Alfred Nasarke: Kunst des Sehens.
Glaspalast auf Schloß Morsbroich geöffnet

1915 sagte Herwarth Walden am Grabe Paul Scheerbarts: "Paul Scheerbart hatte den Glaspalast. Ich habe ihn gesehen und noch ein paar Menschen, an deren Glaubwürdigkeit nicht zu zweifeln ist. Freilich, Leute, die an dem Glauben zweifeln, sind nicht würdig, den Glaspalast zu sehen. Deshalb haben ihn auch wenige gesehen, und die Kurzsichtigen schon lange nicht."

Dieser Glaspalast Scheerbarts ist ab heute im Schloß Morsbroich zu besichtigen. Er ist wirklich zu sehen, sein und seiner Genossen Glaspalast.

Diese Genossen, Weggefährten und Brüder im Geiste heißen Bruno und Max Taut, Wassily und Hans Luckhardt, Hans Scharoun, Wenzel August Hablik, Karl Krayl, Hermann Finsterlin und Paul Goesch. Sie schlossen sich 1919, im selben Jahr, als das "Bauhaus" gegründet wurde, zur "Gläsernen Kette" zusammen. Diese "Gläserne Kette also versuchte, Scheerbarts literarische Visionen in Architektur umzusetzen (oder umgekehrt kann man es auch ansehen). Berührungspunkte zum "Bauhaus" gab es auch. Das "Bauhaus" sah als Ideal die Zukunftskathedrale an, die "Gläserne Kette" nannte ihre Kathedrale - Volkshaus. Beide Architektengruppen strebten die Teamarbeit an, die Manifestation aller Kunstarten in einem Baudokument. Die Architektur als Überkunst, mindestens als Kristallisationstaum der Künste.

Berühmte Leute

Das "Bauhaus" wurde und ist berühmt bis heute. Die "Gläserne Kette" fiel der Vergessenheit anheim. Nicht aber die Architekten dieser Gruppe. Sie bauten und bauen heute immer noch. Freilich nicht alle. Wassily Luckhardt, heute 74, baut beispielsweise jetzt in Bremen das Parlamentsgebäude. Hermann Finstetlin, 76, der gestern in Leverkusen zu Gast war, hat noch nichts gebaut. "Das wäre die Krönung meines Lebens", sagte er. Er sieht die Baukunst als organische Entwicklung an, als Entwicklung zum Organischen, Körperhaften. Seine Bauten wachsen aus der Landschaft und entfalten sich wie Blüten. (Zur Zeit verhandelt er mit Amerikanern; vielleicht sein Traum wahr.)

Ins Gespräch kommen

Die ganze Gruppe war, wie Architekt Oswald Mathias Ungers aus Köln, der zusammen mit Dr. Udo Kultermann Ausstellung und den (außerordentlich instruktiven) Katalog zusammenstellte, gestern auf eine direkte Frage zugab, etwas links. Die Mannen der Gläsernen Kette wollten mit den Arbeitern ins Gespräch kommen. Sie bauten 1919 in Berlin die erste Ausstellung auf. Eine Ausstellung arbeitsloser Architekten für die Arbeiter. 1920 gingen sie mit ihren Arbeiten sogar in die Vorortkneipen. Mit den Arbeitern ins Gespräch kommen - das wollten sie. Nun, das ging schief. Und das Volkshaus,ihr höchstes Ideal, wurde nicht gebaut.

Auch Habliks Welttaumarchitektur wurde bisher nicht gebaut. Aber so weit davon entfernt wie 1919 sind wir heute nicht mehr von ihr. Und wenn man Wassily Luckhardts Skizzen seines visionären Baus sieht, den er "An die Freude" nennt, dann muß man an Kap Canaveral denken. Nun nicht unbedingt an die Freude.

Meint Dr. Udo Kulterman, Hausherr auf Schloß Morsbroich: Die schöpferischen Befruchtungen für heute aus dem Potential von 1920 sind nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig. Und: Wer sagt, daß das scheinbar Skurrile keinen Realitätswert hat. Vieles, was wir als normal ansehen, ist in Wirklichkeit skurril oder abstrus. Etwa der soziale Wohnungsbau.

Kurzum: Das Schloß hat den Glaspalast geöffnet. Für jeden, der sehen kann und will.

[Kölner Stadt.Anzeiger / Ausgabe Leverkusen, 27./28.7.1963]