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Reinhard Döhl | Hermann Finsterlin. Erotische Zeichnungen, Aquarelle und Architekturen

Verwandlungen | Pymalion und Leda | Drei Hinweise | Architektonische Liebe und Fernsehturm | Anthropomorphische und anthropometrische Architektur | Das höchste Lied | Architektur und Eros/Finsterlin und Gaudí

Verwandlungen

Im August 1967 veranstaltete die Stuttgarter Buchhandlung Wendelin Niedlich anläßlich seines 80. Geburtstags eine Ein-Abend-Ausstellung erotischer Zeichnungen und Phantasien Hermann Finsterlins: "Verwandlungen des Zeus".

Eröffnet wurde diese Ausstellung vom Architektur-Professor Jürgen Joedicke, dessen Studenten Knut Lienemann und HPC Weidner das Verdienst zukam, 1966/1967 eine erste Biographie, ein Werkverzeichnis der Architekturen, den Katalog "Hermann Finsterlin. Architekturen 1917-24" (künftig zitiert: Lienemann/Weidner) und eine Ausstellung erarbeitet zu haben, die nach Stuttgart in Darmstadt, Karlsruhe, Aachen und Berlin gezeigt wurde.

Bestätigte diese Ausstellung die Wiederentdeckung des utopischen Architekten, wollte die Entdeckung seiner erotischen Zeichnungen und Aquarelle nicht recht gelingen.

In seiner Laudatio ortete Jürgen Joedicke die Exponate "Zwischen Laurin und Lullu", ohne jedoch weiter auf sie einzugehen. Und die Kritik hielt sich zurück. Von einer "Intimproduktion" sprach Karl Diemer in den "Stuttgarter Nachrichten", vom "erotischen Mythenschauspiel des neckischen Gottes, der sich im Zauberwald schlank behenden Weledamädchen annähert in üppig ornamentaler Eurythmie." Und Günther Wirth wollte nur die frühen, "weil von der abschwächenden Wirkung des Illustrativen" noch verschonten Blätter gelten lassen, neben denen es später "überaus heikle Stücke" gebe.

Da Finsterlin auch berechtigte Kritik nicht wahr haben mochte, hat er sich 1970 den Druck der "Erotischen Miniaturen" "Die Verwandlungen des Zeus" (Stuttgart: Conterra Verlag) nicht erspart, aber wohl auch mit Mißverständnissen gerechnet, wie die "Gedanken des Künstlers zu den 'Verwandlungen des Zeus'" ablesen lassen:

Eine Meinungsumfrage nach den amourösen Abenteuern Vater Zeus' dürfte heute weniger ergiebig sein, darum hier ein kleiner mythologischer Exkurs.
Ohne das Adelsdiplom göttlicher Atmosphäre liefe dieser Kunstband vielleicht Gefahr, in die Abwertung sodomitischer Pornographie abzurutschen.
Es ist also zu wissen, daß sich der griechische Göttervater gerne mit irdischen Frauen paarte, um Halbgötter zu zeugen, gleichsam als 'Entwicklungshelfer' der Menschheit. Warum er sich hierzu der Formen edler Tiere bediente, ist nur zu ahnen. Das Tier war im Weltmythos nicht immer Untermensch, im Gegenteil, es war der göttliche Vorfahr, mit größerer Gottes- und Schöpfernähe. Man denke an die Tiergötter Altasiens, Altägyptens, schon entmachteter in Hellas. Vor allem aber an den Tierkreis mit den symbolhaften Wirkkräften, die Zeus durch seine Tiergestalten auf seine Heroensöhne übertragen wollte.
Die große Kunst ist zu allen Zeiten von diesen Metamorphosen angeregt worden. Merkwürdig, daß die Dürftigkeit der göttlichen Maskengarderobe nicht schon früher Künstler angeregt hat, sie phantastisch zu erweitern, wie ich es in meinen "Verwandlungen des Zeus" versucht habe.
Kostproben aus diesem Werk bietet der vorliegende Kunstband.
Daß erotische Kunst und utopische Architektur keine zwei sich ausschließende Zweige des Finsterlinschen Gesamtwerks sind, ein vorzeigbarer und ein eher zu vernachlässigender, daß sie sich in der Wurzel sogar berühren, wollen Ausstellung und Katalog zeigen. Wobei Hermann Finsterlin dem Interessierten den Zugang zunächst eher erschwert. Denn den Vergleich mit hier einschlägigen Werken der Kunstgeschichte halten seine erotischen Metamorphosen *"Leda", "Leda, mal ganz anders", *"Pygmalion", *"Daphne und Apoll" (Abb.1), "Das goldne Vlies" oder eine rückseitig "Tantalus" (Abb.2) getitelte Miniatur nicht aus. (Exponate der Schömberger Ausstellung mit *Sternchen.) Und gelegentliche Uminterpretationen ("Daphne und Apoll", "Tantalus"), gar die phantastische Erweiterung der dürftigen, göttlichen Maskengarderobe gerieten eher schlicht.

Dennoch macht es Sinn, von diesem Buch und der gleichnamigen Ausstellung auszugehen, mit der Ergänzung, daß zum Nachlaß Finsterlins ein nicht näher zu datierender, von ihm selbst gestalteter, "Verwandlungen" getitelter Mappenumschlag gehört mit folgendem Inhaltsverzeichnis: *Pygmalion / Rivalen / *Drachenbraut (Abb.3) / Versuchung / *Architektonische Liebe / Endymion / Paar / Walpurgisritt / Annäherung / Der grüne Papagei / Schöpfung / Seestier. (Exponate der Schömberger Ausstellung mit *Sternchen).

Geht man von den - bei Finsterlin freilich immer problematischen Datierungen aus - faßt die Mappe der "Verwandlungen" Arbeiten um/nach 1920 zusammen, während die Publikation "Verwandlungen des Zeus" neben wenigen Beispielen aus den 20er, 30er, 40er Jahren überwiegend Miniaturen der 50er/60er Jahre abbildet. Das deutet zum einen ein lebenslanges Interesse Finsterlins an erotischer Zeichnung, erotischem Aquarell an, läßt zum anderen vermuten, daß ähnlich wie im Falle der utopischen Architekturen, deren Wiederentdeckung Finsterlin ja zu zahlreichen Varianten und Repliken anregte, auch im Falle der erotischen Zeichnungen und Aquarelle Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre eine vergleichbare Phase der Nachbildung und Neuproduktion einsetzt. Dabei sind die Druckvorlagen früherer Arbeiten für die "Verwandlungen des Zeus" in der Regel spätere Miniaturen, qualitativ meist schwächer als die Originale, und die neueren Arbeiten wegen ihrer Direktheit durchaus "heikel".

Pygmalion und Leda

Ich möchte das mit zwei Beispielen illustrieren, die auch auf der Ein-Abend-Ausstellung ausgestellt waren.

Zunächst mit "Pygmalion", einer von Finsterlin auf 1920 datierten, in jedem Fall frühen Arbeit, von der wir zwei Versionen zeigen können, eine große, die zur Mappe der "Verwandlungen" gehört (Abb.4), und eine Miniatur späteren Datums, die Reprovorlage für die "Verwandlungen des Zeus".

In den "Verwandlungen des Zeus" sind allen Abbildungen Gedichte zugeordnet, die die Abbildungen kommentieren, wie umgekehrt die Abbildungen die Gedichte illustrieren in einem Wechselspiel, das freilich nicht in jedem Fall glückt. Im Falle des "Pygmalion" lautet das Gedicht:

Wenn ich Pygmalion wäre,
Mein Mädel Belletrist,
Bei meines Meißels Ehre,
Ich ließ dich wie du bist -
Denn schöner zu gestalten
Als Dir's der Herr verlieh,
Vermöcht' selbst nicht der Alten
Begnadetstes Genie.
Dieses Gedicht findet sich nicht in der einzigen, zu Lebzeiten Finsterlins gedruckten umfassenden Gedichtauswahl, "Lieder des Pan" (1964), muß also als späterer Bildkommentar angesprochen werden. Ähnliches gilt für ein ebenfalls in den "Lieder[n] des Pan" noch nicht vorhandenes, der Miniatur "Leda, mal ganz anders" (dat. 1950) zugeschriebenes Gedicht:
Halt' Deinen Schnabel, holder Schwan!
Dein Liebesflüstern kann ich  s o  nicht hören!
Wenn Du mich willst als Gott betören,
Zieh' Dich nicht an!
Du brauchst mir gar nichts zu erzählen
Von dem Olymp und seiner Pracht!
Halt' Deinen Schnabel!
Tier und Gott vermählen
Sich stets in jeder Schwanennacht!
Dagegen enthalten die "Lieder des Pan" das erste der Leda-Gedichte:
Lade Leda nie zu Gaste,
Lieber, lieber faste, faste!
Vati Zeus längst alles ahnt,
Eh' es Dir ein bißchen "schwant".
Und zum andern, - kannst du wissen,
Ob du mit den Schwanenbissen
Dieses Gottes konkurrieren
Kannst, wie mit den andern Tieren?
Darum lade Leda nimmer
Ein, das tolle Frauenzimmer,
Eh du nicht, wenn's noch so bitter,
Bist ein wahrer Schwanenritter.
Die Anklänge der Buch- und Mappentitel an die "Metamorphoseon libri" des Publius Ovidius Naso, vielleicht auch noch an die "Metamorphoses" von Lucius Apuleius wecken Erwartungen, die sich nur bedingt erfüllen. Die mythologischen Reminiszenzen sind ein eher fadenscheiniges Kostüm. Und die Gedichte zeigen kaum noch Spuren jenes zufällig Unsinnigen und komisch Kosmischen, das  Finsterlins Gedichte zunächst auszeichnete und unverwechselbar machte. Der "Meißel", ebenso das "Schnabel halten" als Beispiele sind keine besonders gelungenen erotischen Metaphern, "schwanen" ein Sprachspiel, das durch die Hervorhebung bereits abgeschwächt ist, durch den Kontext reizlos wird, die Lohengrin-Anspielung des "Schwanenritters" läuft ins Leere und "Vati Zeus" ist peinlich. Hier gilt, was ich in "Hermann Finsterlin. Eine Annäherung" (künftig zitiert: Annäherung) und in "Dichtung als Spiel" ausführlicher gezeigt habe, daß sich im literarischen Werk seit Ende der 20er Jahre kaum etwas Neues getan, keine Entwicklung mehr stattgefunden hat, so daß, was hinzukam, Fortführung, allenfalls Ergänzung oder - musikalisch gesprochen - tema con variazione war.

Dennoch macht es Sinn, zunächst bei den genannten Aquarellen und Zeichnungen zu bleiben, um zu zeigen, daß ein Bildsujet wie Leda und der Schwan, vulgo: Paar bei seiner Vereinigung, im Finsterlinschen Werk immer wieder begegnet, gelegentlich ins Triviale fortgeführt oder hineinprojeziert und dergestalt nurmehr variiert wird.

Von den zwei mit 1950 datierten Leda-Miniaturen in den "Verwandlungen des Zeus" ist die zweite ("Verwandlungen [...], S. 28) "illustrativ" und in der Tat "heikel", was auch der zugeschriebene Text nicht rettet, die erste (Abb.5) Variante einer Figurenkonstellation, die in "Himmelfahrt" ("Verwandlungen [...], S. 22) oben mit 1921, unten mit 1926 deutlich zu früh datiert ist. Zu ihr gibt es weitere Varianten, darunter eine Bleistiftskizze auf Transparentpapier (Abb.6). Den Text zu "Himmelfahrt" vernachlässige ich, erwähne stattdessen, daß erste "Paar"-Darstellungen Finsterlins (Annäherung, S. 273, Abb. 187, 188) mit Sicherheit vordatiert sind, verweise auf die in unsere Ausstellung aufgenommene, "Finsterlin 22" datierte Miniatur und Reprovorlage "Paar" (Abb.7) und schließe den Überblick mit einer undatierten, in Blei-, Bunstift und Aquarell ausgeführten Miniatur neueren Datums, auf der dem Mann mit schwarzer Tusche Flügel appliziert und in die mit Bleistift als gedachter Titel "Der Schwanenritter" eingeschrieben wurden (Abb.8).

Zu diesen "Paar"- und "Leda"-Variationen gesellt sich aber - und auf sie ist besonders zu achten - eine "Leda" getitelte, "Finsterlin 1919" datierte frühe Entfaltung des Themas, die wegen der Pyramide im Hintergrund und der Komposition des Paares entschieden in die Nähe der utopischen Architekturen rückt (Abb.9). Dieser wohl als Reprovorlage gedachten Miniatur entspricht eine größere aufgezogene Arbeit im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart, die rechts unten "H. Finsterlin 1920" datiert und außerhalb links unten "Leda" gezeichnet ist (Annäherung, S. 273, Abb. 196).

Drei Hinweise

Bevor ich auf die Verbindung von erotischer Kunst und utopischer Architektur bei Hermann Finsterlin näher eingehe, sind drei Hinweise angebracht.

1. zur Arbeitsweise. Hier finden sich im Finsterlin-Nachlaß eine Reihe von Bleistiftskizzen auf Transparentpapier, wie schon genannt zu "Himmelfahrt" oder, für die Schönberger Fresken von 1957 bemerkenswert, eine "Ostara" (Abb.10), die vermuten lassen, daß Finsterlin sie zum Kopieren oder gar zum Durchpausen benutzte, was die Ähnlichkeit der Frauengestalten (der von Diemer ironisierten "schlank behenden Weledamädchen") der späteren erotischen Zeichnungen erklären könnte. Zusätzlich sind die Ostara- und eine ihr zugehörige Herakles-Skizze (Abb. 11) aber auch interessant im Vergleich mit zwei von uns bereits 1999 vorgestellten Miniaturen ("Hermann Finsterlin. Ein Werkquerschnitt", S. 10, Abb. 1, 2).

Bei früheren fast automatischen Farb- und Formnotationen, die er als Fundus seiner "Ereignisbilder" betrachtete, trieb Finsterlin durch Ausgrenzen, Nachzeichnen, Fortführen im Detail die jeweiligen Notationen in eine oft phantastische Gegenständlichkeit. Wobei Zuschriften am Blattrand oder auch im Blatt ablesen lassen, in welche Richtung Finsterlin die "Ereignisse" deutete. Bei den Beispielen unserer Ausstellung z.B. in Richtung "Carneval", "Walpurgisnacht", "Hexe", in Korrespondenz zu einer nachträglich mit Bleistift eingefügten, verkehrt auf ihrem Besen reitenden Hexe (Ausschnitt, Abb.12), oder zu einem "Märchen von der roten Schlange" (Ausschnitt, Abb.13)

Ein 2. Hinweis betrifft das Personal der erotischen Aquarelle und Zeichnungen, das sich vor allem aus den Mythen rekrutiert, aus den germanischen z.B. die "Ostara", aus den griechischen neben den schon genannten eine "Circe" mit dem Zusatz "Verzauberung"(Abb.14), aus den indischen Ganesha oder Shiva ("Shivaparade", Abb.15), oder aus biblischen Geschichten "Potiphar", "Judith", "Susanna", "Salome" (Abb.16). Schließlich läßt sich der "Hippogryphenhorst" (Abb.17) auch auf den Künstler zurückdeuten, der sich dann über das geflügelte Fabeltier der Renaissance-Dichtung als erotischer Dichter in das Maskenspiel seiner Kunst mit hineinnähme.

Der 3. Hinweis zielt auf die Vielschichtigkeit Finsterlinscher Bild- bzw. Kunstgegenstände. Die vorangehenden Ausstellungen und ihre Kataloge hatten bereits zu zeigen versucht, wie z.B. der Regenbogen im Finsterlinschen Gesamtwerk in unterschiedlichsten Funktionen begegnet, als Spielzeug (Abb.18), in der Freskenmalerei als 'Brücke' (Abb.19), aber auch in der erotischen Zeichnung als mythologische Anspielung ("Zeus paramythos", Abb.20). Entsprechend gibt es den Schwan in Verbindung mit Leda in Bild und Gedicht und als Spielzeug (Abb.21), gibt es die Schlange im "Schlangenbaum" (Abb.22) und im märchenhaften "Ereignisbild", trägt schließlich die Schnecke als "Moscheenschnecke" statt eines Hauses eine Moschee, also einen Sakralbau, auf ihrem Rücken (Abb.23), wird aber auch erotisch ausgedeutet (Abb.24) und steht dabei gar architektonisch Modell (Umschlag).

Architektonische Liebe und Fernsehturm

Eine Nachbarschaft von utopischer Architektur und erotischer Zeichnung, von erotischer Zeichnung als Architektur ist also kein Einzelfall und wird als "Architektonische[n] Liebe" exemplarisch thematisiert. Die Ausstellung zeigt sie in zwei Zuständen, als größeres, zur Mappe der "Verwandlungen" gehörendes, aufgezogenes Blatt (Abb.25), das rechts unten mit "H. Finsterlin 20" datiert, außerhalb links unten "Architektonische Liebe" unterschrieben ist, sowie als Miniatur und Reprovorlage, datiert "Finsterlin 19". Eine weitere Reprovorlage ist abgebildet in: Annäherung, S. 29, Abb. 14.

Wird im Fall der "Architektonische[n] Liebe" aus einem Liebesakt Architektur, wird beim "Fernsehturm" eine Architektur erotisch ausgedeutet. Hermann Finsterlin hat das Sujet 1920, und das ist zugleich das früheste gesicherte Datum, in einer zum Briefwechsel der "Gläsernen Kette" gehörenden Zeichnung (Abb.26) als "Lehrgebäude der Atlantischen" ausgewiesen und in der Folgezeit mehrfach variiert, als Element von Architekturlandschaft oder als selbständige Architektur (ohne Titel abgebildet z.B. in Lienemann/Weidner, S. [10], Abb. 31). Noch um 1950 hat Finsterlin, jetzt mit dem Titel "Fernsehturm", eine Variante in seine Rekonstruktion der ihm gewidmeten Sondernummer der Architekturzeitschrift "Wendigen" von 1924 eingefügt (in der Sondernummer war sie nicht abgebildet!) und mit 1919 datiert. 1923 ist der "Fernsehturm" kunsthandwerklich von der oder für die Firma "Wring & Wings" als Stickerei ausgeführt (Abb.27), auf der Leipziger Herbstmesse gezeigt und beachtet worden: "[Finsterlins] Entwürfe für Wollstickereien auf schwarzem Grund atmen [...] höchste, pointierteste Individualität. Sie entfalten ein Linien- und Farbenspiel von seltenem Schwung und ganz neuartigen Akzenten." Erhalten hat sich schließlich noch eine in unsere Ausstellung aufgenommene, mit Buntstift kolorierte Reprovorlage (Abb.28), die widersprüchlich links oben "Fernsehturm 1919", links unten "Finsterlin 20" datiert ist.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß die genannte Sondernummer der Zeitschrift "Wendigen" die "Architektonische Liebe" ganzseitig abbildete und erstmals den Essay "Casa Nova. (Zukunftsarchitektur). Formenspiel und Feinbau" veröffentlichte, der seine besondere Brisanz dadurch erfährt, daß Finsterlin einen seiner Architekturentwürfe als "Palazzo Casanova 1921" bezeichnet und auch im literarischen Werk auf Casanova Bezug genommen hat. (Dazu ausführlicher "Ein architektonisches Traumspiel". Annäherung, S. 82 ff.)

Daß Finsterlins "Architekturen" oder, wie sie bezeichnenderweise zunächst hießen, "Phantasien" auch erotische Projektionen sein konnten, wurde von einigen Zeitgenossen durchaus erkannt, von Yvan Goll z.B. kritisch gesehen, wenn er, mit Bezug auf die Abbildung der "Architektonische[n] Liebe" in "Wendingen", in einer "Bilan d'une génération" schreibt:

La larve, le crapaud, la bête, les voici à nouveau dans cette nouvelle crise de l'esprit qui suit la guerre: les rêves effarants d'Hermann Finsterlin [...], qui de visqueuses éjaculations rappelant les horreurs sous-marines ou celles des viscères ou celles des actes impurs de la bête, prétendent à dégager des gestes l'architecture; et une attitude chère à notre cœur; et aussi le Plan lui-même, qui est par essence la cristallisation de l'ordre géométrique, l'ordre, cette sommation de l'esprit. Perversion, dégringolade. Ou rêve? Oui, rêve affreux!
Anthropomorphe und anthropometrische Architektur

Nach den 20er Jahren scheint Finsterlins Wechselspiel zwischen erotischer Zeichnung und utopischer Architektur vice versa allerdings in Vergessenheit geraten zu sein, bis Udo Kultermann 1971 in eine geplante Untersuchung "über Architektur und den Körper des Menschen", über "anthro[po]morphische Architektur" auch die "früheren Arbeiten" Finsterlins einbeziehen wollte, "die Sie mir bei meinem Besuch in Stuttgart einmal gezeigt hatten: es waren Paarungen von Mann und Frau als figurative Motive für Bauten [...] Vielleicht erinnern Sie sich noch, daß wir schon damals von einer Publikation sprachen, die ich auch wieder und wieder versucht habe, die aber nie Erfolg hatte. Vielleicht gelingt es jetzt." (Brief vom 18.3.1971).

Kultermann hat diese Untersuchung nicht geschrieben. Aber "Körperbilder in der Architektur" mit Berücksichtigung der einschlägigen Arbeiten Finsterlins gehören inzwischen zum universitären Lehrangebot, z.B. im Wintersemester 1998/1999 in einem kunstgeschichtlichen Seminar (Leitung: Christina Threuter) der Universität Trier:

Vorstellungen und Bilder vom menschlichen Körper haben in der Geschichte der Kunst nicht nur in Plastik oder Malerei Eingang gefunden, sondern auch in die Architektur. [...] Bilder vom männlichen und weiblichen Körper begegnen, uns in der Architekturgeschichte in sehr vielfältiger Weise [...] auch in der Sexualisierung und Biologisierung von Architektur (das Haus als erotischer, kranker oder auch gesunder Körper, das Haus als Körperhülle, das Gebäude als Organ). Darüber hinaus finden anthropometrische Vorstellungen Eingang in die formale Gestaltung von Architektur [...]. Ziel dieses Seminars ist es, den unterschiedlichen anthropometrischen Vorstellungen in der Architektur anhand herausragender Beispiele nachzugehen. Darunter [...] Vitruvs Ausführungen, Bauten bzw. Entwürfe und Schriften von Le Corbusier, Friedrich Kiesler, Bruno Taut, Hermann Finsterlin, Claude Nicolas Ledoux, Sir John Soane, Max Ernst, Francesco di Giorgio Martini.
Daß unter den im Seminar behandelten Entwürfen und Schriften auch ein bisher unveröffentlichter "Erotophilosophische[r] Essay", "Das höchste Lied", der erste größere Prosaversuch Finsterlins, behandelt wurde, ist unwahrscheinlich. Werkgeschichtlich steht diese das "Hohe Lied" in den Superlativ steigernde Prosa in unmittelbarer Nähe zu 1916 entstandenen "erotischen Malereien und Plastiken" (Lienemann/Weidner, S. [3]). Biographisch lassen sich beide auf Finsterlins Liebe zu und Eheschließung mit Helene Kratz (15. Januar 1916) beziehen.

Das höchste Lied

Es ist nicht mit Sicherheit auszumachen, wann das Ehepaar Finsterlin endgültig nach Berchtesgaden übersiedelte. Aber die Parallele zwischen der von Finsterlin immer wieder aufgesuchten Zivilisationsferne und Bergeinsamkeit der Schönau und dem locus amoenus der erotischen Idylle des "Höchsten Liedes" ist nicht zu übersehen:

Im thaugrünen Tal von Posilipo lebte ein Paar. Sie standen in der Blüte der Jahre und mochten ziemlich gleichaltrig sein: man hätte sie für Zwillinge halten können. Niemand kümmerte sich um die Beiden, die freundlich waren zu jedermann, der zufällig sein Schritt in die Einsamkeit führte, aber die dennoch eine so restlose Geschlossenheit zur Schau trugen, daß man ihnen die Bedürfnislosigkeit nach menschlichem Verkehr von vornherein ansah. Wenn man ihre Wohnstätte betrat, so vermißte man vor allem jedes Zeugnis der gepriesenen Kultur.
Das als "Kultur" "Gepriesene" ist in Finsterlins Wortverständnis Zivilisation, von der sich die wahre Kultur grundsätzlich unterscheide. Entsprechend ist ein einleitendes Zerrbild der Zivilisation denn auch die Negativfolie, vor der sich die erotische Idylle entfaltet. Diesem zivilisatorischen Zerrbild gegenüber steht "ein ergrünendes Vale, an dessen einer Flanke wie erwachsen aus dem Stein ein krystallartiger Würfel ragt, die Wohnstätte [Hervorhebung R.D.] dieser beiden seligsten Menschen dieses Jahrhunderts". Diese Wohnstätte, bar zivilisatorischer Produkte, "diese Anspruchslosigkeit bei so ersichtlicher höchster Kulturstufe des Paares" sei ganz nur zu verstehen,- wenn man "das abendliche Gemach [Hervorhebung R.D.] hätte betreten können, oder die kleine mondumgossene Wildnis [Hervorhebung R.D.] um das Tusculum, denn vor dem Heiligenbilde dieser, in göttlicher Volliebe elfenhaft spielenden und unendlich sich einigenden und wieder lassenden beweglichen Körper wäre jeder noch so kulturelle Gegenstand zum grotesken Schemen verschrumpft".

"Abendliches Gemach", "kleine mondumgossene Wildnis" ergänzen sich schließlich noch um "eine verborgene, fast unzugängliche Grotte [Hervorhebung R.D.] unweit ihrer Hausung; von unten blinzelte verstohlen ein Meerauge herein, und warf den ganzen wohlig dämmerigen Raum voll blau geheimnisvollen Lichtes, auf dessen transparenten Tapeten ein fascinierendes Kringelmuster verwandelter Sonne aufgeregt und aufregend spielte."

Was Finsterlin sagen will, aber in der Verkleidung des Erotikons nur bedingt zu leisten vermag, ist die Ausfaltung seiner Überzeugung, daß das "ganze körperliche Leben" der beiden Liebenden, die er bezeichnenderweise Adam und Eva nennt, "nur ein kosmische Symbol" sei, "nur ein fabelhaft compliziertes verfeinertes Kreisen zweier organischer Pole um die Achse dieses urewig menschlich-göttlichen Idols; das waren keine beschränkten menschlichen Glieder mehr, die da in entzückend wechselnden Formen [...] um einen Mittelpunkt spielten, - das waren fleischgewordene polare Kräfte, das waren zwei zerschmelzende Weltkörper, die [...] der Idealkugel sich entgegenbildeten."

Architektur und Eros / Finsterlin und Gaudí

Damit aber weist dieser panerotische Entwurf deutlich auf einen Teil der Architekturzeichnungen wie zahlreiche erotische Aquarelle der folgenden Jahre voraus, wird er zum Schlüssel für die anthropomorphen Architekturen Finsterlins an der Grenze zur erotischen Zeichnung und umgekehrt. Von ihm aus wird Finsterlins Auffassung, alle große Architektur sei ein Akt der Liebe, verständlich, wird verständlich, was Finsterlin, als ihm die künstlerische Sublimierung von Liebe und Architektur längst nicht mehr gelingen wollte, immer noch träumte und stellvertretend in den Architekturen Gaudis gespiegelt sah: eine Verbindung von Architektur und Eros.

Auf diesen "menschlichen Aspekt" läuft denn auch ein nur in spanischer Übersetzung zugängliches Selbstgespräch von 1967, "Gaudi y Yo", hinaus, wenn es schließt: "Igual al Tatsch Mahal la Sagrada Familia no era una Casa para el Diós, sinó una Casa para la Diosa, su diosa, su amor divino e infeliz. Pues tales catedrales construye solamente un corazón en resesperación gigantesca ó en extasis dionisica."