Reinhard Döhl | Yvan Goll: Dichtungen
Herausgegeben von Claire Goll. Hermann Luchterhand-Verlag, Darmstadt/Berlin/Neuwied. 838 S., Ln., DM 48.-

In der Einleitung zur Neuausgabe der "Menschheitsdämmerung" bemerkt Kurt Pinthus, es werde in der gegenwärtigen Lyrik viel gebennt, getraklt und gegollt. Doch während sich die wissenschaftlichen Publikationen, Dissertationen und sonstigen Versuche über Benn und Trakl in Deutschland mehren, war das Werk Yvan Golls fast in Vergessenheit geraten. Nicht allerdings im Ausland. Eine oberflächliche Bibliographie weist zum Beispiel 19 ausländische Titel gegenüber nur einem deutschen nach. Um so dankenswerter ist die [...] Ausgabe der "Dichtungen" Yvan Golls im Hermann Luchterhand Verlag (dem der Leser schon die beiden großen Expressionismusanthologien für Drama und Prosa verdankt). Diese Dichtungen beinhalten eine große Auswahl verstreuter, oft längst nicht mehr zugänglicher oder gar ungedruckter Texte Yvan Golls. Sie sind zweisprachig wiedergegeben, wo das Original französisch ist. - Yvan Goll war - wie auch der ihm befreundete Hans Arp - als Elsässer zweisprachig aufgewachsen und vermochte so seine Texte in zwei Sprachen zu schreiben. Für eine künftige Literaturwissenschaft wird hierbei die Frage zu stellen sein, wieweit die Kenntnis der einen Sprache sich auf die anderssprachigen Texte auswirkt und umgekehrt.

Die von Claire Goll betreute Ausgabe enthält ferner die schon erwähnte Bibliographie (die vollständiger sein könnte), ein dem Germanisten nützliches und für ihn erfreuliches Quellenverzeichnis sowie zwei Nachworte; von Helmut Uhlig: "Yvan Golls Werk bis 1930" und von Richard Exner: "Yvan Golls Werk seit 1930". Diese Trennung ist, wie Richard Exner richtig einschränkt, ein wenig willkürlich; doch zeitigt sie Ergebnisse für den Ansatz einer Interpretation, wie beide Nachworte auch Wesentliches zu einem späteren Gollverständnis beitragen. Bedauerlich scheint dem Kritiker, daß die Ausgabe der "Dichtungen" unvollständig ist. Um zum Beispiel die Fassungen des "Panama-Kanals" lesen zu können, dessen erste Fassung noch unter dem Pseudonym Iwan Lassang 1912 bei Richard Meyer in Berlin erschien, ist man weiterhin auf die Neuausgabe der "Menschheitsdämmerung" und andere Quellen angewiesen. Auch scheint die Wahl der einzelnen Fassungen, ihre Auswahl nicht immer glücklich, nicht zuletzt, weil der Entwicklungsprozeß der Formulierungen, der für die Poetik Golls von ausschlaggebender Bedeutung ist, so nicht einsichtig wird. Es ist dabei mehr als nur eine germanistische Neugierde, die Verhärtung eines Bildes, einer Metapher oder einer Fügung aus einem mythisch-verwaschenen oder einem anderen Ursprung verfolgen zu wollen. Erfreulich ist dagegen das Einfügen von Briefstellen zu einzelnen Themen (zu "Johann Ohneland" vom 6., 7. März 1934 und vom 11. März 1936 z.B.), zu einzelnen Gedichten (zur "Ode an die Amsel") u.a.; erfreulich auch der Abdruck theoretischer Äußerungen ("Manifest des Surrealismus", "Es gibt kein Drama mehr", "Überrealismus"). Nun war Yvan Goll alles andere als ein Theoretiker. So versteht sich das Entstehen dieser Äußerungen auch nur in Auseinandersetzungen seines Dichtens mit anderer Dichtung. Doch lassen die Ergebnisse mehr als nur biographisch Aufschlußreiches erkennen.

Zur Frage des Surrealismus bei Goll äußert sich Richard Exner für eine weitere Forschung entscheidend, indem er feststellt, daß es sich bei dem Gollschen Surrealismus nicht um einen Suirrealismus im Sinne Bretons handle. Wesentlich ist ferner die Formulierung des "Überrealismus" durch Goll als "stärkste Negierung des Realismus". Da steckt mehr dahinter, als die Überlegung, daß gegenwärtige Kunst ästhetische Negation des Bürgerlichen (und seiner Realität) sei, mehr auch, als Yvan Goll ausdrücklich sagt, weil "Überrealismus" auch jenes einschließt, was Francis Ponge später "Textrealität" nennt, was besagt, daß Dichtung, um nicht vorzugeben, Abbild der Wirklichkeit zu sein, erst einmal ihre eigene Realität erreichen müsse, diejenige der Texte. "Die Wirklichkeit des Scheins wird entlarvt zugunsten der Wahrheit des Seins", sagt Yvan Goll, wobei unter Wahrheit nicht die Wahrheitsmöglichkeit eines Wittgensteinschen Atomsatzes verstanden wird; im Gegenteil setzt Goll eine "dramatische Alogik" in Szene, die "die mathematische Logik und selbst die Dialektik in ihrer tiefsten innerlichsten Verlogenheit treffen" soll.

Der Kritiker muß zugeben, daß ihm diese Stelle mehr als fraglich bleibt, wie ihm andererseits unmittelbar einleuchtet, daß eben dieselbe "dramatische Alogik" "alle unsere Alltagssätze lächerlich machen" soll, indem sie nämlichen den semantischen Unsinn der umgangssprachlichen Phrasen demaskiert und als solchen gnadenlos bloßstellt ("Der Ungestorbene"). Demaskierend in einer tendenziös-kritschen Absicht (der im Frühwerk Golls - neben der artistisch-ästhetischen - zweiten Möglichkeit; das artistisch-ästhetische wird im Verlauf der dichterischen Entwicklung dann allerdings dominierend ist auch die bitter-ironische Entlarvung einer sinnentleerten und entfremdeten Welt des Bourgeois: "A bas le bourgeois". Das ist dramatische zwischen Ubu Roi und Tradieus bzw. Ionescos Stücken einzuordnen. "Und der Tod ist der letzte Kitzel, der unsere Langeweile noch etwas bemeistern kann." Es ist äußerst bedauerlich, daß kein deutsches Theater den Versuch einer erneuten, überhaupt einer Uraufführung unternimmt, zumal das dramatische Werk Yvan Golls durchaus mehr als nur historische interessant scheint. Außer mit Arp war Goll zeitweilig auch mit James Joyce in näherer Berührung, arbeitete sogar mit ihm zusammen. Es ist hier Richard Exners Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, daß die Joycesche stream-of-consciousness-Methode ihren Niederschlag (wir fügen hinzu: wenigstens) in den Gedichten der Sammlung "Traumkraut gefunden hat. Doch ist die Bereitschaft, sich dieser Technik zu bedienen, in den frühen Gedichten in Folge der "Alcools" des von Goll verehrten Apollinaire wie in der eigentümlichen Prosa schon vorbereitet.

Yvan Goll, der - wenn man so will - dem Ich seiner Texte verschiedene Masken aufsetzen konnte: "Hiob", "Johann Ohneland" u.a., entwickelt im Verlaufe seiner Heimatlosigkeit (in der und aus der heraus sich viele Bauelemente der Textrealität: das Wasser, das Fließende, die Asche usw., begreifen lassen) eine nur ihm eigentümliche Art der Liebeslyrik, die man grob als den Dialog eines Ich für ein Du bezeichnen könnte, so, daß in "Zehntausend Morgenröten" beide Partner zur Sprache kommen (gegensätzlich zum Beispiel zu dem in seinen ersten Veröffentlichungen von Goll beeinflußten Paul Celan, der, an ein Du adressiert, monologisiert) *). Golls Leben ist bestimmt durch seine Heimatlosigkeit (Metz, Straßburg, Zürich, Paris, New York, Paris sind ihre Stationen), die als Erfahrung rein in Sprache eingeht, um so reine Erfahrung zu werden: Johann Ohnelands lyrische Landnahme. Autobiographisch notierte Goll für die "Menschheitsdämmerung": "Yvan Goll hat keine Heimat, durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet". So war er auch - wie kaum einer - dazu bestimmt, immer wieder neue Strömungen in sich aufzunehmen und - das ist bezeichnend - auf sie zurückzuwirken. Sein Werk selbst jedoch bleibt für die Germanistik weiterhin zu entdecken. Der erste Schritt aber dieser Inbesitznahme ist die Ausgabe der "Dichtungen" im Hermann Luchterhand Verlag, dem dafür zu danken ist mit der Bitte, bei einer Neuauflage die störenden Lücken zu füllen. **)

[notizen. Jg 5, Nr 29, November 1960, S. 18]


*) Vgl. Von poetischem Unsinn zum Widersinn. Einige Vermutungen zur Lyrik Paul Celans [1960, unveröffentlicht]. Daß Celan dabei Goll nicht plagiiert, wie die Herausgeberin aaO. behauptet hat, habe ich dargestellt in: Geschichte und Kritik eines Angriffs. Zu den Behauptungen gegen Paul Celan [1960/61].
**) Zu den editorischen Mängeln vgl. Döhl: Deutsche Herausgebersitten - Einige notwendige Angaben zur Ausgabe der "Dichtungen" Yvan Golls [1961].