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Reinhard Döhl | Das Ende vom Lied. Eine Abführung Peter Grohmanns

Meine Damen und Herren,

falls Sie sich darüber gewundert haben, zu einer Abführung eingeladen zu sein, sie ist leicht zu erklären: Vor einer Ausstellung gibt es in der Regel eine Vernissage. An ihrem Ende gibt's manchmal eine Finissage. Da Fremdsprachenkenntnisse zu Zeiten von Ausländerfeindlichkeit aber nicht opportun scheinen, haben Peter Grohmann und ich uns auf Abführung geeinigt. So kann, weil seine DenkAnschläge nicht eingeführt wurden, ihr Anstifter und Ankleber doch wenigstens abgeführt werden.

Eigentlich wollte ja, da mit der Stuttgarter Kultur "seit 79 nemme viel los" sei (wörtliches Zitat) -

Eigentlich wollte ja unser oberster Kulturpfleger ursprünglich die Einführung übernehmen oder doch - bei leerem Kulturseckel - wenigstens die für das Wangener Theaterhaus dringend benötigten Abführmittel bereitstellen - aber leider wollte sich - wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautete - ein passendes Hegelzitat zur Austellung nicht einstellen. Dabei wäre Hegels "Furie des Verschwindens" gewiß angebracht angesichts dessen, was in dieser Stadt kulturell alles schon verschwunden ist, ohne daß die Verursacher und -antwortlichen dieses -schwindens -schwunden wären.

Wie wäre es - Gedanken sind ja angeblich noch frei - zur Abwechslung einmal mit dem umgekehrten Verfahren: die Kulturverantwortlichen wirklich einmal in die Verantwortung zu nehmen, d.h. verschwinden und die Kultur bleiben zu lassen, damit sie aus eigener Kraft wachsen und sich entfalten kann, was selbst in ungünstigem Kesselklima vorkommen soll.

Herzlich willkommen in Stuttgart! hat Peter Grohmann angeschlagen, aber er hat noch etwas weitergedacht und -gefragt: Oder sind Sie Asylant?

Und da er seinen DenkAnschlägen auch eine Gebrauchsanweisung beigegeben hat, die man, wie den Beipackzettel einer Medizin, genau lesen muß, also: da Peter Grohmann in der Gebrauchsanweisung für seine DenkAnschläge auch Eigeninitativen vorschlägt, lasse ich, wie Helmut Kohl sagen würde und Peter Grohmann zitiert, meiner Fantasie und Kreativität die Zügel schießen und plakatiere den zitierten DenkAnschlag leicht variiert:

Herzlich willkommen in Stuttgart! Oder sind Sie ein politisch kulturell kreativer Kleber aus Degerloch?

In diesem Fall wäre "Ankleben verboten", wie Peter Grohmann dem "täglichen Leben" entnommen hat, bzw. wie ich es neulich in verbesserter Form las: "leben verboten", ein DenkAnschlag, der wie das Sprühen, strafrechtlich verfolgt wird, es sei denn, DenkAnschlag und Sprühen fänden im Museum statt, wie unlängst die kulturelle Aufbahrung des Sprayers von Zürich in der hiesigen Staatsgalerie.

Nein, hierzulande halten wir's weniger mit DenkAnschlägen, wie schon ein flüchtiger Blick in die [Stuttgarter] Kulturgeschichte einsichtig macht. Zog es doch Georg Rodolf Weckherlin vor, in London zu bleiben, der Pastorensohn aus Botnang, Wilhelm Ludwig Wekhrlin, wolltre auch nicht mehr zurück; Schiller rettete sich via Mannheim in die Weimarer Klassik und die neuen Bundesländer, Hölderlin flüchtete nach Bordeaux, Hegel dachte vorsichtshalber in Berlin nach, Georg Herwegh floh in die Schweiz - eine Strecke von Kulturflüchtlingen, die sich leicht verlängern ließe.

Bei soviel Aderlaß des kulturellen Lebens hilft nur Kulturgeschichte mit Etikettenschwindel. Ein Schillerdenkmal von Thorwaldsen als Stelldichein für Gesangsvereine und Marktfrauen; ein Hegelhaus, dessen Restauration lange Zeit kaum möglich schien, wahrscheinlich, weil man sich nicht einigen konnte, welchen Sinn man diesem Wort beilegen wollte, bedeutet Restauration doch

1., wenn auch veraltend, Gastwirtschaft;
2., wenn auch meist zu Mißgestaltungen führend, Wiederherstellung schadhafter Kunst- und Kulturgegenstände; und
3. Wiedereinrichtung der alten und politisch- sozialen Ordnung.

Die guten alten Zeiten, der Stammtisch und Kultur als Geschichte - das war's bzw. das ist's zum Beispiel, wenn sich - in landesüblichem Etikettenschwindel - zunehmend Erinnerungsplaketten in unserer Stadt finden. "Mörike, Schubart, Hauff", schrieb eine Stuttgarter Zeitung anläßlich dieser Kulturnostalgie, "Mörike, Schubart, Hauff, Rimbaud, Lenin, Casanova - um nur einige zu nennen - haben sich, mehr oder minder lange, in Stuttgart aufgehalten, um hier zu arbeiten und mit den hiesigen Verlegern ins Geschäft zu kommen."

Die Zeitung schrieb nicht, wie dieser Aufenthalt sich im Einzelnen gestaltete; und sie vergaß neben vielen Namen auch, zu erklären, um welche Verleger es sich dabei handelte, die Verleger von Büchern oder jene Kulturverantwortlichen, die etwas, was kulturell erst wachsen will, bevorzugt so gut verlegen, daß man es vorläufig nicht wiederfindet. Bis man es sich - durch größeren zeitlichen Abstand entschärft - als Plakette anheften kann oder an einer spitz- und stumpfwinkligen Betonarchitektur aus den 60er Jahren liest:

"Georg Herweh, politisch-revolutionärer Lyriker, Vertreter der Bewegung des Jungen Deutschland, geboren 31. Mai 1817 in Stuttgart, gestorben 7. April 1875 in Lichtenthal (Baden/Baden), Verfasser der 'Gedichte eines Lebendigen', entstanden nach Herweghs Flucht in die Schweiz 1839. Hier stand bis 1944 das Haus, in dem Georg Herwegh 1837-39 wohnte."

Ich weiß nicht, wie wichtig es ist, zu wissen, wo das Haus stand, in dem Herwegh von 1837 bis 39 wohnte; ich wüßte lieber, wo sein Geburtshaus stand. Ferner frage ich mich, ob sich der Plakettentexter Stuttgart als kulturelles Beinhaus vorstellte, als er formulierte: "Verfasser der 'Gedichte eines Lebendigen', entstanden nach [!] Herweghs Flucht in die Schweiz". Falsch ist es, Herwegh einen Vertreter des Jungen Deutschland zu nennen, in dessen Nachfolge er allenfalls zu finden wäre, will man ihn nicht richtiger dem Vormärz zurechnen.

Wie wäre es statt mit dieser mit folgender Plakette:

Georg Herwegh
lief vom Heer weg
direkt in die Schweiz und progressiv
bis Emma kam und mit Eginhard schlief.

Oder im Falle Hölderlins:

Friedrich Hölderlin
mußte Susettes wegen fliehn
jahrlang ins Ungewisse dann nahm
Autenrieth sich des Restes an

undsoweiter undsofort. Die Texte gäb' es, der Sponsor für die Plaketten fehlt. Immerhin kann man sie bei Wendelin Niedlich oder Buch Julius kaufen, wie Peter Grohmanns DenkAnschläge auch.

Letzteres ist beruhigend zu wissen, wenn ihre Ausstellung hier abgebaut wird, wenn sie vom Stuttgarter Verein zur Verschönerung des kulturellen Umfeldes aus dem Stadtbild entfernt sind. Es ist die alte Geschichte von den zehn kleinen Kleberlein. Entsprechend kann man, wenn auch nicht an den dafür vorgesehenen Anschlagsäulen und Flächen, so doch im Buch nachlesen, daß es sich empfiehlt, "einzelne Einwegflaschen einfach einzeln wieder beim Einzelhändler ab"zugeben, oder daß bei einer Wahl "abgegebene Stimmen [. . .] nicht umgetauscht" werden.

Es soll Leute geben, die ihre Steuern abführen in der Hoffnung, daß ein Teil dieser Steuern sinnvoll für die Kultur abgeführt. In Wirklichkeit wird meist die Kultur abgeführt. So bleibt mir resignierend nichts anderes übrig, als Peter Grohman jetzt, wie im 16. Jahrhundert üblich, einen DenkZettel zu verpassen und ihn wegen wiederholter DenkAnschläge abzuführen. Er befindet sich sowieso auf dem absteigenden Ast vom Stasi zum Aldi, einem Programm, zu dem Sie übrigens herzlich eingeladen sind. Es soll sogar noch Karten geben.

[Theaterhaus Stuttgart-Wangen, 27.10.1991]