Jürgen Joedicke: Das Bild der zwanziger Jahre,

wie es sich bisher in den Köpfen der Architekturhistoriker und Kritiker malte, war höchst einseitig und bezog sich Grunde nur auf Erscheinungen der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre: es bezog sich vor allem auf eine an einfachen geometrischen Leitbildern, wie Kubus, Quader und Zylinder, orientierte Architekturauffassung. Was zuvor, Anfang der zwanziger Jahre, geschah, blieb unbekannt. Erst in letzter Zeit hat sich ein Wandel vollzogen: Ausstellungen, wie diejenige über die "Gläserne Kette" in Leverkusen und Berlin, Publikationen, wie die Veröffentlichung der Zeitschrift "Frühlicht" oder wie die Monografie über Hugo Häring haben dazu beigetragen, die Vorstellungen von jener unmittelbaren Nachkriegszeit zu vertiefen oder zu revidieren.

An Bauten ist in jener Zeit wenig oder nichts entstanden. Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ließen eine normale Bautätigkeit nicht zu. Was sich damals an Energien, Vorstellungen und Wünschen angestaut hatte, entlud sich in Manifesten, Programmen und utopischen Entwürfen.

Bruno Taut träumte davon, die Berggipfel der Alpen mit Glaskuppeln zu bekrönen, Walter Gropius entwarf die romantische Vision einer Zukunftskathedrale, die Architekten und Künstler zu gemeinsamem Tun vereinigen sollte.

Erster Ausdruck dieser utopischen, die Wirklichkeit übergreifenden Architekturideen war eine Ausstellung von unbekannten Architekten, die 1919 stattfand und vom Arbeitsrat für Kunst veranstaltet wurde: Auf dieser Ausstellung war auch Hermann Finsterlin mit Architekturzeichnungen vertreten. Sie erregten Aufsehen und wurden weithin diskutiert. Die Zeitschrift "Wendingen" widmete ihm ein Sonderheft.

Als Ende 1919 Bruno Taut eine Reihe von Architekten und Künstlern aufforderte, ihre Ideen in einem gemeinsamen Briefwechsel niederzulegen, gehörte wiederum Finsterlin zum Kreis der Auserwählten. Die Gläserne Kette, wie dieser sich über ein Jahr hinziehende Briefwechsel genannt wird, vereinigt Karl Krayl, Paul Goesch, Hans Scharoun, Jakobus Göttel, Hans Hansen, August Hablik, Bruno und Max Taut, Wilhelm Bruckmann, Hermann Finsterlin und Wassily und Hans Luckhardt.

Es ist leicht, jene Periode vom rationalistischen Kalkül aus zu kritisieren - ihnen Überschwang, ihre die Grenzen der baulichen Realität überschreitende Phantastik und ihren Glauben an die weltverändernde Kraft von Ideen. Aber man übersieht bei einer solchen Beurteilung, daß unsere Welt ohne jene Träumer und Phantasten um vieles ärmer wäre; und daß vielleicht auch das alle Grenzen Überspringende konzipiert werden muß, um das Mögliche und Zuträgliche zu erreichen. Wie sehr eine solche Interpretation mit der Realität übereinstimmen kann, zeigt gerade das Beispiel der zwanziger Jahre. Jene Architekten, die sich, wie Walter Gropius, die Gebrüder Taut und Luckhardt und Hans Scharoun, Anfang der zwanziger Jahre in utopischen Entwürfen ergingen, fanden später, als konkrete Aufgaben an sie herantraten, zu realitätsbezogenen Formen des Wohnungs- und Siedlungsbaues.

Hermann Finsterlin hat nicht das Glück gehabt, zu bauen. Er blieb ein Außenseiter, ein "reiner Tor", der in immer neuen Varianten seine Vorstellungen auszudrücken versuchte. Seine Architekturzeichnungen sind Dokumente einer Aufbruchsstimmung; - einer Bewegung, die längst zu neuen Ufern geführt hat.

Wie seine Zeit blieb auch Finsterlin vergessen, bis er in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde. Es fanden verschiedene Ausstellungen statt und Nikolaus Pevsner analysierte in der Architectural Review in einem längeren Artikel seine Arbeiten.

Die Wirkung, die er heute auf jüngere Architekten ausübt, beruht gewiß nicht auf dem Mißverständnis, daß seine Architekturvisionen kopierbar seien. Vielmehr spüren gerade die Jüngeren in seinen Zeichnungen eine Aufforderung, die Grenzen ihrer Erfahrung zu erweitern und bei allem notwendigen unabdingbaren Eindringen in die komplexe Problematik heutigen Planens und Bauens die Phantasie nicht zu vergessen.

Diese Ausstellung verdankt ihre Entstehung der Initiative von Knut Lienemann und HPC Weidner, zweier Studenten, die sich in einer Seminararbeit im Fach "Entwicklungslinien der Modernen Architektur" mit Finsterlins Leben und Werk beschäftigt hoben. Ihnen und der Fachschaft für Architektur an der Architekturabteilung der Technischen Hochschule Stuttgart sei deshalb für die Mühe und Sorgfalt, mit der sie diese Ausstellung vorbereitet haben, herzlich gedankt.