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Reinhard Döhl | Günther C. Kirchbergers unterirdische Reise und seine Zeichnungen zu den Ägyptenserien

"Zeichnungen zu den Ägyptenserien" sind die Arbeiten überschrieben, die Günther C. Kirchberger in den letzten Jahren gezeichnet hat. Das bedarf, um nicht mißverstanden zu werden, einer Erläuterung. Denn keinesfalls heißt dies, daß es sich bei ihnen um Zeichnungen handelt, die zu späteren oder gleichzeitigen Bildserien gehören oder führen. Die letztjährigen Arbeiten sind vielmehr das ästhetische Substrat idealer Reihen, die Kirchberger unter Serientitel, wie "Scheintüren", "Pylone", "Chepri", "Das mittlere Tor des Binsengefildes", "Weg des Rosetau", "Doppelkrone", "Memnon" und so weiter zusammengefaßt hat (l). In der Chronologie dieser Serien schließt Kirchbergers letztjährige Produktion mit der "Pforten-Serie" und vor allem mit der jüngsten "Ufer-Serie" ab.

Statt "Zeichnungen zu..." hat Kirchberger in den letzten Jahren seine Arbeiten gelegentlich auch "Vor-Bilder" genannt und damit zu signalisieren versucht, daß es ihm um einen Zustand vor dem definitiven Bild geht. Ästhetisch gesprochen: daß es nicht mehr darum geht, Ausgangsfragen bis zu einer definitiven bildnerischen Antwort durchzuspielen, sie vielmehr immer neu und anders zu stellen. Diese Verlagerung des Interesses von der definitiven Bildlösung auf den Prozeß, die Annäherung an etwas letztlich Unerreichbares, läßt sich am Beispiel deutlicher zeigen, als abstrakt erklären.

Ich wähle dazu ein Beispiel aus der "Pforten-Serie". Ausgangspunkt ist die Vergrößerung eines Dias, das Kirchberger in Luxor aufgenommen hat. Ihm folgt die Kopie einer von sieben ebendort entstandenen Skizzen. Dann eine von insgesamt drei Zeichnungen auf Karton, die bereits als Vor-Bild angesprochen werden kann. Und schließlich als eigentliches Vor-Bild eine Zeichnung auf Leinwand.

Wenn auch lückenhaft, ist diese Folge von Foto, Skizze und Zeichnungen dennoch geeignet, in verkürzter Form über Vorgehen und Arbeitsweise Kirchbergers, über sein Anliegen, wie das Anliegen der Ägyptenzeichnungen allgemein, Auskunft zu geben. Das Foto hält dabei einen möglichen Ausgangspunkt fest. Die Zeichnungen auf Karton bzw. auf Leinwand sind die Ergebnisse einer künstlerischen Auseinandersetzung - Vor-Bilder im Sinne Kirchbergers. Und die kopierte Skizze steht stellvertretend für Stationen der Bildgenese, und zwar meditative Stationen, die sich zum einen in deutlich erkennbarer Reduktion vom Ausgangspunkt entfernen, zum anderen sich in dieser Entfernung den ästhetischen Lösungsversuchen der Vor-Bilder zugleich annähern.

Ich darf mit dem vergrößerten Dia beginnen. Es zeigt, wie jede Fotografie, bereits einen Ausschnitt, ein begrenztes Stück Wirklichkeit. Konkret ist dies ein Stück architektonischer Trümmerlandschaft am Rande des Tempelkomplexes von Karnak. Was dem Künstler dort ins Auge fiel und die Kamera im Ausschnitt festhielt, ist eine Treppe, die zu einer Tür führt, durch die Tür hindurch und - was man allerdings nicht sieht, sich aber aus der Fotografie leicht ergänzen kann - plötzlich abbricht, in der Luft, im Himmel, im Nichts (wie immer Sie wollen) endet (2).

(Biografisch ist zu ergänzen, daß diese architektonische Trümmerlandschaft Kirchberger seit seinem ersten Karnak-Besuch 1979 unerklärlich angezogen hat, so sehr, daß er auf jeder seiner Ägyptenreisen von dieser touristisch und architektonisch eigentlich unbedeutenden Stelle Dias gemacht hat).

Erst eine erste Skizze von 1983, die den Ausschnitt des Fotos sichtlich noch einmal verknappt auf Treppe, Mauer und Tür, läßt erkennen, was Kirchberger über Jahre unerklärt angezogen hat. Und erst bei diesem ersten Versuch, in der Skizze festzuhalten, was bisher die Dias noch unerkannt enthielten, stellt sich für Kirchberger mit der Assoziation der Jakobsleiter auch eine erste inhaltliche Erklärung seiner Faszination ein.

Auf die archetypische, tiefenpsychologische Dimension dieser Assoziation will ich hier noch nicht näher eingehen, sondern zunächst bei der Skizze bleiben. Sie ist, bezogen auf die ihr folgenden Skizzen, der erste einer Reihe von Reduktionsschritten, die immer deutlicher alles Daseinszufällige weg- und das für Kirchberger Wesentliche heraustreten lassen. Das wären in diesem Fall

a) die Treppe, der Aufstieg. Kompositorisch gesprochen die Diagonale.
b) Die Tür; der Durch- oder Ausgang. Kompositorisch gesprochen die Zentralfigur.
Bis zu diesem Moment bewegen sich Kirchbergers meist vor Ort entstehende Skizzen meditativ von ihrem Ausgangspunkt weg. Die Wende, die Hinbewegung auf die spätere Zeichnung, das Vor-Bild setzt dort ein, wo Kirchberger in die Skizzen versuchsweise etwas einschreibt, das nicht mehr nur den Ausgangspunkt bezeichnet. Steht hier in der Treppe der ersten Skizze ausschließlich der Hinweis auf Karnak, ist dies in einer weiteren Skizze ein ungenaues Zitat aus dem "Pfortenbuch" der "Unterweltsbücher" der Ägypter: "Die Tür ist offen, der Himmel ist geöffnet".

War es zunächst die Assoziation der Jakobsleiter, die Kirchberger seine Faszination erklären half, ist es jetzt die Assoziation eines Zitats, die die Hinwendung zur ästhetischen Umsetzung und Lösung im Vor-Bild einleitet. Das erklärt zugleich, warum Kirchbergers Lösungen nicht nur formale, sondern auch eine inhaltliche Dimension haben. Daß diese Lösungen nicht eindeutig sein müssen, daß in der Regel mehrere Lösungen möglich sind, läßt die Zahl der schließlich entstehenden Zeichnungen bzw. Vor-Bilder erkennen.

Von ihnen aus gesehen, ließen sich die hinführenden Skizzen sogar als Vor-Zeichnungen verstehen, so daß sich deutlich vier Stufen der Bildgenese unterscheiden lassen:

a) Das auslösende Moment, der Ausgangspunkt.
b) Die alles Daseinszufällige eliminierende, auf das Wesentliche reduzierende Skizze.
c) Die Vor-Zeichnung und Hinwendung zum Vor-Bild. Und
d) die endgültige Zeichnung, die Lösung im Vor-Bild,
wobei Lösung in einem doppelten Sinne zu verstehen ist, als endgültige Loslösung von dem realen Ausgangspunkt und als ästhetische Lösung, also der Gewinn einer ästhetischen Wirklichkeit. Erst sie stellt das vor; was man einen echten "Kirchberger" nennen könnte.

Diese ästhetische Wirklichkeit, ihre Bild-Ordnung ist allen Ägypten-Zeichnungen Kirchbergers anhand des Rasters ablesbar; das ihnen im Atelier in ihrer letzten Ausarbeitung unterlegt wird und zumindest als Spur einer Systematik erkennbar bleibt, mit deren Hilfe sich leicht weitere ästhetische Besonderheiten der Vor-Bilder bestimmen lassen. Ich beschränke mich als Beispiel auf den Abbruch der Treppe links unten, der ja weder dem Treppenverlauf der Ruine, noch der ersten Skizze, noch allgemein einem Treppenverlauf entspricht. Auch die Zuordnung der Tür als Zentralfigur des Bildes zu den waagerechten und senkrechten Mittelachsen ist hier aufschlußreich.

Kirchbergers Bildsystematik kann von Fall zu Fall variieren. In der Regel bevorzugt er Ordnungsverhältnisse von 2 zu 3 oder 3 zu 4. Diese allen Zeichnungen und Vor-Bildern zugrunde gelegten Proportionssysteme und die gezielten kleinen Verstöße dagegen (etwa im Treppenabbruch) entsprechen dem, was man früher Komposition nannte.

Eine kleine Abschweifung ist hier zusätzlich aufschlußreich. Hohe Ordnungsgefüge sind nicht nur aus der altägyptischen Kultur bekannt, sie haben zum Beispiel auch der griechischen Kunst nach einer protogeometrischen Übergangsphase zwischen 900 und 700 vor Christus die Epochenbezeichnung "Geometrische Kunst" eingebracht. In einer ähnlich strengen Systematik spiegeln sich die geistigen Ordnungen der Romanik und Gotik - in den herrschenden Methoden der Triangulation und Quadratur. Noch das 17. Jahrhundert kennt eine Quadraturmalerei. Und nirgendwo ist die Bedeutung von Triangulation und Quadratur im ausgehenden Mittelalter deutlicher abzulesen als an den Kirchengrundrissen, der Architektur der damaligen Zeit. Diese Maßsysteme waren der Kirchbergerschen Malerei bereits in den späten 60er Jahren eigen, hatten ihn vor allem in Mittel- und Südfrankreich zu jahrelangen intensiven Architektur-, Plastik- und Malereistudien angeregt. Von ihnen her war also Kirchberger auf das hohe Ordnungsgefüge altägyptischer Kunst, auf die Systematisierung von Sinnbildlichkeit durchaus vorbereitet.

Sind Kirchbergers Ägyptenserien derart zum einen Spiegelungen einer Kunst hohen Ordnungsgrades, enthalten sie zum anderen, und in den letzten Jahren davon untrennbar, Hinweise auf die Unterwelt als eines Ortes, der uns nicht erst seit der modernen Tiefenpsychologie zur Metapher eigener Seelenerkundung geworden ist. Das ist mitzubedenken, wenn man nach Funktion und Bedeutung der Textzitate in den Ägyptenzeichnungen fragt.

Wiederum darf ich beim Ausgangsbeispiel ansetzen, den Vor-Bildern zur Pforten-Serie. Ihnen allen ist eingeschrieben: "Die Tür ist offen. Der Himmel ist geöffnet". Der Ort der Inschrift kann wechseln: er kann die Tür sein, wo Kirchberger sie anschließend wieder weitgehend zugezeichnet hat, als sei ihre Lektüre nicht für jedermann bestimmt. Der Text kann links und rechts neben der Tür stehen, wie auf der Leinwandzeichnung dieser Ausstellung. Er kann aber auch dem Bild lediglich unterschrieben sein. Was diese Zitate wollen, klärt sich, wenn man die Stellen der "Unterweltsbücher", des "Totenbuches" aufsucht, die durch Kirchbergers Einschrift angespielt werden. Wobei vorauszuschicken ist, daß sowohl der Sonnengott RE im Laufe der Nacht, wie die Seele des Menschen nach dem Tode zwölf Pforten zu durchschreiten haben, um entweder in den Westen, das Jenseits der Sterblichen zu gelangen, oder - im Falle des Sonnengottes - im Osten neugeboren zu werden.

Im "Pfortenbuch" der "Unterweltsbücher", das den Weg des REs durch die Unterwelt beschreibt, stößt der Leser am Ende der zweiten Stunde, am Schluß des unteren Registers auf die zweite Pforte, bei deren Beschreibung ich der verdienstvollen Edition Erik Hornungs folge:

Die Pforte heißt "Mit scharfer Glut", der (obere) Wächter der ersten Mauer "Der die Nichtseienden verschlingt", der (untere) Wächter der zweiten Mauer "Blutschlürfer". Bei beiden Wächtern steht der Vermerk "Er beugt seine Arme für RE" (d.h. er läßt den Sonnengott ungehindert passieren.) [...] Im Tor; vor den Mumien [...] steht der Text: "Geöffnet ist die Pforte für ACHTI", aufgetan ist die Tür für "Den, der im Himmel ist".
RE, könnte man, ein wenig verkürzt sagen, bedarf also dieses Spruches eigentlich gar nicht, um die zweite Pforte zu durchschreiten. Anders dagegen die Seelen der Verstorbenen. So sind denn auch die Belege für Kirchbergers Zitat im "Totenbuch" ungleich zahlreicher; einem Buch, dessen 190 Sprüche es den Seelen der Verstorbenen erleichtern und ermöglichen sollten, die 12 Pforten der Unterwelt trotz der schrecklichen Türwächter unbeschadet zu passieren. Ich beschränke mich auf je ein Zitat aus dem 60. und 68. Spruch: "Geöffnet sind mir die Türen des Himmels, aufgetan sind mir die Türen des Firmaments" und "Geöffnet sind mir die Türflügel des Himmels, geöffnet sind mir die Türflügel der Erde."

Diesen Zitaten lassen sich weitere zur Seite stellen, die den einzelnen Serien Kirchbergers ihre Titel gegeben haben, die einzelnen Zeichnungen dieser Serien eingeschrieben sind. Das sind zum Beispiel in dieser Ausstellung bei den Zeichnungen zur "Ufer-Serie" vor allem die Inschriften "Ich kenne den Namen des Ufers", oder "Das ist das himmlische Ufer", oder "Das ist das himmlische Ufer, auf dem die Götter stehen". In den meisten Fällen zitiert Kirchberger dabei nicht genau, will er offensichtlich auch nicht genau zitieren, denn es wäre ihm im Atelier ein Leichtes, in den "Unterweltsbüchern", im "Totenbuch" nachzuschlagen.

Aber noch ein zweites ist wichtig. Die Zitate, von Kirchberger zum Beispiel den Registern des "Pfortenbuches" entnommen, werden bei Einschrift ins Bild von ihrer ursprünglichen lkonographie getrennt. Die Beschreibung der zweiten Pforte der Unterwelt läßt sich kontextuell keinesfalls als Textillustration zum oberirdischen Ruinentor in Karnak heranziehen. Damit ist eine Fehldeutung: Kirchberger wolle den Mythos noch einmal zurückrufen, von vorn herein ausgeschlossen. Wenn er den Mythos anspielt, verfolgt er also (über die ästhetische Anspielung einer Kunst hohen Ordnungsgrades hinaus) einen ganz anderen Zweck. Und den verstehe ich als Hinweis auf eine Reise durch die eigene Unterwelt und zugleich als Sinnsuche mit ästhetischen Mitteln. Eins ist hier vom anderen nicht zu trennen.

Man kann sich dies deutlich machen, wenn man das, was Kirchberger Vor-Bild nennt, in einer dritten Bedeutungsschicht als Mandala versteht, als Meditationstafel. Dies verweist im heutigen Sprachgebrauch zugleich auf die komplexe Psychologie C.G.Jungs, die in mandalaähnlichen bildhaften Gestaltungen Symbole einer im lndividuationsprozeß sich vollziehenden Selbstwerdung sieht. Da, wie wir heute zu wissen glauben, jede Selbsterkundung und Therapie einer Reise ins Totenreich gleichkommt, bei der man gewissermaßen in seine eigene Unterwelt herabsteigt, lassen sich auch Kirchbergers Reise durch die ägyptische Unterwelt als ein solcher Erfahrungsweg deuten, seine Zeichnungen als Stationen einer solchen Reise durch das eigene Unterbewußte, durch die eigene Gegenwelt betrachten.

Dabei lassen die Inschriften der letzten beiden Serien, "Die Tür ist offen, der Himmel ist geöffnet", bzw. "Ich kenne den Namen des Ufers", ablesen, daß diese unterirdische Reise Kirchbergers weitgehend abgeschlossen ist. So ist es vielleicht auch kein Zufall, wenn sich Kirchberger in seiner zeichnerischen Syntax zunehmend mehr Freiheiten gestattet, wieder eine freiere Gestik gewinnt, die gelegentlich sogar an Arbeiten aus den frühen 60er Jahren erinnert. Allerdings mit dem zentralen Unterschied, daß diese die strenge Bildsystematik der letzten 15 Jahre noch nicht kannten, eine Systematik, die bereits entwickelt war; bevor Kirchberger seine unterirdische Reise begann. Das ist übrigens auch ein zentraler Grund, warum für Kirchberger gerade die altägyptische Kultur mit ihren "Unterweltsbüchern", ihrem "Totenbuch" so bedeutend wurde und nicht das "Tibetanische (oder ein anderes) Totenbuch", die "Odyssee", oder was auch immer an archetypischer Literatur und Kunst sich hier anbieten könnte.

Daß Kirchberger die Reise durch sein eigenes Unterbewußtes, seine eigene Gegenwelt weitgehend abgeschlossen hat, darf keinesfalls so verstanden werden, als habe er nun, inhaltlich und formal, eindeutige Antworten gefunden. Gerade die Freiheiten, die er sich innerhalb seiner strengen Syntax leistet, das Verwischen der Kontur, des Rasters, die gestischen Konter seiner neuen Zeichnungen stellen eher Fragen als daß sie (ästhetische) Antworten geben. In einer Zeit, die schon Antworten parat hat, bevor überhaupt die Frage gestellt ist, setzt dies eine Erfahrung voraus, die sich ausschließlich auf dem Wege meditativer Selbsterkundung gewinnen läßt. Nicht zuletzt dazu sollen aber Kirchbergers Zeichnungen zu den Ägyptenserien den Betrachter ebenso anhalten wie zu der Einsicht, daß eine offen gehaltene ästhetische Welt einen höheren Realitätsgrad besitzt als eine zufällige Wirklichkeit, daß - um es auf eine Formel der Renaissance zu bringen - die Vorstellung mehr wert ist als die Wirklichkeit.

[Kunstverein Ellwangen,17.03.1985; Galerie am Wall Waldshut, 21.04.1985. Druck in: Kunst Handwerk Kunst. Kornwestheim: Edition Geiger 1986]
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Anmerkungen
1) Vgl. meine Einleitung zu dem vom Kulturamt herausgegebenen, umfangreichen Katalog der Ausstellung 1981 in der Galerie der Stadt Sindelfingen.
2) Der Forschung zufolge hat sich hier ursprünglich eine Plattform "für die Astronomen des Tempels, die mit der Beobachtung der Planetenbewegungen betraut waren", befunden. "Zu dieser Plattform führte eine noch erhaltene Treppe am Ausgang der Sokar-Halle". Angelika Tulhoff: Thutmosis III. München: Callwey 1984, S.127.