlage in ein weiteres Medium, mit der Filmfassung des "Berlin Alexanderplatz" von 1931, in der übrigens Heinrich George gleichfalls die Hauptrolle spielt, verweist zum einen auf den "akustischen Film" zurück. Er macht zum anderen einsichtig, wie vielseitig auswertbar der 1929 erschienene Roman Döblins war, und zugleich, daß die Eigengesetzlichkeiten der Medien die Romanvorlage nur partiell umsetzen ließen.

Daß die Hörspielfassung von 1930 nur eine Möglichkeit der Adaption darstellt, läßt sich schließlich deutlich machen in einem Vergleich mit einer weiteren, 1958 vom Hessischen Rundfunk produzierten, ausdrücklich als "Bearbeitung", als "Hörspiel nach dem Roman von Alfred Döblin" angekündigten Fassung Wolfgang Weyrauchs.

Diese verschiedenen Umsetzungen in die verschiedenen Medien müssen in der Romanvorlage angelegt sein, die sich damit unterscheiden muß von jenem Buchroman, dessen Verwertungsmöglichkeit durch das Radio Döblin auf der Kasseler Arbeitstagung bestritten hatte. In der Tat galten Fabel, traditionelle Romanhandlung Döblin als nicht mehr zeitgemäß. Hier liegt denn auch einer der Gründe seiner Ablehnung Thomas Manns, der ihm Vertreter bürgerlicher Werkkomposition und damit verdächtig war.

Stattdessen sind es vor allem zwei Techniken, die die Adaption seines Romans als Hörspiel und Film sehr erleichtert haben: die Technik des inneren Monologs und eine dem Film vergleichbare Montagetechnik. Man hat in diesem Zusammenhang auf James Joyce und John Dos Passos als Vorbilder verweisen wollen, doch machte Walter Benjamin alsbald deutlich, daß Joyce's innerer Monolog eine "ganz andere Zielsetzung" habe, daß die Wurzeln des Stilprinzips der Montage im Dadaismus lägen, zu dessen Vätern Döblin zu zählen sei. Ich möchte allerdings noch einen Schritt vor den Dadaismus zurück zum italienischen Futurismus gehen, mit dem Döblin manches gemeinsam zu haben scheint. Von einem "kollektivistisch zu verstehenden 'Pandämonismus' Döblins" spricht in diesem Zusammenhang etwa Wolfgang Grothe:

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Von hier aus sollte man verstehen, was in Döblins Essayistik über Fragen der Erzähltechnik oder über die sie unmittelbar berührenden weltanschaulichen Dinge mit dem Wort 'Geist' bezeichnet ist: Er ist die Keimzelle der modernen, technisierten, politisierten, industrialisierten, in rasende Eigenbewegung geratene Welt selbst; hier begegnet uns eine eindeutige Nähe Döblins zum Futurismus; denn die rasende Eigenbewegung der Materie bedeutet die Bejahung des Lebens als eine Gefahr; das Aufbegehren gegen die Werte der Tradition, die hymnische Verherrlichung technischer Gegenstände und Erscheinungen, ferner die Großstadt als Ballungszentrum von Leben und Geist, - um nur einige Gemeinsamkeiten anzudeuten - bestimmen das Denken Alfred Döblins bis tief in seine kunsttheoretischen Äußerungen hinein.

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Döblin selbst sieht den Unterschied zu Dos Passos in mancher Hinsicht durchaus vergleichbarem "Manhattan Transfer" vor allem in der homophonen anstelle einer polyphonen Komposition, in dem ständigen Erzählbezug auf die Geschichte des ehemaligen Zement- und Transportarbeiters und Zuchthäuslers Franz Biberkopf. Nicht derart, daß nun aus Franz Biberkopf wieder so etwas wie ein traditioneller, wenn auch negativer Romanheld würde. Er ist und bleibt Teil des Ganzen, Stimme der Masse, ein - wenn man so sagen darf - Stück Großstadt. Die Einzelperson, ihr singuläres Schicksal interessierte den Epiker Döblin nicht:

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Ich bin ein Feind des Persönlichen. Es ist nichts als Schwindel und Lyrik damit. Zum Epischen taugen Einzelpersonen und ihre sogenannten Schicksale nicht. Hier werden sie Stimmen der Masse, die die eigentliche wie natürliche epische Person ist.

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Das gilt auch für die Hörspielfassung von 1930, in der der Stimme Biberkopfs eine Vielzahl Stimmen zugeordnet werden, die an den verschiedensten Stellen des Spiels die verschiedensten Funktionen erfüllen, in einem ständigen Wechsel der sprachlichen Ebenen von Berliner Idiom, von Umgangssprache bis zu Bibel- und Schlagerzitat, immer wieder unterbrechen, gegliedert von einer Art Moritatenerzähler mit einer gelegentlich grob gereimten, geknittelten Sprache.

Die Forschung hat für den Roman zurecht von einer "Mannigfaltigkeit der Erzählstimmen", von den vielfältigen "Erzählmitteln" gesprochen und "die Reportage und Montage, die dadaistische Collage, den inneren Monolog, das Zitat, die Simultanität, die filmische Technik der Uberblendungen, die Polyperspektive, die szenische Parataxe, die Auflösung der Regelsyntax, die extreme Sprachmischung und anderes mehr" aufgezählt. Eine derartige Aufzählung läßt bereits erkennen, daß eine Umsetzung ins Hörspiel nur mit Verlusten erkauft werden konnte, doch zeigen einige der aufgezählten "Erzählmittel" zugleich, wie sehr die Komposition des Romans einer Hörspielbearbeitung entgegenkam. So ließ sich ein Spiel mit den sprachlichen Ebenen, die "Mannigfaltigkeit der Erzählstimmen" in Wesentlichem beibehalten und der alten Aufzeichnung mit ihren zahlreichen, gleichsam personenlosen Sprecherrepliken sehr schön abhören.

Leider haben die Hamburger Neuinszenierung von 1962 und der von Heinz Schwitzke besorgte Druck in "Frühe Hörspiele" (1962), beziehungsweise "Das tapfere Schneiderlein" (1964) hier mehrfach korrigierend, um nicht zu sagen: verfälschend eingegriffen, vor allem in der Zusammenfassung zahlreicher Sprecherrepliken der einzig erhaltenen historischen Aufnahme zur Stimme des Todes, dem überdies von Fall zu Fall von Döblin wohl kaum gewollte eindeutige Qualitäten zugewiesen werden zum Teil mit kurzen aber wesentlichen Textverlusten.

Gewiß ist der Tod eine der Stimmen, hinter der sich der Erzähler verbergen kann, - anders als in der Weyrauchschen "Bearbeitung", in der der Tod nur ein Dialogstimmenpart unter anderen ist, während Franz Biberkopf seine Geschichte selbst erzählt und spielt. Gewiß kann sich der Erzähler - sagte ich - hinter der Stimme des Todes verbergen, aber er ist auch der Moritatenerzähler, er kann eine Frauenstimme sein, die an zentraler Stelle des Hörspiels die Lebensgeschichte der ermordeten Mieze erzählt und sich selbst vorstellt als "eine einfache Frau, die diese Geschichte hört", eine Geschichte, deren Ende der Tod als Frage aufnimmt:

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Was wirst du tun, Franz?

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Bereits diese Beispiele zeigen, daß der Hörer auf mindestens zweifache Weise an der "Geschichte des Franz Biberkopf" teilhat, an der gespielten Geschichte und an ihrer Brechung durch die Erzählerstimme(n). Die immer wieder begegnenden Zitate bringen eine weitere Dimension ins Spiel, wenn z.B. der Ermordung Miezes kontrapunktisch der Anfang des Liedes "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod" zugeordnet oder wenn der Anfang des 3. Kapitels des Prediger Salomo leicht variiert an gleicher Stelle, geradezu leitmotivisch, wiederholt eingefügt und gegen den Dialog als Zitat gleichzeitig abgesetzt wird.

Anders als bei Brecht, der der Gefahr, daß der Hörer sich "durch Hineinfühlen in den Helden von der Masse" trennt, dadurch zu begegnen versucht, daß er ihn auffordert, den Lindberghpart "ohne sein eigenes Gefühl mit dem Gefühlsinhalt des Textes zu identifizieren, am Schluß jeder Zeile absetzend, also in einer Art  Ü b u n g" zu lesen - anders als bei Brecht versucht der Armenarzt Döblin - mißtrauisch gegenüber "Einzelpersonen und ihren sogenannten Schicksalen"" - den Hörer den "Stimmen der Masse" zu konfrontieren, "die die eigentliche wie natürliche epische Person" sei, versucht er durch wechselnde Perspektiven den Hörer zu distanzieren, trifft er sich gelegentlich als Autor-Erzähler mit dem Hörer in einem "wir", das beide einschließt und Franz Biberkopf für beide als erzählte, erfundene, fiktive Figur ausweist: "Weil er aber Franz Biberkopf ist, so wollen wir ihn nicht so vor die Hunde gehen lassen."

Das weist natürlich auch auf die Romanvorlage zurück. Und es macht zugleich einsichtig, wie sinnvoll die Frage nach dem Erzähler im Hörspiel, nach den Funktionen des Erzählers im Hörspiel sich stellen läßt, verglichen etwa mit der in unserer letzten Lektion diskutierten fragwürdigen Behauptung der Funkerzählung.

Darüber hinaus ist "Die Geschichte von Franz Biberkopf" nicht nur ein gutes Demonstrationsobjekt für die von Döblin als Mischform definierte rundfunkeigene "Kunstgattung" des Hörspiels, sondern der Vergleich mit der Romanvorlage zeigt überdies, wie sehr sich allgemein vor einem derartigen Hörspiel die Auffassung von Literatur überhaupt wandeln mußte.

WDR III, 28.1.1971