Reinhard Döhl | Günter Eich zum 70. Geburtstag. Eine Erinnerung

In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim,
das sind schon zwei.

Als Eich diese "Zuversicht" 1966 veröffentlichte, konnte er als Autor auf eine fast 40-jährige Schriftstellerlaufbahn zurückblicken, hatte er eine Anzahl beachtlicher Preise zugesprochen bekommen, war er längst schulbuchfähig geworden. Hatte er aber auch mit "Zu den Akten" und "Anlässe und Steingärten" zwei Gedichtbände, mit "Man bittet zu läuten" ein Hörspiel vorgelegt, die seine relativ große Leser- und Hörergemeinde zusehends verprellten. So erhält dieses 1966 in "Anlässe und Steingärten" veröffentlichte "lange Gedicht" seinen hintergründigen Sinn, ist es nicht - was es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag - kauzige Spielerei, vielmehr wörtlich zu nehmen, ist es nüchterne Bestandsaufnahme des Unverständnisses, der Mißverständnisse und Fehlinterpretationen, denen Eich sein Werk ausgesetzt sah.

Am heutigen Tag wäre Günter Eich 70 Jahre alt geworden, Anlaß für einige Gedenkartikel, für eine Viertelstundensendung, Möglichkeit aber auch, über einige Mißverständnisse und Fehlinterpretationen eines Lebenswerkes nachzudenken, das, unvollständig und nicht sonderlich zuverlässig redigiert, vier Dünndruckbände umfaßt.

Am 1. Februar 1907 wurde Eich in Lebus an der Oder geboren, in einer Landschaft, an einem Fluß, die immer wieder im Eichschen Werk begegnen,

Oder, mein Fluß,
der keine Quelle hat:
In Tropfen sichert es
Aus Gebirge von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt.
Der, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen,
ein November für Regen -

läßt Eich zum Beispiel (in der 2. Fassung) ein Gedicht beginnen, mit dem er die Sendung seiner wohl besten Hörspieladaption nach Fontanes "Unterm Birnbaum" einleitete, und er deutet mit diesem Gedicht zugleich an, in welcher Weise ihn diese Landschaft geprägt hat:

Die Fähre in Lebus und das Haus
Rechts der Oder, wo ich geboren bin,
die Schmiede in Podelzig und die Erzählungen
der Großmutter, die den Mörder Sternickel sah,
die Ferne fährt in Kähnen vorbei
gleichgültig und mit Flaggen am Bug.

Was Eich geprägt hat, ist ein Eindruck der Vergänglichkeit, der Zufälligkeit menschlicher Existenz:

Wer kommt, geht bald wieder fort.
In Küstrin sah Friedrich, wie Katte enthauptet ward,
in Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater,
Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.

Und dennoch erschließt sich dieses Gedicht nicht, würde man bei ihm bleiben, erschließt es sich erst, wenn man es im Kontext des Eichschen Werkes liest. Gerade an diesem nicht so populären Gedicht läßt sich zeigen, was Eich von seinen Lesern verlangt, nämlich weitere Beziehungen herzustellen, das Werk gleichsam als einen Fahrplan benutzend, den einzelnen Text gleichsam als Umsteigestation zu verstehen.

Leicht herzustellen ist eine Verbindung des Hinweises, "in Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater" zur Hörspielbearbeitung der Fontane-Erzählung "Unterm Birnbaum". Eine zweite, noch relativ leicht aufzufindende Verbindung besteht zwischen diesem 1951 entstandenen 35 Zeilen langen Gedicht und einer 1964 veröffentlichten "neuen Postkarte" von nunmehr nur noch vier Zeilen Länge:

Oder, mein Fluß, erklärbar
Aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.

Der Reduktionsprozeß, der hier stattgefunden hat, ist symptomatisch für die Werkentwicklung Eichs und zugleich einer seiner Versuche, sich einer eindeutigen Festlegung, einer eindeutigen Interpretation zu entziehen. Es ist dies der mit zahlreichen Beispielen belegbare Weg vom Gedicht zur kurzen Formel, die sich nicht mehr aus sich selbst, allenfalls aus dem Werkzusammenhang erschließen läßt.

Schwieriger ist es mit einer dritten Verbindung, die sich herstellen läßt und die hergestellt werden muß, wenn man Eichs Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen, ernst nimmt, und das heißt, daß man Eich wörtlich nehmen muß, nun aber nicht einsinnig, sondern in der Mehrdeutigkeit der Wörter. Die Verbindung, die hier gemeint ist, besteht zwischen dem Fährmann-Motiv des Gedichtes

Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen

und dem für die Eichsche Poetik zentralen Übersetzungs-Motiv. In seiner von seinen Interpreten so gründlich mißverstandenen Rede "Der Schriftsteller vor der Realität" lauten die zentralen Abschnitte:

Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen.
Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit.
 

Dieses Übersetzen ist also nicht nur Übertragung von einer in die andere Sprache, es ist zugleich Annäherung an einen Ursinn, der wie die Ursprache, der Urtext nicht mehr direkt greifbar ist. Gleichzeitig ist übersetzen aber auch, wie in dem zitierten Gedicht, das Übersetzen über einen Fluß, wiederum mehrdeutig als einfacher Fährvorgang und zugleich als Anspielung auf den Acheron, den Totenfluß, über den Charon die Verstorbenen in die Unterwelt übersetzt.

Erst jetzt läßt sich Eichs Oder-Gedicht annähernd erschießen, erweist sich die Jugendlandschaft Eichs als eine Wirklichkeit, der er sich übersetzend mit der Sprache des Gedichts nähert, wird der Fluß der Jugend auch zum Acheron, nicht nur für Sternickel, Katte, Fontane, Kleist, sondern ebenso für den Autor. Die Todesthematik - ebenfalls zentral für das Eichsche Werk - ist also versteckt in zwei so scheinbar leichthin gesetzten Zeilen

Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen

eingeschlossen.

Daß ein solcher Autor sich zugleich als politischer Schriftsteller verstand, ist nur für den überraschend, der den Werkzusammenhang nicht berücksichtigt, beim einzelnen Text bleibt und anderes überliest.

In "Anlässe und Steingärten", jenem Gedichtband, in dem sich die kürzeste Fassung des Oder-Gedichts findet, veröffentlichte Eich auch ein Doppelgedicht "Kunsttheorien" / "Und Wirklichkeit", ein boshaftes Stenogramm der öffentlichen Diskussion ambivalenter Halbintelligenz Mitte der sechziger Jahre, deren zweiter Teil lautet:

Mehrsprachig, Podiumsgespräche,
Lyrik,
ihrem Wesen nach faschistoid,
Prozesse im Flattersatz,
Gewalt notwendig,
um die Zeit zu ändern,
befestigte Elfenbeintürme,
die politische Schreibweise
dient der Macht,
verzweifelt
nach ungeschriebenen Sexualien gesucht,
und Mary means:
der Mett heiligt die Zwickel.

Es kann hier nicht darum gehen, die zahlreichen zeitbezüglichen und zeitanzüglichen Anspielungen im Einzelnen aufzuschlüsseln. Der Text ist vielmehr nur als Beleg dafür zitiert, wie ein politischer Autor reagiert, der sich entschieden hat, Welt als Sprache zu sehen. Für ihn - so könnte man diesem Text ablesen - heißt 'politische' Tätigkeit Auseinandersetzung mit politischer Sprache im weitesten Sinne, mit Jargon und Diskussion, sprachliche Demonstration von Leerläufen und -formeln.

Eichs Entscheidung zum politischen Schriftsteller datiert schon ziemlich früh mit 1947, und resultiert nicht zum Geringsten aus Erfahrungen, die er vor allem als Hörspielautor im Nationalsozialistischen Rundfunk machen mußte. Von Eich wurden, weil sie politisch völlig unverdächtig waren, in den Jahren von 1933 bis 1940 noch eine erstaunliche Anzahl von Rundfunkarbeiten gesendet, die - vielleicht gerade weil sie unpolitisch waren - zu Mißverständnissen und falschem Lob führten. So lobt der "Völkische Beobachter" Eich anläßlich der Erstsendung des Hörspiels "Fährten in der Prärie" als einen "guten Dichter", "der zugleich mit den Voraussetzungen eines funkgerechten Hörspiels vertraut ist. Seine Sendungen sind kleine Funkereignisse, die sich aus dem üblichen Tagesprogramm herausheben." Formal gelungen, seien lediglich einige inhaltliche Aspekte fraglich.

Eichs Entscheidung nach 1945 fiel klar aus. In einem von seinen Interpreten kaum beachteten Aufsatz "Der Schriftsteller 1947" heißt es unmißverständlich:

Die Verkapselung in die private Sphäre wird undicht. Die Atomkraft zertrümmert die starken Mauern, die sich die Seele errichtet hat; durch die Breschen pfeift der schneidend kalte Wind der unentrinnbaren Wirklichkeit. Da Schreiben ein Akt der Erkenntnis ist, ist die Situation des Schriftstellers die eines vorgeschobenen Postens. Im Treiben der Welt kann er sich der immer stärkeren Aktivierung nicht entziehen. Seine Aufgabe hat sich vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt.

Man würde Eich mißverstehen, läse man aus dieser Äußerung den Entschluß zu praktischer politischer Tätigkeit heraus. Praktische politische Tätigkeit hat Eich nie gewollt und gesucht. Während Günter Grass sich unter dem Motto "Dich singe ich, Demokratie"  aktiv in den Wahlkampf für eine Partei stürzte, schrieb Eich sein "Seminar für Hinterbliebene"

Während die Toten
Hurtig erkalten,
ein langsamer Walzer
für die SPD.
Genug von Rosenbuketts
Für den richtigen Anlaß,
sprecht endlich von
zerknüllten Drucksachen
und der Gulaschsuppe,
die albern schwappt
über gestreifte Hosen.
Wir brauchen eine
Heimatverbundene Zither
Für fünf Plätze
In einem wirklichkeitsnahen
Regierungsbunker.

Eichs Mißtrauen gegenüber der politischen Rede, in der er schließlich nur noch den Griff zur Macht sah, in die politische Wirklichkeit war groß, er konnte nur warnen:

Dann kamen
senfkundige Männer,
Rübenzähler,
Abgeordnete der Wohlfahrt.
Holzauge sein wachsam!
Sie rieben uns blank
mit Schmirgelpapier
Tatsachenberichten
und Höflichkeit.
Holzauge sei wachsam!
Nun wissen wir alles:
Die Sonne liegt immer vor uns.
Wir definieren die Freiheit neu:
Gleich
sind wir sie los.
Holzauge.

Die Büchnerpreis-Rede von 1959 hatte bereits Eichs Position, die Position des Schriftstellers als eines politischen Schriftstellers, festgeschrieben: als die Position desjenigen, der mit seinen Gedichten (und Hörspielen) die Zusammenhänge von Macht und gelenkter Sprache sichtbar machen will, oder, wo dies nicht mehr geht, mit seiner Sprache, der Sprache der Poesie der gelenkten Sprache ins Wort fallen muß. So interessant und so wichtig diese Rede ist, so bemerkenswert ist der Versuch, sie für die Öffentlichkeit politisch zu entschärfen.

In einer Untersuchung über die Rezeption des Eichschen Werkes macht Susanne Müller-Hanpft darauf aufmerksam, daß die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "normalerweise die Reden aller Büchnerpreisträger abzudrucken" pflegte und auch "Eichs Rede zum Druck akzeptiert hatte, schließlich nicht nur "ihr Angebot" wieder zurückzog, sondern sich auf einen Bericht über die Preisverleihung, auf eine sinnentstellende Wiedergabe der Eichschen Rede beschränkte, die das Politische praktisch unterschlug. "Eichs Rede, ohne jede Pathetik, in fast gleichbleibender Tonhöhe, doch mit versammeltem Ernst vorgetragen, war nichts anderes, als der Ausdruck des Leidens eines sensiblen Lyrikers an seiner Zeit, eine ins zeitdiagnostische gewandte Interpretation seines Grundgedankens, daß die 'Entscheidungen im Taubenflug' geschehen."

Nun ist von "Taubenflug", von "Entscheidungen im Taubenflug" in dieser Rede nicht die Rede, vielmehr vom Gegenteil, dem Versuch der Macht, der Dichtung gerade dieses Vage der dekorativ geratenen Metaphorik zu unterstellen, um sie so zu verharmlosen und derart der Sprachlenkung der Macht verfügbar zu machen:

Wir wissen, daß die Macht daran interessiert ist, daß alle Kunst die Grenze der Harmlosigkeit nicht überschreitet. Macht widerstrebt der Qualität. Sprache, die über die gelenkte, die von ihr genehmigte hinausgeht, ist nicht erwünscht. Ihr bloßes Vorhandensein stellt eine Kritik dar, etwas, was der Lenkung und damit der Macht selber widerspricht.
Sprache, damit ist auch die esoterische, die experimentierende, die radikale Sprache gemeint. Je heftiger sie der Sprachregelung widerspricht, um so mehr ist sie bewahrend. Nicht zufällig wird sie von der Macht mit besonderem Zorn verfolgt. Nicht weil der genehme Inhalt fehlt, sondern weil es nicht möglich ist, ihn hinein zu praktizieren. Weil da etwas entsteht, was nicht für die Macht einzusetzen ist. Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt. Die Partnerschaft der Sprache kann stärker sein als die Gegnerschaft der Meinung.
Es gibt ein reizvolles, sehr altes ästhetisches Spiel, den Streit um Inhalt und Form. Das Goldgefäß und die Kontur, die den lebendigen Leib umschließt, so hat Theodor Storm formuliert, Benn hat neue Marierungen versucht, und es gehört wenig prophetische Gabe dazu, dem Problem ein ewiges Leben vorauszusagen, bis in die Sphärenmusik hinein, es wird uns auch auf den andern Planeten schon erwarten. Ein Problem, das nicht umzubringen ist, auch wenn wir es unter dem Aspekt der Macht betrachten.
Sie, die Macht, deutet an, daß sie es gelöst hat. Ihr Zeigefinger weist in eine bestimmte Richtung: Da liegt das ganze Geheimnis und es ist keins, es gibt nur den Inhalt, auf ihn kommt alles an, auf Thron und Altar, Proletariat, Freiheit, Fortschritt, Frieden, Wohlstand, Gerechtigkeit, Demokratie. Man ist beschämt, man möchte auch nicht gegen alles sein, und wieder einmal haben wir den alten Zaubertrick nicht bemerkt. Wir starren gebannt auf die Inhalte, die man uns präsentiert, und fragen nicht mehr.

Eich sah kaum noch Möglichkeiten, dagegen anzugehen. Gewiß, er optierte für die Frage, er plädierte für die Sprache, die sich "jeder Lenkung" entzieht. Das Gedicht als Frage, nicht als Antwort hatte er in seinem Werk immer wieder versucht. Er hatte erleben müssen, wie es schulbuchfähig wurde, zitierbar und damit zur Antwort. Seine Reduktionen auf nicht aufschlüsselbare Formeln, die zahlreichen Fassungen seiner Hörspiele waren verzweifelte Versuche, sich der Interpretierbarkeit und damit der Macht und der gelenkten Sprache, auch um den Preis, nur mehr zwei Leser zu haben, zu entziehen. Gegen eine immer perfekter funktionierende Gesellschaft versuchte er schließlich die sprachliche Destruktion bis an die Grenze des Unsinns, vor allem in der Prosa der "Maulwürfe". Es waren verzweifelte, fast anarchistische Versuche, "in das Nichts der gelenkten Sprache" Wörter zu setzen und so eine letzte Chance im Kampf gegen die Macht und eine von ihr gelenkte Sprache zu nutzen.

Es wird Ernst gemacht, die perfekt funktionierende Gesellschaft herzustellen. Wir haben keine Zeit mehr, Ja zu sagen. Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien. Die Chance, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, wäre vertan.
 

[WDR - Zeitzeichen 1.2.1977]