reinhard döhl | viele wege führen nach stuttgart...

... auch die der konkreten poesie. dazu wären auf der landkarte einer konkreten poesie in deutschland vor allem die orte ulm und darmstadt, in europa die orte london, paris, prag, stockholm und wien, weltweit die orte mexiko, sao paulo und tokyo rot zu unterstreichen: orte, von denen wege nach stuttgart und weiter führten, orte, zu denen wege aus stuttgart und weiter führten, und orte, bei denen die wege in beide richtungen begangen wurden.

"da die konkrete poesie", sagt es elisabeth walther, "auf wenige worte beschränkt [...], ohne syntax" auskomme "und dadurch in anderen sprachen leicht verständlich" sei, sei sie von anfang an "eine internationale bewegung gewesen, die von den persönlichen, und häufig freundschaftlichen beziehungen der autoren getragen wurde." nicht zuletzt "um diese internationalität der konkreten poesie aufzuzeigen" , sei denn auch - nach einer frühen präsentation "konkrete[r] texte" 1959/60 im studium generale der technischen hochschule - bereits 1965 in der studiengalerie der universität stuttgart "eine erste internationale ausstellung" organisiert worden "mit texten von autoren aus island, schottland, dänemark, usa, tschechoslowakei, belgien, frankreich, england, mexiko, italien, österreich, finnland, schweden, brasilien, der türkei, der schweiz und deutschland." eine ausstellung, deren katalog auch als eine der ganz frühen anthologien der konkreten poesie, als text 21 der reihe "rot" erschien.

umgekehrt war die stuttgarter gruppe in der von emmett williams herausgegebenen "anthology of concrete poetry" (1967) und weltweit auf zahlreichen ausstellungen vertreten, wurden in stuttgart oder mit stuttgarter assistenz ausstellungen aufgebaut, die diese internationalität bestätigten: in zürich z.b. die ausstellung "text buchstabe bild" (1970), in amsterdam die wanderausstellung "klankteksten / ?konkrete poezie / visuele teksten " (1970/71), die auch in stuttgart station machte, den inzwischen leicht inflationären und vor allem uneinheitlich verwendeten begriff "konkrete poesie" aber mit einem deutlichen fragezeichen versah.

denn entweder hielt man sich an die ulmer hochschule für gestaltung und das 1955 im ersten jahrgang des von bense herausgegebenen, von elisabeth walther redigierten "augenblick" veröffentlichte manifest eugen gomringers, "vom vers zur konstellation". sah wie helmut heißenbüttel 1961, den "begriff einer konkreten poesie [...] gebildet in analogie zur bildenden kunst, vor allem zur malerei", wo er sich "aus den theoretischen vorstellungen mondrians, der stijl-gruppe und kandinskys" abgelöst habe. was die geschichte einer konkreten poesie über theo van doesburgs "grundlagen der konkreten malerei" (1930) und über kandinskys "klänge" (1913) schließlich zurückschrieb bis zu den zürcher dadaisten, für die hans arp bereits 1951 reklamiert hatte, "wesentlich zur klärung des konkreten gedichtes beigetragen [zu] haben".

oder man folgte öyvind fahlströms "manifest för konkret poesie", "hätila ragulpr pä fätskliaben", der 1953 "das wort konkret [...] mehr im anschluß an konkrete musik als an bildkonkretismus im engeren sinne" verwendet wissen wollte, seine auffassung des "fundamentalen konkreten prinzips" an pierre schaeffers "etude aux chemin de fer" veranschaulicht sah und aus der "stillosigkeit" "literarische[r] konkretion" "für den poeten eine befreiung, eine erlaubniserklärung allen sprachlichen materials und aller mittel, es zu bearbeiten", ableitete.

wenn fahlström dabei eine "verwandtschaft des konkret arbeitenden dichters [...] mit den formalisten und sprachknetern aller zeiten, mit den griechen, mit rabelais, gertrude stein, schwitters, artaud und vielen anderen" konstatierte, trafen sich seine überlegungen wieder mit vorstellungen der brasilianischen noigandresgruppe und forschungen des stuttgarter kreises um max bense.

erstens antigrammatisch, zweitens international öffnete sich die konkrete poesie zwischen visuellem und akustischem text damit drittens unterschiedlich besetzbare freiräume "between poetry and painting", wie eine mit stuttgarter hilfe erarbeitete londoner ausstellung (1965) zeigte, auf der einen und auf der anderen seite zwischen text und partitur, wie clythus gottwald mit seiner "schola cantorum" nicht nur den stuttgartern akustisch klar machte. museumsausstellungen und sammlungen, die audiothek der documenta 1987 haben nachträglich auch das besetzen dieser zwischenräume als leistungen konkreter poesie bestätigt.

alle wege führen aus stuttgart...

...schon seit längerem verlieren sich die stuttgarter spuren konkreter poesie in den museen preußischer kulturbesitz (berlin), dem museum am ostwall (dortmund), den nachlässen seiichi niikunis in der mushajino art university in tokyo, ilse und pierre garniers in der bibliothek in amiens, bohumila grögerovás/josef hiršals in der nationalbibliothek in prag, helmut heißenbüttels und reinhard döhls in der akademie der künste in berlin und anderen orts. wenn freilich das archiv sohm in der staatsgalerie geöffnet würde, das archiv max benses doch noch nach marbach käme - oder wenn elisabeth walther heute ihren 80. geburtstag feiert, sind sie (fast) alle wieder da - für einen augenblick.