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Reinhard Döhl | Lyrik nach 1945 (2). Helmut Heißenbüttel *)
Die Welt ist alles. was der Fall ist.
Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik.
(Ludwig Wittgenstein)
Es gibt mich (es gibt ALLES WOVON ICH REDEN KANN) weil ich aus dem Zirkel des MIT HILFE VON heraustrete und mich über die Fiktion hinwegsetze und rede ALS OB NICHT. Ich rede ALS OB NICHT weil die Rede die ich rede ALS OB redet.
Ich rede wenn ich rede in einer Sprache die meiner Rede fremd ist. Meine Rede ist der Sprache die ich rede UNEIGENTLICH. Redend ist der Sprache die der Rede fremd geworden ist wird diese Sprache ANDERS. Redend in der SPRACHE die dessen Rede sich MACHR macht die Rede die Sprache des Redenden zur ANDEREN SPRACHE die dessen Rede nicht mehr fremd ist.
(Helmut Heißenbüttel)
Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt und in der literarischen Diskussion selten erwähnt, legte der heute neununddreißigjährige Helmut Heißenbüttel in den Jahren 1954 bis 1958 drei schmale Bändchen vor, die inzwischen (zum Teil nach der zweiten Auflage) allesamt vergriffen sind (1). Helmut Heißenbüttels Texte, von ihm selbst als "formelhafte Destillate der Erfahrung und des Gedankens, Bruchstücke am Rande des Verstummens" bezeichnet, sind dabei bisher in den wenigsten Fällen in ihrer literarischen Bedeutung (an)erkannt worden. Eine Ausnahme bildet die dem ersten Gedichtband angefügte Nachbemerkung Hermann Kasacks, in der dieser aufklärt: "Als ich seine [Heißenbüttels, R.D.] Verse [...] im Manuskript las, fiel mir die Entschiedenheit auf, mit der hier ein neuer, eigenwilliger Weg verfolgt wird. Es ist natürlich leicht, über diese Bemühungen achselzuckend hinwegzugehen oder sie als unfruchtbare Experimente abzutun. Zweifellos unternimmt Heißenbüttel einen Ausflug in eine terra incognita [...]. Wenn es aber eine Flucht aus der Zeit ist, dann eine Flucht nach vorn." Die Literaturkritik allerdings ging hier einmal mehr über von ihr soverstandene "Experimente" achselzuckend hinweg zur Tagesordnung über.

Helmut Heißenbüttel wurde am 21.6.1921 in Rüstringen bei Wilhelmshaven geboren. Seit 1959 leitet er am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart die Redaktion "Radio-Essay". So unwesentlich im allgemeinen die Biografie eines Autors zum Verständnis seiner Texte ist (entgegen der Unbelehrbarkeit der Literaturkritik und Psychologie), so auffallend ist aber auch, daß Helmut Heißenbüttel zweimal eine Art Autobiographie vorlegte: den "Report 1953" und das "Stenogramm 1954". Für den Zusammenhang ist zunächst das "Stenogramm" von Bedeutung. Es lautet:

Kein Beruf. Verheiratet. Amputation des linken Armes (1941 Rußland]und Lebensunterhalt durch Kriegsversehrtenrente. Studium (versucht): Architektur. Studium (durchgeführt): Deutsch und Kunstgeschichte. Erinnerung an verschiedene Städte: Wilhelmshaven (1921 bis 1932), Papenburg (ab 1933), Krefeld (als Soldat), Dresden und Leipzig (bis 1945), Hamburg (nach 1945). Schreibend seit dem 15. Lebensjahr, unregelmäßig. Frühe Einflüsse: Strindberg und George. Einfluß durch Abwehr: Rilke. Als Lehrer zu bezeichnen: Kassner, Ernst Jünger, Rudolf Borchardt, Adorno und Witgenstein. Spätere Einflüsse: Benn, Pound, Arp, Brecht. Lieblingslektüre: Bilder von Klee und Picasso; Tristram Shandy, Lichtenberg, Flaubert, Faulkner und Kino.
Man kann diese sachliche Bestandsaufnahme ohne Frage zur Interpretation heranziehen, wie auch den Report 1953; es wäre falsch. Man kann sie aber auch als Ausdruck dessen verstehen, was Helmut Heißenbüttel gesprächsweise das "ausschließlich Subjektive des Gedichts" nannte, eben so, daß die eigene und nur die eigene Erfahrung in Sprache eingeht. Helmut Heißenbüttels Texte verbergen dies nicht:
Gegen Morgen sah ich Lore in einem weißen Kleid
hinter einem Geranienfenster auf mich warten
(und es ist das erste Mal seit 3 Jahren daß ich von ihr geträumt habe)
Diese erinnerte Erfahrung, die hier in Sprache eingegangen ist, erweist sich im Folgenden sogleich als reine Erfahrung, wenn Helmut Heißenbüttel fortfährt:
The trunk is open
and her things are lying around everywhere just as before.
In bed under the blankets
how good to feel her body again.
wobei es sich darüber hinaus um ein Zitat (Henry Miller) handelt; wodurch die erinnerte "spezielle Situation" eindeutig zu einer allgemeingültigen wird in der eigengesetzlichen Ordnung des Gesamttextes. Es ist also die "Situation, meine Situation, meine spezielle Situation", die formuliert wird. Das bedeutet aber: das Aufreißen der Wirklichkeit zu einer neuen Wirklichkeit, die in der Formulierung in Ordnung gebracht wird, bzw. sich selbst ordnet; dies um so mehr, als sich die ursprüngliche Wirklichkeit als Unordnung erweist:
schreckliche Erinnerungen gehen mit leeren Händen umher
im Frauenfunk wird Nietzsche widerlegt
Adolf Hitler ist eine Figur von Michaux
Aus der "Perspektive der übereinandergestapelten Erinnerungen" werden Worte, Schlagwörter, Ausdrücke, Sätze genommen und in einem Gedicht als Bestandteile eingeordnet. "Rekapitulierbares dies ist mein Thema"; aber es ist "Erinnerung an das Unwiederholbare"; Rekapitulierbares das dennoch "nicht Rekapitulierbares" ist.

Ein so mit der Sprache gemachter Text ist nicht mehr Abbild der Wirklichkeit. Er stellt das Ergebnis eines "ästhetischen" Prozesses dar, "der das Unwahrscheinliche, das Ungewohnte. das Überraschende differenziert" (2). Zu seiner Wirklichkeit äußerte sich Francis Ponge: "Damit ein Text in keiner Weise vorgeben kann, Rechenschaft von einer Realität der konkreten (oder spirituellen) Welt zu geben, muß er zunächst die Realität seiner eigenen Welt erreichen. diejenige der Texte" (3). Wenn Hermann Kasack also von einem Ausflug in eine "terra incognita" sprach, so ergibt diese sich jetzt als eine in der Eigenwelt der Texte mit Sprache hergestellte Wirklichkeit. Und nur sie ist zunächst von Bedeutung. Dazu ein Zitat aus der "Kombination VI":

Das Wort Zufall hat keinen Inhalt
Und die Grundfigur der Handlungsabläufe
ist immer dieselbe.
Reduktion auf die Variation eines Modells.
Und das Modell ist eine Kombination von Tätigkeitswörtern.
Mit der Sprache und nicht in der Sprache wird mit Hilfe des Intellekts die "terra incognita" entworfen, jedoch mit einer an anderer Stelle gemachten Einschränkung: "alles ist anders als seine Hypothese". Wesentliche Worte der zitierten Textstelle sind "Reduktion", "Variation", "Modell", "Kombination", "Zufall". Sie sind sowohl bei der Herstellung dieser Texte von Bedeutung gewesen, wie sie auch zum Verständnis dienen. Darüber hinaus bezeichnet Helmut Heißenbüttel seine Texte als "Landschaft der Wörter":
Die Landschaft der Wörter zeigt Kombinationen
die der Erfindung entzogen sind.
Nun ist das Landschaftsgedicht der Naturlyrik trotz aller restaurativen Bemühungen zum Beispiel Wilhelm Lehmanns oder auch Heinz Pionteks, des gesamten sogenannten "magischen Realismus" ein totgeborenes Kind der modernen Lyrik. Und die Neuformulierung von Landschaft als "Landschaft der Wörter" ist "Topographie" einer "terra incognita". Auch handelt es sich ohne Zweifel dabei um eine neue, weiterführende Formulierung: ein lyrisches Ereignis.

Mit Sicherheit läßt sich die "Landschaft der Wörter" als eine "abstrakte Landschaft" begreifen und als Parallelfall zu einer Möglichkeit abstrakter Malerei bezeichnen (4). Das wird von Helmut Heißenbüttel fast wörtlich ausgesprochen: "Landschaften die ich gefärbt habe und Landschaften die ich nicht gefärbt habe"; und an anderer Stelle:

Gruppen von Gruppen bewegen sich über leere Flächen
Gruppen von Gruppen bewegen sich über reine Farben.
Wesentlicher Bestandteil dieser Landschaft sind die "Perspektive", das "Gerüst", die "Geometrie" (so wörtlich in dem Gedicht "Fensterinhalte":
die Geometrie der senkrecht verstellten Hinterhauswände,
oder in einem der "Fenstergedicht für Yamin":
das Gesicht ist gefleckt mit den geometrischen Blüten der Nacht. (5)
Das Fenster vermittelt dabei eine ein geometrisches, bzw. perspektivisches Erlebnis, wird in der "abstrakten Landschaft" zu einem geometrischen Modell.

Wenn von Geometrie die Rede ist, kann, so sollte man meinen, nicht Dichtung gemeint sein. Und doch besteht dort ein kaum beachteter, nichtsdestoweniger wesentlicher Zusammenhang. Die Veröffentlichungen Lobatschewskis 1826-29 und J. Bolyais 1833 zur hyperbolischen Geometrie bedeuten nämlich eine der größten Revolutionen im gesamten Denken, denn die dort formulierte "nicht-euklidische Geometrie [...] sollte den ganzen Ausblick auf das deduktive Denken verändern und nicht bloß einzelne Zweige der Wissenschaft und Mathematik erweitern oder verwandeln" (6). Tatsächlich finden wir in der heutigen Lyrik Ergebnisse dieser Revolution unübersehbar vor. Wenn so zum Beispiel Helmut Heißenbüttel "Geometrie" sagt, nachdem die Prämisse lautet: "alles ist anders als seine Hypothese", wenn in einer vom Intellekt entworfenen abstrakten "Landschaft der Wörter" von "Geometrie" die Rede ist, dann handelt es sich eben um eine nicht-euklidische Vorstellung. - Wieweit dabei grundsätzlich Beziehungen zwischen Mathematik und Literatur bestehen (7), führt E.T. Bell wie folgt aus:

"In genau der gleichen Weise wie ein Romanschreiber Charaktere, Dialoge und Situationen erfindet, deren Schöpfer wie auch deren Meister er ist, so erfindet der Mathematiker willkürlich die Postulate, auf die er seine mathematischen Systeme gründet. Beide, der Romanschriftsteller und der Mathematiker, mögen durch ihre Umgebung beeinflußt werden bei der Äuswahl und der Behandlung ihres Stoffes; aber keiner von beiden ist durch irgendeine außermenschliche, ewige Notwendigkeit gezwungen, bestimmte Charaktere zu schaffen oder bestimmte Systeme zu erfinden." (8)

Was hier über den Romanschriftsteller gesagt wird, gilt auch für den Lyriker. Im vorliegenden Falle zum Beispiel kann man sagen: das (ausgesprochene oder nichtausgesprochene) "ich" der Texte (er)findet durch Zufall Situationen, die es in der "Landschaft der Wörter" kombiniert; oder anders ausgedrückt: die innerhalb dieser Landschaft funktionieren. Daß solche "Kombinationen" letztlich "der Erfindung entzogen sind" hängt von ihrer Zufälligkeit ("das Wort Zufall hat keinen Inhalt") genauso ab wie davon, daß ja mit der Sprache etwas gemacht wird und nicht (wenn überhaupt) in ihr. Auf keinen Fall aber ist das "ich" der Texte durch eine "ewige Notwendigkeit" gezwungen, "bestimmte Systeme zu erfinden". Das gilt auch für den Autor. Denn das System entwirft er freiwillig. So formuliert Helmut Heißenbüttel im "Vorschlag für eine Systematik":

Wer nicht fühlen sondern Bescheid wissen will macht sich ein System. Das System ist sein Gerüst. Das Gerüst macht er nicht aus nichts sondern aus Material Koordinaten Konstanten usw. (9)
Dabei vermag die Umgebung einen gewissen Einfluß auszuüben. Lebt der moderne Lyriker also in "ereignisverdünnten Räumen" (Arnold Gehlen), so versteht sich jetzt die formelhafte Formulierung Helmut Heißenbüttels, "Reduktion auf die Variation eines Modells" gleichzeitig als notwendig konsequente Formulierung.

Dem Leser fällt bei der Lektüre der Gedichte Helmut Heißenbütteis die starke Ichbezogenheit dieser entworfenen Landschaft ebenso auf, wie das fehlen jeglicher Anrede, eines "du":

Auf der planen Scheibe der Ebene bin ich
der Mittelpunkt ferner Kirchturmspitzen.
Diese starke Ichbezogenheit erklärt sich zunächst schon aus der Betonung des "bewußt Subjektiven" der Lyrik. Darüber hinaus befindet sich das "ich" in einer intellektuellen "Landschaft der Wörter" erklärlicherweise allein: denn das, was ihm dort begegnet, hat es selbst hergestellt oder durch "Erinnerung" hereingeholt (wovon noch zu reden sein wird). In einer so verstandenen Realität des Textes gibt es keine Kommunikation mehr (das betrifft das fehlende "du"); es handelt sich auch nicht mehr um eine Sprache der Konversation. Trotzdem führt diese Konsequenz nicht - und das macht nicht zuletzt die Qualität dieses Gedichtes aus - zum hermetisch Verschlossenen:
die Wahrheit ist mein Gedächtnis
ich sammle Passanten die vor sich hin reden
ich bedeute das Fehlen der Gedanken in den abgefallenen Gesichtern.
Die Wirklichkeit eines Erlebnisses wird mit Hilfe der "Erinnerung" in die Realität des Textes hereingeholt. Helmut Heißenbüttel wendet dieses subjektiv-perspektivische Verfahren häufig an. Das Wort "Erinnerung" wird wiederholt benutzt (in zwei Fällen sogar ausgetauscht gegen das Wort "Heimweh"). Diese Erinnerungen sind Städte (im "Stenogramm 1954" zum Beispiel ausdrücklich genannt), Straßen, Plätze ("Stephansplatz Jungfernstieg Ballindamm", ferner "die Alster"), sind Menschen, die dem Autor persönlich bekannt waren bzw. sind ("Lore", "Lilo Ahrendorf", "die Mutter") und Menschen, zu denen ein geistiges Verhältnis bestand bzw. besteht ("Picasso", "Miro" etc.). Alles andere erscheint seltsam klischeehaft ("Schwäne", "Laternen", "Zaubersprüche der nächtlichen Straßenschilder"; "Bahnhöfe", "Züge"; "Gegenden und Gegenden und Gegenden und Landschaften"; ferner "Schlager" und das "Fenster").

Sind es Menschen, so werden sie nur teilweise bezeichnet ("tränenverzerrte Lippen", "abblätternde Gesichter"; "alle Gesichter haben neue Kleider an"). Es sind Modellfälle: "Reduktion[en] auf die Variation eines Modells". Diese Modellfälle sind in die Gesamtkonzeption nahtlos eingefügt, ebenso Zeichen wie "Ton", "Geräusch", "Fläche", "Farbe" u.a. Damit aber ist just jene These Gerhard Szczesnys verifiziert, die besagt, daß der moderne Künstler dabei sei, die "phänomenologische Realität" zu zerschlagen, um die Wirklichkeit aus den Urelementen: Linie, Farbe, Fläche, Ton, Wort, neu aufzubauen.

Auffallend bei diesen Gedichten ist ferner ihr häufig stark optischer Charakter, die optische Perspektive. Schon die Funktion des Fensters wies darauf hin. Wenn Helmut Heißenbüttel formuliert: "die Perspektive der übereinandergeschlagenen Erinnerungen", dann bekommt eine andere Zeile "Trost der Sichtbarkeit" paradigmatische Bedeutung. Zu dieser optischen tritt eine akustische Perspektive hinzu. Vor allem das Radio holt hier Erlebnisse in die Realität der Texte herein:

Die Stimme des Radio sagt
FREIHEIT IST EIN DING DER UNMÖGLICHKEIT!
Es folgt
das vierte Streichquartett von Arnold Schönberg.
Oder:
Immer morgens wenn die Autowäscher vor meinem Fenster
die Frühmusik anstellen.
Zeitgeschichte wird auf ähnliche Weise eingeblendet:
die Erinnerung an die Stimme Adolf Hitlers im Radio Symphonie für 9 Instrumente opus 21 1928 von Anton Webern und ich habe noch niemals vorher so lange Zeilen gemacht.
Eine weitere Möglichkeit, Zeitgeschichte miteinzubeziehen, findet sich einige Zeilen vorher in der Kombination:
Kanzelreliefs von Giovanni Pisano Nietzsches ECCE HOMO und K.Z.s.
Beides steht in einem "Lehrgedicht über Geschichte 1954". In beiden Fällen findet keine Wertung statt. Die Summe lautet
Rekapitulierbares dies ist mein Thema
Rekapitulierbares dies ist mein Thema
Rekapitulierbares dies ist mein Thema
nicht Rekapitulierbares
wobei die dreimalige Wiederholung der Intensivierung des Gesagten dient. Gleichzeitig wird durch nicht wertende Zusammenstellung von Erinnertem mit anderem, durch Kombination und durch die paradox aufgelöste Wiederholung am Schluß beim Leser Spannung erzeugt.

Trotz der mehrfach betonten Subjektivität dieser Gedichte ("und ich habe niemals so lange Zeilen gemacht") wird die Textrealität sachlich aufgebaut, kann sie (auch das liegt in der Subjektivität) zu einem "Spiel gegen sich selbst", gegen das "ich" werden. Hinzu kommt die häufige Zufälligkeit der Kombination, deren Einzelteile oft noch nichts aussagen, also ohne Inhalt sind, der sich erst im Kontext (innerhalb der erzeugten Spannung) herstellt, dabei aber im Falle eines Zitates zum Beispiel, durch Bewußtsein des Ursprungsbereiches zur Vieldeutigkeit führt. Auch das "ich" dieser Textrealität befindet sich dabei in der Sprache, "die es zugleich verändert, vermehrt, stört oder reduziert" (10). Es deutet nicht, es bedeutet nichts. Es erklärt sich selbst für inhaltslos, da es Inhalt einer soverstandenen Sprache geworden ist, mit der etwas, aus der etwas gemacht wird. Helmut Heißenbüttel sagt in einem Prosatext "Gramatikalische Reduktion":

Wenn ich von mir als von mir rede rede ich von mir mit Hilfe einer grammatikalischen Fiktion. Wenn ich von dir rede ihm rede uns rede (usw.) rede ich mit Hilfe einer grammatikalischen Fiktion. Wovon ich rede rede ich MIT HILFE VON. Wenn ich ICH bin weil ich von mir reden kann kann ich nur von mir reden mit HILFE VON. Wenn ich von mir wie von dir von ihm uns (usw.) nur MIT HILFE VON reden kann bin ich wie du wie er wie wir (usw.) ein GEDANKE von mir. Wenn ICH ein GEDANKE von mir ist gibt es mich nicht. Es gibt mich nicht weil ich wenn ich von mir rede (was ich kann) nur MIT HILFE VON reden kann. Wenn ich von dem wovon ich reden kann nur MIT HILFE VON reden kann gibt es alles wovon ich rede nicht. (11)
Ezra Pound hat einmal gesagt, er selbst sei nichts, aber alles ginge durch ihn hindurch; auch so läßt sich das inhaltslose "ich" verstehen. Ähnliches sagt Helmut Heißenbüttel mit folgendem, bereits zitierten Bild:
Alle Horizonte sind rund.
Auf der platten Scheibe der Ebene bin ich
der Mittelpunkt ferner Kirchtumspitzen
Ob dieser Mittelpunkt schon der "eine gewisse Punkt" ist, muß dahingestellt bleiben. Immerhin hat Helmut Heißenbüttel diesen Aphorismus Kafkas seinem ersten Gedichtband voran gestellt. Und es besteht kein Grund zu bezweifeln, daß er für das ganze bisher vorliegende Werk Heißenbüttels gelten kann; nicht zuletzt darum, weil diese Texte von einem größeren Kafkaverständnis sprechen als ein großer Teil der Kafkainterpretationen; eben weil sie nicht interpretieren. Der Gedanke Kafkas wird von Helmut Heißenbüttel so auch ohne jede metaphysische Absicht zitiert (wie er von Kafka vermutlich, entgegen dem Besserwissen der Interpreten, ohne metaphysische Absicht konzipiert wurde). In den Texten Heißenbüttels (in den Gedichten wie in der Prosa) gibt es überhaupt keine metaphysischen Sätze. So pointiert er in einem Gedicht "Transzendenz" abschließend:
Die Vergeßlichkeit leidet am Gedächtnis.
Und die Kombination der Wörter MORGEN VIELLEICHT
VIELLEICHT MORGEN ist nur der Trick dessen
der nicht weiß ob er davon kommt.
Wesentlich wichtiger ist die gegenwärtige Ortsbestimmung. So schließt ein Gedicht mit der Zeile:
jetzt jetzt jetzt jetzt.
Diese Ortsbestimmung wird mit Hilfe der hereingeholten (eingeblendeten) "Erinnerung" vorgenommen. Und die Erinnerung "KINO ALS KIRCHE" ist dabei kein metaphysischer Gag, sondern eine erinnerte Formulierung. Bezeichnenderweise nennt Helmut Heißenbüttel seinen zweiten Gedichtband "Topographien" und gibt als Zitat ("an Stelle eines Mottos") die Definition des Neuen Brockhaus, Leipzig 1938: "TOPOGRAPHIE (griech.: Ortsbeschreibung) die, -/-n, Beschreibung einer geogr. Örtlichkeit, also eines Landes und seiner einzelnen Gebiete und Orte."

Verbindungen zu dem, was bisher über die "terra incognita", die "Landschaft der Wörter", die Realität der Texte im Gegensatz zur alltäglichen Realität gesagt wurde, stellen sich ohne weiteres her. Diese "Ortsbeschreibung" erfolgt ferner mit Hilfe des Vergleichs, der häufig den Charakter einer Gleichung hat, und schließlich, das ist aufschlußreich, über die Tautologie (die tautologische Gleichung) und deren Auflösung. Allerdings erweist sich ein solches Unternehmen für die moderne Lyrik umso notwendiger, als die Tatsache, daß der Wind weht, dem Bewußsein der meisten Lyriker weitgehend fremd scheint. So formuliert Helmut Heißenbüttel:

der Schatten den ich werfe ist der Schatten den ich werfe
die Lage in die ich gekommen bin ist die Lage in die ich gekommen bin
um dann fortzufahren:
die Lage in die ich gekommen bin ist ja und nein.
Das Gedicht trägt schon den Titel "Tautologismen" und gehört zu einer Reihe von Gedichten, die als "einfache grammatische Meditation" bezeichnet sind. Dabei erfolgt die Auflösung der beiden anfänglichen Tautologien im Text folgerichtig. Übrigens bemerkt Albrecht Fabri in den "Präliminarien zu einer Theorie der Literatur": "Das Wesen der Kunst ist die Tautologie" (12). Wenn die Kritik hier immer wieder und immer noch von "Experimenten" spricht, bewegt sie sich in Betrachtungsweisen, die von solchen Gedichten längst überholt sind. Denn in ihnen sollen nur Aussagen gemacht werden, die 'wirklich' gemacht werden können. So ist in der Realität dieser Texte die Tautologie als Axiom offensichtlich unvermeidbar, ja notwendiger Bestandteil. Auch so erklärt sich das Fehlen jedes metaphysischen Satzes, jeder methaphysischen Spekulation.
Unausfüllbarer Hunger nach Unausdenkbarem.
Kombination von Abfahrtszeiten
ohne Ankunft.
Darüber hinaus ist Helmut Heißenbültel stets bemüht, seine Aussage bis an die Grenze des Aussagbaren zu treiben. "Was sich überhaupt sagen läßt, kann man klar und deutlich sagen, und über die Dinge, über die man nicht sprechen kann, muß man schweigen" (Ludwig Wittgenstein). An dieser Grenze siedelt Helmut Heißenbüttel seine Texte an: "Bruchstücke am Rande des Verstummens" (allein das Wort "verstummen" wird mehrfach gebraucht). Innerhalb solcher Texte ist die Zeit als kontinuierlich fortschreitende Zeit unbekannt: wir haben statische Gedichte vor uns. Wenn trotzdem Zeit auftaucht, ist sie punktuell erfaßt:
Zeit ist ein Loch aus Stille.
Ähnlich der "leeren Fläche", auf der sich erst etwas ereignen muß, damit sie etwas aussagt:
Gruppen von Gruppen bewegen sich über leere Flächen
Gruppen von Gruppen bewegen sich über reine Farben
muß sich auch vor der "Stille", bzw. in der "Stille" erst etwas ereignen. In beiden Fällen aber gehören die "leere Fläche" wie die "Stille" zum Text, zum Bild (dem gemalten sowohl wie dem mit Sprache erzeugten). Sie werden von Helmut Heißenbüttel vorausgesetzt. Denn nur, wenn "Stille", "leere Fläche" vorausgesetzt werden, sind solche Formulierungen zu verstehen wie: "Das Bild zerfällt. Mondlicht dringt durch die Lücken" oder, wie schon zitiert, "Zeit ist ein Loch aus Stille".

Die beiden letzten größeren Veröffentlichungen Helmut Heißenbüttels (13) bieten dazu gutes Beispielmaterial, so der Text "Achterbahn". Dieser Text ist, obwohl wie Prosa geschrieben, als Gedicht zu bezeichnen. Er zerfällt in 13 Abschnitte, die wiederum in sich, durch eingeklammerte Zählung, in 8 Wortreihen aufgeteilt sind (entsprechend dem Titel). Als Beispiel mag hier der elfte Abschnitt (die elfte 'Strophe') zitiert werden:

Wenn Sprache zu Haus ist (1) bei einfällt fällt mir immer einfallen ein (2) die Rede ist ausgebuchtet (3) unbestimmtes Futur Einst einst? (4) wenn Sprache zu Haus ist Re-Demontage wenn Sprache zu Haus ist (5) bei einfällt fällt mir immer Kultur ein die wir haben wenn Sprache verreist ist (6) sich austreckend innerhalb seiner eigenen Möglichkeiten der mögliche Einfall (7) Montage aus Anschauung ist immer was wert (8) ich melde mich wieder
Hier wird "Stille" (ähnlich und vergleichbar vielleicht jener plötzlichen Stille nach dem Einfahren eines Zuges und vor der Lautsprecherdurchsage) mitverarbeitet. Nicht nur an den Steen der Numerierung bricht sie durch, macht sich die "Zeit" als ein "Loch aus Stille" bemerkbar, selbst das "ich melde mich wieder" verweist zum Beispiel auf Funk-Stiile zwischen zwei Sendungen im Radio. Darüber hinaus stößt man bei diesem Text auf das Problem der Schreibweise eines modernen Gedichtes. Ohne Frage sind die 8 Wortreihen innerhalb der Numerierung als Zeilen aufzufassen, aber offensichtlich ist der ganze Abschnitt darüber hinaus ebenfalls als eine (zwar unterbrochene) Zeile gedacht. Damit besteht der Text "Achterbahn" aus 13 (Lang)Zeilen, die in sich selbst wiederum ein Zeilengefüge von je 8 Zeilen darstellen. Das aber bedeutet eine bemerkenswerte neue Einteilung an Stelle der alten Einteilung: Strophe/Vers.

Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich auch ein weiterer achtteiliger Text "Einsätze" noch als Gedicht. In ihm wird allerdings nur noch durch Wortreihung und Wortanordnung Spannung erzeugt. So lautet zum Beispiel der achte Abschnitt:

aus tief aber aus "Denn": Dennfarbe Denngeschmack Denngefühl Wort : dies "Denn" Wort : unerlaubt unentlaubt Worfigur Möglichkeit Schulterfleisch Lippenfleisch Wortlippenfleisch : tief aus denn aus unsichtbar denn : Profillinie Dennlicht Ersatzwort tiefdrinnen zu sagen : zu reden zu sprechen zu schwatzen zu quatschen : je jeweils je jemals denn : dies : Frist vorbeigewesen zu sein Frist abgefressen zu sein Fristfraß zerfräster in Nicht : nicht in "Denn" denn nichterlaubt nichtgeredt Nichtgerät : Thema nicht Thema "Denn" aus tief Unthema aus tief aus denn
Eine zweite Überschrift ("Ein Satz : Einsatz : Einsätze") zeigt, daß "Einsätze" nicht eindeutig gemeint ist. Eine mögliche Interpunktion wird nur teilweise durch Doppelpunkte ersetzt, die eine zweifache Funktion haben: sie funktionieren als Pausenzeichen und als Zeichen für "es folgt".

Bis hin zu den "Einsätzen" ist in der Lyrik Helmut Heißenbüttels (wie in seiner Prosa (14)) eine konsequente Entwicklung zu beobachten vom Gedicht (das den Reim noch spärlich zeigte und anfänglich nicht frei war von Traditionellem) über die "Reduktion auf die Variation eines Modells" (das "abstrakte Gedicht", das "Molekularmodell aus Vokabeln") bis in die Nähe jener Versuche, die als "Konkrete Dichtung" bezeichnet werden. Helmut Heißenbüttel notierte 1952:

Entwicklung ist nur der Einsatz der immer gleichen Tonfolge.
Die "Einsätze" sind ein Ergebnis dieser Entwicklung. Hier setzt Wiederholung ein, die Leerlauf wird. Als Anfang dieses Jahres in Stuttgart eine Ausstellung "konkrete[r] Texte" gemacht wurde, waren auch die Buchveröffentlichungen Helmut Heißenbüttels mitausgestellt. Im Vorwort zum Ausstellungskatalog hieß es dazu unter anderem:

"In Deutschland haben vor allem Eugen Gomringer (mit seinen 'Konstellationen' und in seiner Zeitschrift 'Spirale' und, wenn auch oft nur in Annäherung, Helmut Heißenbüttel (mit den 'Kombinationen' und den 'Topographien') und in Österreich etwa Gerhard Rühm (Ausstellung in der Galerie Würthle, Wien, 1959) diese Methode konkreter Textbildung eingeführt, durch Hinweise und durch Schöpfungen."

Das die Ausstellung einleitende Referate hielt Helmut Heißenbüttel. Und spätestens hier wurde deutlich, daß bei ihm höchstens von einer Annäherung gesprochen werden kann. Um das zu verdeutlichen, und weil Gefahr besteht, daß Helmut Heißenbüttel von einer ratlosen Kritik mit der "konkreten Dichtung" ineins gesehen wird, sei im Folgenden aus dem Programm der Noigandres-Gruppe in Sao Paulo zitiert, die heute am nachdrücklichsten das Prinzip der "konkreten Dichtung" vertritt:

"konkrete dichtung: produkt einer kritischen evolution von formen, davon ausgehend, daß der historische versmzyklus (als formal-rhythmische einheit) abgeschlossen ist, beginnt die konkrete dichtung, indem sie sich des grafischen raumes als strukturelement bewußt wird. qualifizierter raum: raumzeitstruktur statt einer bloß linear-zeitlichen entwicklung. von da die bedeutung des ideographischen konzepts, entweder in seinem allgemeinen sinn der räumlichen oder visuellen syntax oder in seinem spezifischen sinn (fenollosa/pound) einer kompositionsmethode, die auf direkter-analoger, nicht logisch-diskursiver gegenüberstellung der elemente basiert.
konkrete dichtung strebt nach der geringsten allgemeinen sprachvielfalt. daher ihre tendenz zu substantivierung und wortbildung [...] daher ihre verwandtschaft zu den sogenannten isolierenden sprachen (chinesisch)[...] chinesisch bietet ein beispiel für eine rein durch beziehungen bestimmte syntax, die ausschließlich auf der wortanordnung beruht [...]
 indem die konkrete dichtung auf des ringen um das "absolute" verzichtet, bleibt sie im magnetfeld der dauernden relativität. zeitmikromessung des zufalls. kontrolle. kybernetik. das gedicht als ein sich selbst regulierender mechanismus: rückkopplung. schnellere mitteilung (probleme der funktionalität und struktur einbegriffen) stattet das gedicht mit einem positiven wert aus und lenkt sein eigenes entstehen.
konkrete dichtung: totale verantwortung vor sprache. vollkommener realismus. gegen eine dichtung des subjektiven und hedonistischen ausdrucks, um präzise probleme zu stellen und sie mit den mitteln einer verständlichen sprache zu lösen. eine allgemeine wortkunst. das poetische produkt: nützliches objekt."

augusto de campos / décio pignatan / haraldo de campos


Ohne Frage läßt sich danach bei den Texten Helmut Heißenbüttels nur von Annäherung, vielleicht auch noch von Bezügen in einzelnen Punkten sprechen; mehr aber nicht. Richtiger für die späten Texte ist dagegen wahrscheinlich die Feststellung, daß (wie auch bei Ludwig Wittgenstein im "Tractatus Logico-Philosophicus") das Wörtlichnehmen der Sprache, ihrer Sätze, ihrer Worte nur die Form, die logische Struktur (be)trifft. Diese Feststellung gilt für die "Einsätze" und einen Teil der letztveröffentlichten Prosa. Aber schon für den später veröffentlichten Text "Achterbahn" gilt eine erneute stärkere Gegenständlichkeit des Wortes, aus der die sprachliche Figuren entwickelt werden. Im anderen Falle bliebe auch nur die Wittgensteinsche Konsequenz: nämlich zu schweigen.

Wenn man davon ausgeht, daß es sich bei Helmut Heißenbüttels Texten um einen Akt der von W. H. Auden sogenannten "colonization" handelt, wäre abschließend noch die Frage nach dem Herkunftsbereich zu stellen. Zu der Subjektivität dieser Texte gehört auch, daß Helmut Heißenbüttel seine "Einflüsse" ausdrücklich benennt. Einige Namen standen bereits im "Stenogramm 1954". Andere Namen tauchen noch im Text auf, so Henri Michaux, oder die Musiker Webern und Schönberg. Auf die Beziehungen im einzelnen eingehen zu wollen, würde in diesem Zusammenhang zu weit führen. Auch wäre eine Untersuchung, wie weit "colonization" stattgefunden hat, verfrüht, weil Helmut Heißenbüttels zukünftige Entwicklung noch abgewartet werden muß. Immerhin sei hier auf zwei interessante (und im Zusammenhang aufschlußreiche) Parallelen hingewiesen.

So beginnt ein Gedicht Hans Arps: "Die Ebene": "Ich befand mich allein mit einem Stuhl auf der Ebene / die sich in einem leeren Horizont verlor. / Die Ebene war fehlerlos asphaltiert. / Nichts aber auch gar nichts außer mir und dem Stuhl befand sich auf ihr." Usw. Die Zusammenhänge zwischen dieser Ebene (auf der sich ein "ich" ohne Orientierungsmöglichkeit befindet) und der von einem "ich" entworfenen "Landschaft der Wörter" liegt auf der Hand, wie auch der grundlegende Unterschied, der weniger in einem verschiedenen Ansatz als in einer verschiedenen Entwicklung zu sehen ist. War Hans Arp der Pionier, so ist Helmut Heißenbüttel hier damit beschäftigt, colonization zu treiben. (Wobei die biographische hintergrund der "Ebene" hier unberücksichtigt bleibt.)

Eine weitere interessante Beobachtung kann man bei einem Vergleich einiger Texte Helmut Heißenbüttels und Henri Michaux' machen. Heißt es bei Henri Michaux: "Das Objekt existiert gar nicht mehr. Das Objekt war ein schöner Traum", so sagt Helmut Heißenbüttel:

Die Traurigkeit des Vergangenen ist wie eine Landschaft,
oder:
Die Erinnerung an das Unwiederholbare.
Ähnlich wie bei Henri Michaux ("Die Ganze Welt besteht aus Zeichen, Zeichen für Zeichen") handelt es sich auch bei Helmut Heißenbüttel um eine Art "Zeichenrealismus". (Hieraus erklärt sich seine Vorliebe für Paul Klee und Joan Miro). "Zeichenrealismus" heißt dabei: das Wort wörtlich nehmen; die dargestellte Wirklichkeit wird durch das Wort, das Zeichen vorgeschrieben. Das betrifft zugleich eine Grenze. Dazu bemerkt Henri Michaux: "Übrigens gibt die Sprache, wenn ein gewisser Punkt überschritten ist, nichts mehr her" (15). Bei den "Einsätzen" schien Helmut Heißenbüttel diesen Punkt (die Leerform) erreicht, ja überschritten zu haben. Auch muß hier noch einmal an den Aphorismus Franz Kafkas erinnert werden, der als Motto zum bisherigen Werk verstanden wurde: "Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen."

Gewiß bedeutet das bisher vorliegende Werk Helmut Heißenbüttels einen wesentlichen Akt der von W. H. Auden geforderten "colonization", der bewußt bis an seine Grenzen, bis an die Grenze der Sprache (in die Leerform) geführt wird. Ebenso gewiß ist Helmut Heißenbüttel ein asketischer sparsamer Lyriker, dessen schmales Werk (Lyrik wie Prosa) eine eigenwillige und eigenständige Dichtung vorstellt: "formelhafte Destillate der Erfahrung und des Gedankens, Bruchstücke am Rande des Verstummens". Es ist eine Dichtung einfacher Sätze: einfacher und deshalb auch wohl dauernder Sätze wie:

während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe


Anmerkungen
*) Der Essay wurde für die österreichischen "Hefte für Literatur und Kritik" geschrieben. Er sollte dort nach einem einleitenden Essay [Jg 1, H. 2, 1960, S. 66-73] als zweiter Beitrag die Folge "Lyrik nach 45" fortsetzen, ist aber ebenso wie die geplanten folgenden Essays über Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger und Ingeborg Bachmann icht mehr erschienen.

1) Kombinationen, Gedichte 1961-1954. Bechtle-Verlag Esslingen 1954; 2. Aufl. 1955; vergriffen
Topographien, Gedichte 1954/55. Bechtle-Verlang Esslingen 1956; vergriffen
ohne weiteres bekannt, Prosa. Eremiten-Presse Stierstad/Taunus 1958: vergriffen
Die Zitate sind, wenn nicht ausdrücklich vermerkt, den beiden Gedichtbänden entnommen.
2) Dazu: Max Bense: Text und Kontext. In: augenblick 1'4, Oktober-Dezember 1959
3) Zitiert nach dem Ausstellungskatalog konkrete Texte, Stuttgart, 1960
4) Zum Beispiel die Landschaftsbilder Eleanor Farouels (Paris), vor allem die im Theatre de Lutece und in Cabarets gezeigten "laterna magica"-Reproduktionen.
5) Das Fensterthema wird in der modernen Lyrik wiederholt aufgegriffen. So lautet ein Gedicht Peter Härtligs in "Yamins Stationen": "hinter den fensterscheiben weint PAUL KLEE / er sieht die leute vorübergehn / und sie werden lauter striche / er sieht lauter striche vorübergehn / und die striche gehen vor den scheiben." - Manches zu der Lyrik Helmut Heißenbüttels Gesagte läßt sich auch auf Peter Härtling anwenden, von dem - im Zusammenhang mit Paul Celan - im folgenden Essay noch die Rede sein wird.
6) E. T. Bell: Development ot Mathematics. New York - London 1945: 2.Auflage
7) Stochastische Texte. Im augenblick 1'4 (Oktober-Dezember 1959)wird von einem Programm berichtet, das auf einer elektronischen Großrechenanlage durchgeführt wurde. Die Maschine wurde zur Erzeugung von stochastischen Texten verwendet. Ein Beispiel (Zufallstext, ausgewählt aus Frank Kafka: Das Schloß) ist anschließend an den Bericht über das Programm abgedruckt. Dies ist, soweit ich weiß, der erste zugängliche Text dieser Art im deutschsprachigen Raum. Deshalb sei darauf hingewiesen.
8) E. T. Bell: Development ot Mathematics (s. Anm. 6)
9) In: augenblick 1'58
10) Max Bense: Text und Kontext (s. Anm. 2)
11) in: augenblick 1'4, Oktober-Dezember 1959
12) In: augenblick 1'58
13) "Einsätze" in: Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Martin Heideggers. Neske Verlag
Pfullingen 1959.
"Achterbahn" in : Jahresring 1959160, Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst der Gegenwart. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1959.
14) Verstreut gedruckt, vor allem in: augenblick, zeitschrift für experiment und tendenz.
15) In: "Signes", in: XXe siècle 4,1954.