Hermann Finsterlin 1962, im Rahmen seiner Ausstellung in der Berliner Galerie Diogenes

Liebe Zeitgenossen!

Es ist fast selbstverständlich, daß die meisten, welche mit meiner Bauidee irgendwie in Verbindung kommen oder wiederkommen, annehmen werden, daß ich heute als 75-jähriger zu meinen Jugendideen ein ganz anderes, sagen wir gereifteres, zahmeres, wenn nicht sogar ablehnendes Verhältnis habe. Ganz das Gegenteil ist der Fall. Ich stehe heute nach 1/2 Jahrhundert mehr denn je zu diesen Ideen, denn das wiedererwachte Interesse bester internationaler Fachkreise daran ist mir eine Bestätigung, daß die damalige "Gläserne Kette", wie unsere junge Architektenvereinigung hieß, nicht an sich selbst sondern an den tragischen Folgen des 1. Krieges zerbrochen ist, die ja dann letzten Endes zur katastrophalen Erdrosselung jeder wahren Kulturäußerung führten.

Zerstörte Kulturen aber wachsen langsamer wieder auf, als zerstörte Zivilisationen. - Sollten wir nicht nach dem Wirtschaftswunder auch ein Kultur- resp. Kunstwunder erleben?

Etwas liegt in der Berliner Luft von heute von der Luft der 20er Jahre, - der Endpunkt der Sackgasse scheint mir fast erreicht. -

Meine Verehrten, ich bilde mir nun nicht ein, daß man in absehbarer Zeit Finsterlin Dome und Häuser bauen wird, aber ein Bedürfnis ist doch erkennbar, eine Sehnsucht nach lebendigem Spiel, nach größerem Reichtum der Form, auch in der, nur scheinbar und notgedrungen so form- und zweckgebundenen Architektur. Denn gerade unsere technischen Fortschritte sollten dazu verlocken, nicht in ihrem Selbstzweck zu veröden, sondern ihre, so großartig erweiterten Möglichkeiten auch zu einer in höchstem Sinne zeitgemäßen Bauweise einer wiedererwachenden Bau-Kunst auszunutzen. Und nur um dazu anzuregen, blieb meine "Phantastische Architektur" so lange auf Eis.

Wenn ich nun schon mein liebstes Lebenswerk hier in einer der großen Kulturzentren als dankbarer Gast sichtbar machen darf, dann erlassen Sie mir nur bitte das berühmte Blatt vor dem Mund und gestatten Sie mir im folgenden ein subjektiv rein persönliches und objektiv völlig unpersönliches Bekenntnis meines Baugedankens - einmal aus meiner Vogelperspektive - aus der Perspektive "meines Vogels".

So hört denn:

Berlin 1962
Casa novissima

Es ist geradezu unfaßlich, wie stabil und ideenlos die ganze historische Bauerei jahrtausendelang geblieben war. Immer schon reiner Zweck, schon von der Pyramide an, und Zweck verarmt. Jedes "Optimum" ist eine Sackgasse, ein Steril. - Was hätte man allein schon aus der Oktaederhälfte der Pyramiden oder der Kegelgrundlagen der altöstlichen Bauten machen können? Nicht mal gelungene Inzucht hat dieselbe variiert in Zwillings- und Drillingsdurchdringungen (Modelle), wie es wenigstens beim Cubus der Fall war, geschweige reizvolle Mischungen mit den übrigen platonischen Körpern. Einzig ihre Kanten und Mäntel hat man atmen lassen in verschiedenen Thathmen, und der Spieltrieb, der Urtrieb zu aller Kunst (denn ich rede hier immer noch von Bau-Kunst) hat sich überall und immer nur an die Haut gewagt, an die Fassade, an das Klein (Indien, Hochgotik, Barock) - der Körper, der Baukörper blieb primitiv. Nur den Hexaeder, wie gesagt, hat man noch sprossen lassen in den 3 Dimensionen und ihm eine einzige Ehe gestattet, eine Fremdehe mit der Kugel: die Moschee. Aber wer nur einmal bewußt die traumhaft schönen Glasarchitekturen von Wasserblasen geschaut hat, hätte sich auch hier etwas Mut gewünscht zu anregenderen Hybriden (Modell).

Wo immer der Mensch baute, ist er weit hinter der Natur geblieben, anstatt sie zu überbieten. Die Bau- wie die Form- und Farbgesetze der Natur sind viel komplizierter als die des Menschen.

Was hat der Gruppengeist der Insekten, Schnecken, der Fische, Vögel etc. alles aus seinen biotechnischen Optimalformen gemacht, wo ihm tropisch optimale Lebensbedingungen zur Verfügung standen! Wie unfehlbar noch die extremsten Spiel-Arten in Form und Ornament (Korallenfische, Tropenfalter, Paradiesvögel, usw.) Da ist kein Punkt, keine Linie, keine Fläche am falschen Platz, und dennoch die strenge technische Mathematik weit überholend. Aber [von Hand gestrichen, R,D.] schon im Kristallreich dieser [von Hand korrigiert in: diese, R.D.] unabsehbaren [von Hand korrigiert in: unabsehbrare, R.D.] Auswertung der Möglichkeiten. Aber sind wir in unseren Uberleibern, in die wir uns einwohnen, je über die ersten Variationsreihen der Grundkörper hinausgekommen? Nicht etwa aus Materialschwierigkeiten oder Konstruktionsschwierigkeiten.

Der Mensch, der die Inkamonolithe einschliff oder die Steingiganten der Osterinseln meißelte, der die Pyramiden türmte und den Koloss von Rhodos goß, hätte die großartigste, formenreichste Riesenhohlplastik, - denn eine solche hat ein Menschenbau doch zu sein -, im ursprünglichsten, wie im´weitesten Entwicklungssinne, - auf die Erde stellen können, wenn - es ihm eingefallen wäre!

Wir haben bisher auf der Erde gebaut als Roboter und für Roboter. Unsere Gotteskäfige und Wohnkisten haben keine Beziehung zu Organismen und Organen. - In diesen Riesenbehältern aus Stein und Eisen könnten ruhig statt Menschen nur anorganische Dinge liegen, Maschinenteile, Möbel, Bücher etc. Als Museen, Waren: Lagerhäuser, Kaufhäuser, Maschinenhäuser etc. sind sie schon recht. - Auch als Urnenhallen. Aber als Wohnhäuser, Geschäftshäuser, Theater, Kirchen, Krankenhäuser, Gesellschaftsräume Gaststätten, Schulen etc. - als Hausungen, in welchem lebendige Wesen, noch dazu Menschen, - atmen, essen, schlafen, lieben, denken, schaffen sollen, stellen sie eine jahrtausendealte Unmöglichkeit dar. - Die Kult-Bauten des alten Ostens haben wenigstens versucht, die organisch empfundene und so konstruierte Kugelhütte des Urmenschen ein klein wenig zu variieren, aber nicht einmal mit der Phantasie der Meerschnecken oder der Radiolarien etc. - Selbst der Greif der westlichen Dome ist schon kristallisiert, wie die, in ihnen webende Aura des Gekreuzigten. -

Kristallisiertes Menschenvolk, das sie schuf, - mit mählich versteinernden Herzen. -

Wie anders aber könnte der Menschengeist seinen organischen, unendlich beweglichen, wandlungsfähigen Körper mit der bezaubernden Ausdrucksfähigkeit seiner formenreichen Seele umräumen mit reizvollsten, meisterlich componierten Basreliefen und ihren äußerlichen Dokumentationen?

Städte, als Formen- und Farbeorgeln anregendster Einflüsse? Wundergebilde gleich tropischen Gewächsen und Tieren. Inspirierter Impuls, gelenkte Dynamik, nicht gefesselter Reflex, soll den Zukunftsbau verwirklichen.

Dazu anregen, dazu verführen möchten meine architektonischen Visionen! -