Reinhard Döhl | Dieser Text ist divers:

er ist für einen Katalog und für Wil Frenken. Aber auch über ihn. Womit er beginnen könnte und zugleich endet. Denn am 21.6.1980 stellte Frenken vor der Universitätsbibliothek in Freiburg 5 Asbestplatten auf, die er zuvor mit Eisenoxyd in Französisch, Englisch und Deutsch beschriftet hatte, mit einem weißen Tuch umhüllte und von einem Feuerspucker in Brand setzen ließ. Dabei wurde die Schrift in die Platten eingebrannt:

LE BUT ULTIME DU MONDE C`EST LE LIVRE / THE FINAL AIM OF THE WORLD IS A BOOK / DER ENDZUSTAND DER WELT IST EIN BUCH.

Diese von Frenken als "Hommage à Mallarmé" ausgewiesene Aktion, das sie abschließende Fassen der beschrifteten Platten in einen Plexiglaswürfel ist allerdings mehr bzw. anderes als eine landläufige Hommage, indem sie künstlerische Traditionen, speziell Tendenzen des Frenkenschen Umgangs mit Kunst bündelt. Bezogen auf Mallarmé sind dies

1. der Hinweis auf den letzten Satz des "Würfelwurfs": Tout pensée èmet un Coup de Dès und
2. der Verweis auf den Livre-Entwurf.

Und sie sind dies zugleich in spezifischer Anverwandlung. Denn mit diesem Hinweis werden nicht zitiert der Inhalt des "Coup de Dès", der langwierige Weg Mallarmés vom Igitur zum Maître. Und nicht enthalten ist im Zitat der letzten Zeile die Anspielung auf die Pascalschen "Pensées". Frenkens Anspielung will statt dessen klar machen, daß sich hinter seiner Aktion eine Idee, ein Gedanke verbirgt, die/der äußerlich (nur) in die Gestalt eines Würfels gefaßt werden kann, eines Würfels, der seinerseits – wie immer man ihn auch dreht und wendet – nichts anderes besagt, als daß der Endzustand der Welt ein Buch sein wird. Und wiederum ist dies nicht Mallarmés Livre-, sondern Frenkens Vorstellung vom Buch. Und das wiederum ist weniger das von den Romantikern, von Mallarmé gedachte, als das von Guillaume Apollinaire in "L´Esprit nouveau et les Poètes" prognostizierte:

Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Worte und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.

Frenkens Aktion verwies also nicht nur auf Mallarmé, sie muß auch der Vision Apollinaires vom sichtbaren und hörbaren Buch der Zukunft zugeordnet werden. Und das geschah in Freiburg zum Beispiel durch die Nachbarschaft mit der Bibliotheksausstellung "buchobjekte", zu der Frenken ebenfalls beigetragen hatte. Das wäre, faßt man die den Happenings nahestehende Aktion der Hommage als 3., eine 4. künstlerische Tradition und Werktendenz, auf die jeder, der sich mit den Arbeiten Frenkens ernsthaft einlassen will, verwiesen ist. Allerdings auch hier wieder in einem speziellen Kontext, genauer: in der Bündelung spezieller Kontexte. Das ist 5. und vordergründig der Kontext der Verbrennungen, der déflagrations, wie sie Werner Schreib 1966 in einem Katalog halbmechanischer Herstellungsverfahren von Kunst nannte. Bei dem heutigen kunstgeschichtlichen Kurzzeitgedächtnis ist es nützlich, an das Londoner "Destruction in Art Symposion" von 1966 zu erinnern, auf dem Schreib ein Ludwig Ehrhard-Portrait abfackelte, was durchaus politischen Sinn machte. Allerdings: so auf der Oberfläche findet sich die politische Absicht Frenkens nicht. Seine Verbrennungen, die ich deshalb auch weniger als déflagrations sondern als brulages ansprechen möchte, zielten als "Hommage à Mallarmé" oder im Kontext der "Art-Erweiterungen" tiefer.

Natürlich ist auch Frenken – im Sinne des "Destruction in Art Symposions" und schon vorher im Sinne des dadaistischen Ikonoklasmus – der Ansicht, daß Kunst aus Etwas etwas Anderes machen, aus der Zerstörung etwas Neues gewinnen kann und muß. Allerdings: sein Ziel ist und bleibt das Buch: im Falle der "Hommage à Mallarmé" als utopischer Entwurf (le but ultime du monde c´est le livre), im Falle der "Art-Erweiterungen" 1979/1980 als Objekt: Übrig bleibt das Buch als unikates Buchobjekt, übrig bleiben auch Brandrelikte, Tonbänder als akustische Dokumentation, Videotapes und Fotos, um die Handlung zu belegen. Diese "Art-Erweiterungen", man sollte sie am besten ARTerweiterungen schreiben, also: Frenkens ARTerweiterungen gingen aus vom Katalog der Basler "Art 10/79" und dem Gedanken (siehe hier wiederum Mallarmés tout pensées èmet un Coup de Dés), daß ART [...] durch ART(-erweiterungen) zu ART" werde. Was mich veranlaßt, Frenkens Gedanken der Erweiterung in der vorgeschlagenen Werkordnung die Nummer 6 zuzuordnen. Denn natürlich ist auch das ästhetische Problem der Erweiterung in eine umfassendere künstlerische Tendenz eingebunden, die sich mit je einem Zitat von Kurt Schwitters und André Thomkins annähernd umschreiben läßt:

- Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff Kunst erst los werden müssen, um zur Kunst zu gelangen.
- Kunst macht aus etwas etwas anderes.
Im Rahmen der "ARTerweiterungen" ist vor allem einer der Frenkenschen Kunstgriffe (hier im Sinne der Formalisten verstanden) von besonderem Interesse. schauspieler/publikum/künstler lesen mit theatralischem vortrag aus dem katalog. Einband und 'ausgelesene' seiten werden von mir nacheinander seite für seite mit druckfarbe geschwärzt und in eine stoffrolle eingedruckt. das so entstandene druckobjekt wird am ende der aktion aus der bindung gelöst und als ART-bahn demonstriert.

Was hier ästhetische, allenfalls gegen den Kulturrummel gerichtete kunstpolitische Absicht ist, bekommt als Kunstgriff 1982 seinen politischen Hintersinn, als Wil zusammen mit Susanne Frenken erstmals die Aktion "Verbrannte Bücher – verbannte Bücher" startete, eine Aktion, die im Zusammenhang dieser Ausstellung im Gutenberg-Museum ihre 8. Fortsetzung erfahren wird. Ein kleiner Katalog aus dem Jahre 1983, in den schrittweise die Belege der folgenden Aktionen einzuordnen sind, stellt unübersehbar die Verbindung dieser Aktion-in-progress mit Frenkens "Hommage à Mallarmé" her, indem der Umschlag zwei Teilabbildungen des Frenkenschen Würfels, die Seiten 8 und 9 des Kataloges die letzten beiden Seiten des "Coup de Dés" in der Übersetzung von Carl Fischer wiedergeben. Bleibe ich zunächst bei den Abbildungen auf dem Umschlag, so signalisieren diese in deutscher und französischer Sprache die Utopie Hoffnung, daß das Buch den Menschen überleben werde, daß nach allen denkbaren Verbrennungen das Buch schließlich der Phönix aus der Asche sei. So sind denn auch die den verbrannten Büchern gewidmeten Aktionen nicht nur politische Erinnerung an den nationalsozialistischen Ungeist, sondern sie spiegeln zugleich die Überzeugung von der Überlebenskraft des Buches. Denn wenn auch eingeschwärzt und aufgebahrt: ihr Ort ist die Buchrolle in einem wörtlichen Sinne, also nur eine andere, uns eher fremde Form des Buches, und so gesehen wiederum auch "ARTerweiterung" im oben gegebenen Sinne.

Es ist nicht Frenkens sondern meine Interpretation, daß Einschwärzen und Transformation in eine Buchrolle (was in meiner Werkordnung zugleich die Nummer 7 wäre) die Botschaften der verbrannten Bücher verschließen zu hermetischen Botschaften und damit, wenn auch in der ohnmächtigen Geste der Kunst, dem Zugriff der Macht entziehen.

Es ist dieser Übersetzungsvorgang im mehrfachen Sinne, der Frenken schließlich zur Zaum-Sprache (8) der russischen Futuristen, speziell Velemir Chlebnikovs, und zur "Esthétique du Divers" Victor Segalens (9) führte. Auch hier ließe sich, ein letztes Mal, von Mallarmés "Coup de Dés" ausgehen, von jener Wortreihe, die Eugen Gomringer seinerzeit so folgenreich mißverstand und auf seine konkreten "konstellationen" kurzschloß: rien n'aura lieu / exepté / peutètre / une constellation. Korrekt und in Versalien zitiert würde die Wortfolge nämlich lauten: RIEN / N'AURA EU LIEU / QUE LE LIEU / EXEPTE / PEUT-ETRE / UNE CONSTELLATION.
Dieses exepté peut-ètre une constellation (in der Übersetzung Fischers: außer vielleicht ein Sternbild) ist für die künstlerische Entwicklung Frenkens in den 80iger Jahren mindestens genauso wichtig wie das abschließende Tout pensée èmet un Coup de Dés (Fischer: Jeder Gedanke ist ein Würfelwurf). Denn von Mallarmés Sternbild stellt sich zu Gomringers "konstellationen" allenfalls gewaltsam, leicht dagegen eine Verbindung zu Chlebnikovs Sternensprache her, auf die Frenken mutmaßlich 1985 anläßlich des deutschsprachigen Erscheinens der umfassenden Werkausgabe Chlebnikovs gestoßen ist. Erst danach datieren die Aktionen und Ausstellungen, die sich als "Erweiterungen" der Chlebnikov-Lektüre ansprechen lassen, beginnend, noch 1985, mit der Herausgabe der Zeitschrift "Der Chlebnicist" (zusammen mit Peter Stobbe), fortgesetzt mit der Aktion eines Kartenspiels zwischen Chlebnikov und Krutschonych, mit Peter Stobbe, "Stellvertretend" (1986), bis zur Ausstellung "Ein HA für dies + das" (1991), anläßlich derer in einem Gespräch zwischen Robert Stauffer, Pierre Garnier und Reinhard Döhl so intensiv über Chlebnikov verhandelt wurde, daß Viktor Segalen, dessen "Ästhetik des Diversen" inzwischen gleichermaßen die Aufmerksamkeit gebührt hätte, deutlich zu kurz kam. Seit nämlich 1983 "Die Ästhetik des Diversen" in deutscher Übersetzung erschienen war, seit 1988 das Institut Francais de Stuttgart zusammen mit dem Nürnberger Théàtre Demi-Sel die Veranstaltungsreihe "Supplément au voyage de Victor Segalen" durchgeführt hatte, an der sich Frenken mit der Ausstellung "Antiker Form sich nähernd – durch Abdrucke versteht sich - : der Archaiologe" beteiligt hatte, konnte sich Frenken immer sicherer werden, daß sein Konzept der Erweiterungen Überlegungen Segalens ebenso wie den Sprachentgrenzungen Chlebnikovs, wenn auch nicht entsprechend, so doch nahe war. Ich verweise z.B. auf Chlebnikovs Adresse ("An die Maler der Welt"), sein "Wörterbuch der Sternensprache", oder den Gliederungsversuch, den Segalen dem Manuskript seiner "Ästhetik des Diversen" beigefügt hatte, in dessen Kapitel "Über den Ausdruck des Diversen" Frenkens "Erweiterungen" ebenfalls ihren Platz finden könnten:

Über den Ausdruck des Diversen.
Mithilfe der verschiedenen Sinne ...
Mithilfe der verschiedenen Künste. - Hier kann der Exotismus der verschiedenen Künste untereinander seinen Platz finden. (Auf das Gesetz verweisen (...), demzufolge man nur dann das Diverse genießen kann, wenn man sich eines der Teile zu eigen macht. Den Exotismus der verschiedenen Künste zu genießen, setzt voraus, daß man nacheinander für sie Partei ergreift.

Auch um den Preis, hier allzustark zu verkürzen: Frenken hat, nachdem er in einer ersten Werkphase bis ca. 1980 vor allem versucht hatte, herauszufinden, was alles und mit was allem man drucken kann, auf der Suche nach dem Sinn seiner Kunst nacheinander vor allem für Mallarmé, für Chlebnikov und für Segalen Partei ergriffen, er hat sich für seine "Erweiterungen" bei ihnen seinen Teil geholt und ihn seiner Sicht der Welt der Kunst anverwandelt. Denn, und auch dies hat er bei Segalen sicherlich nicht überlesen:

Wenn auch universell, so ist es doch immer nur meine persönliche Sicht als Künstler: die Welt anschauen, um dann zu sagen, wie man sie sieht.

Mit diesen Worten wollte Segalen das Vorwort seines geplanten Essays beenden.