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Reinhard Döhl | LebensMittel

Will man den Wurzeln aktueller Kunst nicht in der Kunstrevolution, sondern in näher liegender Zeit nachspüren, ist es manchmal gut, sich der 60er Jahre zu erinnern, deren wichtige Impulse allzu oft dem Kurzzeitgedächtnis eines rotierenden Kunstmarkts entfallen sind. So ist es auch im Falle Hegers durchaus nützlich, zunächst an die 60er Jahre zurückzudenken, und zwar speziell an zwei Künstler, die in Deutschand (wen wundert's?) kaum Spuren hinterlassen haben. Ich meine Herman de Vries und Daniel Spoerri.

Als Herman de Vries 1967 in der inzwischen legendären Stuttgarter Galerie Hansjörg Mayers in der Landhausstraße seine "bücher grafik und objekte" ausstellte, wurde er, soweit überhaupt wahrgenommen, einer konkreten Literatur und Kunst zugeschlagen. Seine weißen Bilder und Objekte, sein Buch "wit weiß", das nur aus leeren Seiten bestand, seine permutierten und permutierbaren Texte (futura 23) sowie "rationalen strukturen" (1967) sah und las man als extreme Positionen innerhalb dieser Tendenz und mißverstand sie derart wenigstens zu Teilen. Denn es war schon damals das erklärte Ziel des studierten Gartenbauers und Mitarbeiters des Staatlichen Instituts für angewandte biologische Forschung in Arnhem (Holland), techno-wissenschaftliche Mittel und Methoden anzuwenden, um so die Schlucht in der Kultur zwischen Leben und Umwelt zu überbrücken. Dazu dienten ihm der Zufall, der zufällige Fund, die zufällige Kombination ebenso wie eine von ihm herausgegebene Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel "integration". Anfang der 70er Jahre bezog er bereits Pflanzliches als reales Element in seine Kompositionen ein; um Anfang der 80er Jahre das Projekt der "Natural Relations" zu starten. So versuchte er zunehmend, der Kultur wieder zuzuführen, was sich in Leben und Umwelt getrennt hat.

Die Frage des Realitätsbezuges bringt auch den zweiten eingangs genannten Künstler, Daniel Spoerri, ins Spiel, der sich bereits 1959/1960 der vom französischen Kunstkritiker Pierre Restany gegründeten Gruppe der Nouveaux Réalistes anschloß, die, nach Wiederentdeckung von Dadaismus und Surrealismus, Kunst und Leben identifizieren, die Welt als ein Gemälde; betrachten wollten, als das große, grundlegende Werk, dessen mit umfassender Bedeutung erfüllte Fragmente man sich aneignen müsse, da sie die Wirklichkeit in den vielfältigen Aspekten ihrer ausdrucksvollen Gesamttheit; zeigen. Bereits diese Auszüge des Manifests verdeutlichen hinreichend die Radikalität eines solchen Wirklichkeitsverständnisses im Vergleich mit seiner späteren Verflachung zu kruder Abbildungsmascbe und planem Fotorealismus.

Von Interesse sind hier vor allem jene Arbeiten Spoerries, die sich einer gelegentlich sogenannten Eat-Art zurechnen lassen, im Spoerrischen Werk jedoch den "Fallenbildern" zugehören. Vor allem der Punkt 13 der von Spoerri selbst skizzierten Entwicklung der "Fallenbilder" ist dabei zitierenswert:

Im "Restaurant" werden verschiedene der bisher aufgezählten Ideen vereint.
a) Die Restauranttische werden zu Fallenbildern.
b) Wie im "Krämerladen" werden die Lebensmittel als Kunstwerke ausgestellt ohne im Zusammenhang eines Bildes zu stehen.
c) Die zubereiteten Gerichte werden während der Mahlzeit verändert (gegessen usw.).
d) Der Geschmackssinn wird den visuellen deskriptiven und taktilen Aspekten der Ausstellung hinzugefügt.
e) Die "Sammlung", in diesem Fall die Küchengeräte, findet ihre ideale Anwendung.

Die in diesem Zusammenhang entstandenen "Tableau-Pieces" sind heute in Sammlungen verschwunden oder teilweise kaputt, teilweise von den Ratten angenagt, die "Manifestationen" ("Restaurant de la Galerie J.", 1963; "Restaurant de le City-Galerie", 1965) ebenso wie Spoerris eigenes Lokal in der Düsseldorfer Altstadt bereits Kunstgeschichte.

In einer "Exkursion über die Gerste" (1967) zitiert Spoerri León Blums Überzeugung, nach der Kultur das sei, was übrig bleibe, wenn man alles vergessen habe. Anfang der 80er Jahre stellt Herman de Vries seinem "Natural Relations"-Projekt als Motto voran: Zum Gedächtnis dem, was vergessen ist. Beides, Motto und Zitat, entspringen der Sorge, die Natur könne uns, kulturbedingt, endgültig entgleiten wenn nicht schon entglitten sein Und genau hier treffen sich die Arbeiten und Überlegungen Spoerris und Herman de Vries' tendenziell mit den Überlegungen und Arbeiten Karl Hegers und werden zugleich gegeneinander differenzierbar.

Für mich lassen sich jedenfalls die "Eßritual-Bilder" Karl Hegers den "Restaurants" Daniel Spoerris, in denen der Künstler als Küchenchef exotischer Gerichte amtierte, während die Kunstkritiker als Kellner bedienten, durchaus vergleichen. Aber während Spoerri eine Galerie zum Restaurant umfunktioniert, dienen Karl Heger der ausgediente Festsaal der elterlichen Gastwirtschaft als Atelier, seinen Bildern die vergangenen Tafelfreuden zum Anlaß. Anders gesagt: für Spoerri ist die Inszenierung des Essens ebenso wichtig wie die Konservierung seiner Reste, des Übriggebliebenen, vollzieht sich ein Prozeß von der unmittelbaren Erfahrung zur mittelbaren Erinnerung, während Hegers Kunst von Anfang an mittelbar ist, Erinnerung an eine vergangene Zeit, in der z B. der Erntedank Anlaß für ein frugales Festmahl war, aber auch an eine Zeit, in der der Abfall der Natur noch in den natürlichen Kreislauf von Vergehen und Werden eingebunden, in der altes Brot noch nicht weggeworfen sondern verwertet wurde, sei es für Brotsuppe, sei es als Viehfutter. So entwickeln sich die "Erntedankaltäre", die Objektkästen, die Brotreste und Herbstlaub aufnehmen, die "Erbsen-" und "Ährenpyramiden" und ähnliches durchaus folgerichtg aus den "Eßritual-Bildern".

Indem aber Heger das auf den Feldern Stehengebliebene, das von der Natur abgeworfene aufhebt, mit ihm umgeht und dabei die Erfahrung des Lebens-Mittels (Heger) in einem wörtlichen Sinne macht, berührt sich seine Entwicklung mit der Herman de Vries', der seit Jahren, unterstützt vom Ministerium für Wohlfahrt, Volksgesundheit und Kultur, in Nordafrika, Indien und anderswo nach natürlichen Heilmitteln und Drogen fahndet, um seine Fundstücke dann mit den zugeschriebenen (auch magischen) Kräften zu dokumentieren.

Aber während Herman de Vries darüber fast zu einem ästhetischen Medizinmann und Schamanen wurde, blieb Karl Heger, bis heute jedenfalls, auf die heimische Landschaft beschränkt, auf die Sammlung naheliegenden Kunst-Materials zur Anspielung inzwischen oft fernliegender, jahreszeitlich bedingter Kulturbräuche. Wo Herman de Vries mit Ernst bei der Sache ist, kann Karl Heger auch witzig sein, wo jener penibel ordnet wirkt dieser gerne verspielt, vereint also in sich zwei in der Kunst nicht eben häufige Tugenden. Dennoch darf man sich hier nicht täuschen lassen. Denn im Anspielen der alten, naturbedingten Bräuche klingt die Klage um die Entfremdung von Natur und Kultur, von Natur und Leben durchaus mit, ist aber nicht immer so leicht zu erschließen wie über die "Erntedankaltäre". Die Bedeutung des Objekts "Spendbrot" (1981) erschließt sich z.B. nur, wenn man von Stiftungen weiß, die vorschrieben, zu bestimmten Anlässen, etwa der Kirchweih, im Ort eine bestimmte Menge Brotlaibe zu verteilen. Wobei sich die Bedeutung, die Heger diesem Objekt beimißt, schon der Tatsache ablesen läßt, daß er einer ersten Serie der "Spendbrote" eine zweite Serie "Brot/Stein/Back" folgen ließ. Neben solchen konkret erschließbaren stehen andere Objekte, die eher allgemein auf Mythisches verweisen, etwa die "3 Eichhörner" (deren Titel durch das Objekt eine witzige Ent-Täuschung erfährt) oder das "Rhabarberhorn", für deren Bewertung die Traditon des mythischen Symbols (Horn; vgl. auch Einhorn) ebenso mitzubedenken ist wie die volkstümlich dem Rhabarber, der Eiche zugewiesenen (Heil)Kräfte.

Haben, ließe sich dies auch sagen, Hegers Objekte durch ihren Witz erst einmal die Aufmerksamkeit des Betrachters erreicht, zielen sie - dem klassischen delectare et prodesse gar nicht sofern - in zweiter Linie auf seine Nachdenklichkeit. In diese Nachdenklichkeit als Problem eingeschlossen sind die Fragilität, der natürliche Verschleiß und Zerfall solcher Objekte, was zugleich die Vorstellung von Wertbeständigkeit und -zuwachs des Kunstwerks konterkariert. Dazu ist mehreres zu sagen:

1. daß es sehr berühmte Kunstwerke gibt, die ihre bekannte Gestalt fast ausschließlich der Kunst der Restauratoren verdanken
2. wenn man Hegers Objekte mit gewissem Recht als Natur-Denk-Male (Wirth) bezeichnet, umfaßt diese Klassifizierung neben dem Denkmal (dem Kunstwerk) auch sein Mittel (die Natur). Und dieses Medium ist charakterisiert durch den unendlichen Wechsel von Werden und Vergehen. Diese Einsicht wird so
3. dem Betrachter der Hegerschen Objekte unnachahmlich demonstriert. Aber auch die Erkenntnis, daß sich solche Objekte durchaus neu bestücken, bespannen, in ihrem ästhetischen Sinne wieder funktionstüchtig machen lassen. Was sich
4. so auslegen läßt daß es durchaus in der Hand des Menschen liegt, der Natur abgelesene Formen, im Umgang mit ihr natürlich entstandene Instrumente, die ihnen zugewiesene mythische oder rituale Funktion aus dem Verschleiß des gesellschaflichen Alterns heraus immer wieder neu zu bewahren und sich damit gegenwärtig zu machen. Also innerhalb dessen, was übrig bleibt wenn man alles vergessen hat, das Gedächtnis an das wachzuhalten, was vergessen wird.

Genau dies will meiner Meinung nach auch Heger sagen, wenn er seiner Kunst die Aufgabe stellt, in einem utopischen Moment zurück und zugleich voraus [zu] weisen. Das "Spendbrot" ist z.B. bereits in der Zeichnung (dem selbständigen Entwurf), erst recht in seinen Objektivierungen Erinnerung an ein unwiederholbares Ritual und gleichzeitig als Denk-Mal dieses Rituals Ausdruck der Überzeugung, daß eine Gesellschaft ohne Rituale nicht auskommen kann, sie immer wieder neu schaffen muß, um sie immer wieder zu vergessen.

[Druck in: Kunst Handwerk Kunst. Kornwestheim: Edition Geiger 1986]

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