Reinhard Döhl | Wolfgang Koeppen

In einer "Autobiographischen Skizze" (1961) hält Wolfgang Koeppen über die Zeit seines politisch bedingten Schweigens und seinen literarischen Neuansatz (1951) rückblickend fest:

"Das Grauen kam über die Welt. Ich stellte mich unter, ich machte mich klein, ich ging Eulenspiegels Wege, ich erlebte Grotesken und Verhängnisse, Freundschaften und Verrat, ich war ein Schaf unter Wölfen und ein Wolf unter Schafen, ich wollte das Ende der Tragödie sehen, und als der Vorhang fiel, war ich erschöpft. Ich wunderte mich über die vielen Unschuldigen, die auf einmal auftauchten und zur Krippe gingen, über die alten Schuldigen, die ihre Stellungen hielten oder verbesserten, über jeden, der nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewußt und nichts gelernt hatte. Ich lebte. Es ging mir schlecht. Ich hatte die Freiheit und die Freiheit zu verhungern. Das ist sehr viel!

Eines Tages kam Henry Goverts, der Verleger, zu mir. Er fragte mich: Warum schreiben Sie nichts mehr? Da fragte auch ich mich, worauf ich all die Jahre gewartet hatte und warum ich Zeuge gewesen und am Leben geblieben war" (67 f.).

Diesem Rückblick ordnet sich in merkwürdiger Weise eine einige Jahre später geschriebene "geographische" Rückerinnerung an das "Romanische Café" - "Ein Kaffeehaus" (1965) - vor:

"... und ich floh in einer Nacht im November durch die Kanäle der Stadt, durch die dunklen Adern ihrer unterirdischen Kommunikation, über die stromlosen Schienen der Untergrundbahn, ich traf Hadesgespenster, die kleinen Herren der kleinen ohnmächtigen Zeitungen, geprügelte verfolgte Politiker, verstummte Dichter, gefesselte Künstler und Bekanntschaften, die sich den Stern der Schande abgerissen hatten, die nicht ihre Schande war, wir waren in Schlafdecken gehüllt oder in Säcke, wir schützten das Gesicht mit feuchten Tüchern vor dem beißenden Rauch, wir waren im Purgatorium zwischen Wittenbergplatz und Zoologischem Garten, ein Verleger stolperte über Schotter und Schwellen und sagte, Sie werden das schreiben, und ich dachte, ich werde es schreiben, und wußte, daß ich starb, in dieser Zeit, in diesen Jahren, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt" (95).

Beide Zitate, denen sich leicht weitere zur Seite stellen lassen, ergänzen sich, zeigen den Autor Koeppen als engagierten Beobachter, weisen seine Bücher als zeitbezügliche und -anzügliche Literatur aus und lassen zugleich eine aus Erfahrung gewachsene "aggressive Resignation" (Reich-Ranicki), einen aggressiven Pessimismus als wesentlich zugrunde liegende Haltung vermuten. Sie deuten das Gebrochene einer Grundhaltung an, das Dilemma eines Autors, der eine das "Grauen" veranschaulichende, die gesellschaftspolitischen und psychologischen Hintergründe dieses "Grauens" aufdeckende Erzählung nicht mehr einfach schreiben konnte. Sie stellen einen Autor vor, der sich, außenstehender und betroffener Zeuge zugleich, miteinbeziehen mußte in den Versuch einer zeitkritischen Prosa, die sich nicht nur auf die drei Romane der Nachkriegszeit beschränkt, die vorbereitet ist in den beiden Romanen der Vorkriegszeit und die ihre Fortsetzung erfährt sowohl in den "empfindsamen" Reisebüchern als auch einer ihnen folgenden "autobiographischen" Kurzprosa vor allem seit Ende der sechziger Jahre.

Wie kein zweiter Autor der Nachkriegszeit hat Koeppen in zahlreichen veröffentlichten und unveröffentlichten Gesprächen versucht, seine Rolle als Schriftsteller, sein Selbstverständnis als Autor zu formulieren, so gegenüber Horst Krüger: "Ich will nicht sagen, daß ich mich heraushalten möchte, ich erfülle meine Aufgabe, die des Beobachters, die des Nichtteilnehmers, ich mache nicht mit, aber ich schreibe auf. Ich möchte aus den Angeln heben, aber als Außenseiter", um schließlich zu bestätigen, daß ein solches Aufschreiben "in gewissem Sinne" auch "eine andere Form des Mitmachens" sei (66). Einem für ihn derart bezeichnenden Zurücknehmen entspricht, daß sich beim "Zeugen" Koeppen Nichtteilnehmenwollen und Betroffenheit gleichsam ständig im Wege stehen, daß auch seine gewollte und immer wieder betonte "Außenseiter"-Rolle kaum eindeutig zu bestimmen ist. Dies zeigen die zahlreichen Gespräche, die immer wieder ansetzenden "autobiographischen" Versuche der letzten Jahre. Das wird schließlich sichtbar an einem auffallenden Interesse, welches Koeppen in Portraits und Vorworten anderen unterschiedlichsten Außenseitern wie Lowry, Lawrence, H. Miller, Shelley oder Rumohr entgegenbringt.

Es ist für das bisher vorliegende literarische Werk Koeppens bezeichnend, daß es gleichsam schubweise erschienen ist. Seinem ersten Roman "Eine unglückliche Liebe" (1934) folgte ein Jahr später "Die Mauer schwankt" (1935; 1939 noch einmal unter dem Titel "Die Pflicht" aufgelegt). Sicherlich stand Koeppen nach Erscheinen seines zweiten Romans, zumal bei einem jüdischen Verleger (Bruno Cassirer), 1935 auch vor der Frage, sich anzupassen oder zu schweigen, so daß hier eine primär durch die gesellschaftlich-politischen Umstände bedingte Zäsur vorliegt. Ein solcher Zwang lag jedoch nicht vor, als nach Publikation der Romane "Tauben im Gras" (1951), "Das Treibhaus" (1953) und "Der Tod in Rom" (1954) der Romanautor Koeppen erneut und bis heute schwieg. Auch die Phase der "empfindsamen" Reisebücher "Nach Rußland und anderswohin" (1958), "Amerikafahrt" (1959), "Reisen nach Frankreich" (1961), der der Radioessay "Die Erben von Salamis" (1962) und ein Nachwort zu Flauberts "Reisetagebuch aus Ägypten" (1963) noch zuzurechnen wären, scheint abgeschlossen, so daß sich dem Beschreiber drei jeweils auf wenige Jahre konzentrierte Phasen bieten, die insgesamt die literarische Entwicklung Koeppens zeigen, die aber in sich jeweils literarische Entwicklungen, jede folgende Phase gewissermaßen als neuen Ansatz erkennen lassen. Als jüngste Phase wäre schließlich die noch offene Phase der "autobiographischen" Kurzprosa zu nennen. Immer noch ist ein seit 1963 angekündigtes Buch, "eine Art Autobiographie zwischen Dichtung und Wahrheit" (Koeppen gegenüber Koch) nicht erschienen, doch läßt ein von Koeppen genannter möglicher Titel, "Bismarck oder all unsere Träume", lassen vor allem die seit "Anamnese" (1968) erschienenen kurzen Prosastücke vermuten, daß der Schriftsteller Koeppen gleichsam noch einmal zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren versucht. Daß er sich dabei "einen jungen Mann zurechtgelogen" hat, "der sozusagen stellvertretend noch einmal seine, Koeppens, Erinnerung transportieren sollte" (Koeppen gegenüber Heißenbüttel), deutet an, wie schwer diese Versuche gefallen sind. Es läßt zugleich fragen, ob nicht vielleicht und in welchem Maße auch die fiktiven Figuren der Koeppenschen Romane (Friedrich etwa in "Eine unglückliche Liebe", Philipp in "Tauben im Gras") stellvertretend" Koeppensche Erfahrung "transportieren".

"Als Friedrich zum erstenmal über eine Grenze in ein anderes Land reiste, waren ihm Grenzen nicht fremd", beginnt Koeppens erster veröffentlichter Roman "Eine unglückliche Liebe", und er schließt: "Sie nickte: ,Ich werde heimfahren (...)'. Sie lachten beide, und sie wußten, daß sich nichts geändert hatte, und daß die Wand aus dünnstem Glas, durchsichtig wie die Luft und vielleicht noch schärfer die Erscheinung des anderen wiedergebend, zwischen ihnen bestehen blieb. Es war dies eine Grenze, die sie nun respektierten; und Sibylle blieb für ihn bestimmt; und Friedrich war der Mensch, der ihr gehörte. Es hatte sich nichts geändert" (258).

Diese beiden Zitate umschließen die Geschichte der unglücklichen Liebe eines jungen Mannes der zwanziger Jahre zu einer zweitklassigen Kabarettistin, einer Liebe, die ins Leere hineinmündet, die nicht und nirgends erfüllbar ist. Der Schluß bleibt offen. Gleichzeitig enthalten die beiden kurzen Zitate bereits einige Schlüsselworte, die sich leicht herauslösen und zu einem abstrakten Modell möglicher Geschichten zusammenfügen lassen. Es sind dies die Worte "Reisen", "Grenze" (leicht ersichtlich als Landesgrenze und nicht überschreitbare Grenze zwischen zwei Menschen mehrdeutig eingesetzt), "fremd", die Umkehrung des Reisens: "heimfahren" und das pessimistische Resümee: "es hatte sich nichts geändert".

Das abstrakte Modell möglicher Geschichten, an das man denken könnte, würde etwa so aussehen: Ein Mensch reist über eine Grenze in ein fremdes Land. Ein anderer (oder derselbe) Mensch fährt aus einem fremden Land über die Grenze zurück. Die leicht überschreitbaren Landesgrenzen sind dem Menschen nicht fremd. Unüberschreitbar ist dagegen die Grenze zwischen zwei Menschen. Sie ist durchsichtig und dünn wie eine Glaswand, aber sie muß schließlich respektiert werden. Fraglos ließe sich dieses Modell möglicher Geschichten noch weiter abstrahieren und präzisieren, aber für unseren Zusammenhang reicht es als Hilfskonstruktion aus. Hinter dem Modell, das - wie die "Autobiographische Skizze" zeigt - in der Biographie Koeppens seine Entsprechungen findet, verbergen sich grundsätzliche Erfahrungen: Die Erfahrung des Reisens, der Ortsveränderung. Die Erfahrung der Vergeblichkeit des Reisens; die Erfahrung der nicht überschreitbaren Grenze zwischen zwei Menschen; und schließlich die Erfahrung, daß sich im Grunde auch durch eine Vertauschung der Schauplätze nichts ändert.

Es soll nun gezeigt werden, daß sich diese Grunderfahrungen, mehr oder weniger stark variiert, in Koeppens Büchern wiederholen, wobei sich zwar Hintergrund und "Fabel" wesentlich ändern können, wobei aber das, was Koeppen zeigt, immer auf dasselbe hinausläuft.

In seinem zweiten Roman "Die Mauer schwankt" versetzt Koeppen einen aus der spannungsgeladenen Vorkriegsatmosphäre des Vorderen Orients nach Deutschland zurückgekehrten Baumeister aus der Haupt- in eine Provinzstadt des Ostens, die von Russen zerstört wird. Der Baumeister baut schlechten Gewissens "die alten Häuser einer alten Stadt im alten Stil" wieder auf, wohl fühlend, daß das "bürgerliche" Zeitalter "vor einem anderen zu Ende" geht. Wiederum findet sich das Motiv des Reisens über Grenzen, der vergeblichen Heimkehr. Aber es machen sich darüber hinaus jetzt zeitkritische Tendenzen bemerkbar, die dann in den Romanen der Jahre 1951 bis 1954 thematisch bestimmend werden.

In seinem ersten Nachkriegsroman bietet Koeppen in einer dem, was er zeigen will, genau entsprechenden Mosaiktechnik die scheinbar zufällig durcheinander gespielten Geschicke deutscher, amerikanischer, englischer Menschen, Schwarzer und Weißer, Verfolgter und Verfolger, Erfolgreicher und Erfolgloser an einem Tag im namentlich nicht genannten München des Jahres 1951. Nicht mehr die, wenn auch sehr komplizierte und verwickelte, Geschichte einzelner oder weniger Menschen skizziert Koeppen in "Tauben im Gras", sondern ein "Pandämonium": einen verwirrenden Wechsel von Ereignissen und Personen, von Ängsten und falschen oder unerfüllbaren Hoffnungen, von Süchten und Selbsttäuschungen, die Suche nach dem "Schein eines Haltes in einer sinnlosen Welt", von der es heißt, daß sie vielleicht nur "ein grausamer und dummer Zufall Gottes" sei. Die Träume werden zu Alpträumen. "Am Himmel summen die Flieger. Noch schweigen die Sirenen. Noch rostet ihr Blechmund. Die Luftschutzbunker werden gesprengt; die Luftschutzbunker werden wieder hergerichtet. Der Tod treibt Manöverspiele. Bedrohung, Verschärfung, Konflikt, Spannung. Komm-du-nun-sanfter-Schlummer. Doch niemand entflieht seiner Welt. Der Traum ist schwer und unruhig. Deutschland lebt im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, zerbrochene Welt, zwei Welthälften, einander feind und fremd. Deutschland lebt an der Nahtstelle, an der Bruchstelle, die Zeit ist kostbar, sie ist eine Spanne, vertan, eine Sekunde zum Atemholen, Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld" (270).

Schwer und unruhig ist der Traum auch für Keetenheuve, den Abgeordneten der Opposition, die zentrale Figur von Koeppens nächstem Roman "Das Treibhaus". Auch hier findet sich wieder das Motiv des Reisens, der Heimkehr. Gleich der erste Satz lautet: "Er reiste im Schutz der Immunität", und etwas später heißt es: "Er saß im Nibelungenexpreß. Es dunstete nach neuem Anstrich, nach Renovation und Restauration; es reiste sich gut mit der deutschen Bundesbahn; und außen waren die Wagen blutrot lackiert. Basel Dortmund, Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers; Kurswagen Wien Passau, Fememörder Hagen hatte sich's bequem gemacht; Kurswagen Rom München, der Purpur der Kardinäle lugte durch die Ritzen verhangener Fenster; Kurswagen Hoek van Holland London, die Götterdämmerung der Exporteure, die Furcht vor dem Frieden. Wagalaweia, rollten die Räder" (7 f.). Dieser Keetenheuve war vor den Nazis geflüchtet, hatte hinter dem Mikrophon für Deutschland, für Tyrannensturz und Frieden gekämpft. Er war als Abgeordneter zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau zu helfen. Wie der Baumeister in "Die Mauer schwankt" macht auch Keetenheuve die Erfahrung, daß Kampf und Rückkehr vergeblich waren; deutlich kommt das alte Gesicht wieder zum Vorschein. Da Opposition wie Regierung keine klare neue Konzeption haben, vielmehr eifrig um Restauration und Renovation bemüht sind, geht Keetenheuve in die hoffnungslose Opposition zur Opposition. Und da er überdies in seiner Liebe zu einem wesentlich jüngeren Mädchen scheitert, entzieht er sich der Sinnlosigkeit schließlich durch den Freitod im Rhein.

Wie schon in den "Tauben im Gras" sind auch im "Treibhaus" geographischer Hintergrund (das München des Jahres 1951, das Bonn des Jahres 1952) und zeitgeschichtlicher Rahmen (der Nachkriegsalltag in München, die bundesdeutsche Nachkriegspolitik in der provisorischen Hauptstadt Bonn) handgreiflicher, deutlicher erkennbar als in den Vorkriegsromanen. Aber sie lassen eine Identifikation nicht zu, entziehen sich bei genauem Nachfassen dem Zugriff, sind - das muß gegenüber einem weitverbreiteten oberflächlichen Vorurteil ausdrücklich betont werden - auf eine merkwürdige Weise irreal. Koeppen hat für "Das Treibhaus" in einer Vorbemerkung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieser Roman "mit dem Tagesgeschehen, insbesondere dem politischen, nur insoweit zu tun" habe, "als dieses einen Katalysator für die Imagination des Verfassers bildet. Gestalten, Plätze und Ereignisse, die der Erzählung den Rahmen geben, sind mit der Wirklichkeit nirgends identisch. Die Eigenart lebender Personen wird von der rein fiktiven Schilderung weder berührt, noch ist sie vom Verfasser gemeint. Die Dimension aller Aussagen des Buches liegt jenseits der Bezüge von Menschen, Organisationen und Geschehnissen unserer Gegenwart; der Roman hat seine eigene poetische Wahrheit".

Das, was Koeppen hier "poetische Wahrheit" nennt, was als fiktive Wirklichkeit zwar Zeitsatire zuläßt, aber nie Wirklichkeit nur kritisch reproduziert, muß auch für seinen bisher letzten Roman "Der Tod in Rom" geltend gemacht werden, um so mehr, als dieser Roman, wie Heißenbüttel zu Recht betont, notwendigerweise "in der Kolportage endet", mit einem solchen Ende zugleich andeutend, warum es "über die Grenze von Judejahns 'Tod in Rom' hinaus vorerst keine Erzählung gab" (249), und damit wohl auch eine Teilantwort auf die von Fritz Martini in seiner Literaturgeschichte gestellte Frage gibt: "Stieß der Zeitroman auf Grenzen seiner künstlerischen Gestaltung?"

Fast wie ein Stück Reisebeschreibung Koeppenscher Provenienz setzt "Der Tod in Rom" mit einem Rückgriff ein: "Es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt. Jetzt liegt Raffael im Pantheon begraben, ein Halbgott noch, ein Glückskind Apolls, doch wie traurig, was später sich ihm an Leichnamen gesellte, ein Kardinal vergessener Verdienste, ein paar Könige, ihre mit Blindheit geschlagenen Generale, in der Karriere hochgediente Beamte, Gelehrte, die das Lexikon erreichten, Künstler akademischer Würden. Wen schert ihr Leben? Die Reisenden stehen staunend im antiken Gewölbe und blicken verlegenen Antlitzes zum Licht empor."

Vor einem so skizzierten Hintergrund spielen die Geschichten von Menschen, die alle auf ihre Weise das Erbe des Dritten Reiches unbewältigt mit sich herumtragen: vor allem eines ehemaligen NS-Oberbürgermeisters, jetzt opportunistischen Bürgermeisters, und seines Sohnes, eines Päderasten und Zwölfton-Musikers ohne wahre künstlerische Überzeuung; des ehemaligen SS-Generals Judejahn, jetzt Waffeneinkäufers für eine arabische Macht, und seines Sohnes, eines ständig zweifelnden Priesters. Die Kinder sind also abgefallen von ihren Vätern, vom "Vätererbe", auf der Flucht in die Musik oder die Religion, und für die Väter hat sich eigentlich nichts geändert. Vor allem für Adolf Judejahn nicht, dessen Monologe sich etwa so lesen: "Man mußte die Jüdin liquidieren. Man hatte den Führer verraten. Man hatte nicht genug liquidiert" (248). Der ehemalige Befehlshaber für Morde liquidiert nun eigenhändig: "da stand (...) Ilse Kürenberg, das Aufhäusermädchen, die Judentochter, die Entkommene, (...) aber er sah sie nackend (...) wie die Frauen vor dem Leichengraben, und Judejahn schoß das Magazin (...) leer, er schoß die Grabensalve, diesmal schoß er eigenhändig, diesmal befahl er nicht nur, Befehle galten nicht mehr, man mußte selber schießen, und erst beim letzten Schuß fiel Ilse Kürenberg um, und des Führers Befehl war vollstreckt" (249).

Es ist relativ leicht, das aus "Eine unglückliche Liebe herausgezogene Modell möglicher Geschichten an die späteren Romane Koeppens anzulegen. Mehr oder weniger modifiziert scheint sich dieses Modell jeweils zu wiederholen, zumindest im thematischen Aufgreifen einzelner Motive: das Motiv der Vergeblichkeit des Reisens, sei es nun Flucht oder Heimkehr; das Motiv der Fremdheit, in zunehmendem Maße verschärft zum Motiv der Entfremdung; das Motiv der Resignation, der Vergeblichkeit aller Versuche, verbunden mit der Erkenntnis, daß sich eigentlich nichts geändert habe, denn was vielleicht zu Anfang noch als Veränderung erscheint, erweist sich sehr bald als nur "renoviert".

Wesentlich scheint dabei, daß das Erzählen bis zu dem Punkt vorstößt, wo Koeppen an die Grenze des Erzählbaren gerät und mit seinen Reisebüchern, schließlich mit einer "autobiographischen" Kurzprosa jeweils von einem anderen Punkt aus noch einmal ansetzen muß. Die zunächst als Rundfunkaufträge entstandenen, seit 1958 erschienenen Reisebücher sind keineswegs nur "zweifellos wertvolles Nebenwerk", zeugen nicht "von einem Rückzug ins Unverbindliche" (Reich-Ranicki). Aus der Tatsache, daß Koeppen dem "Tod in Rom" keinen weiteren Roman folgen ließ, sondern nach einigen Jahren mit der Publikation von Reisebüchern begann, einen "Fall Koeppen" zu machen, zeugt ebenso von Vorurteilen wie die folgende Argumentation: "Für Koeppen gab es allem Anschein nach nur die Möglichkeit sich anzupassen oder sich zurückzuziehen oder einen Kompromiß zwischen diesen beiden Haltungen zu suchen. Daß er sich Mitte der fünfziger Jahre vor eine Entscheidung gestellt sah, die derjenigen nicht unähnlich war, die er Mitte der dreißiger Jahre treffen mußte, darf man wohl als ein beschämendes Symptom des literarischen Lebens in der Bundesrepublik werten" (Reich-Ranicki, 32).

Eine solche Argumentation übersieht einmal, daß Koeppen augenscheinlich zu einer schubweisen Produktion neigt. Sie übersieht ferner das Dilemma, in das der Autor geraten war, als er in seinen zeitkritischen Romanen der fünfziger Jahre an die Grenze des Erzählbaren geriet. Und sie übersieht schließlich, daß die Reiseschilderung (wie auch immer) von Anfang an ein wesentlicher Stilzug der Romane Koeppens war und in ihrer Funktion ziemlich genau beschrieben werden kann.

Was sich bei den zahlreichen Figuren der Koeppenschen Romane der fünfziger Jahre als allen gemeinsam erkennen läßt, ist eine unüberbrückbare Fremdheit dem anderen gegenüber, oder - wo die Gemeinsamkeit gesucht wird, meist von den gegensätzlichsten Partnern, dem alternden Keetenheuve und der jungen Gauleiterstochter Elke ("Das Treibhaus"), zwischen Odysseus Cotton und Susanne ("Tauben im Gras") - eine notwendige Entfremdung, deren Prozeß durch Selbsttäuschung nur zeitweilig vertuscht werden kann. Das alles ist in "Eine unglückliche Liebe" bereits angelegt und in dem Bild von der Wand aus dünnstem Glas vorformuliert. Die Verbindung zum anderen ist nur noch in der Selbsttäuschung möglich, stellvertretend für die gewollte Verbindung schon in "Eine unglückliche Liebe":

"Er sagte nicht 'kleine Ania', denn er dachte 'Sibylle'; und da sie ihn umklammert hielt, lenkte er ihren gemeinsamen Fall gegen das Bett" (i88). Der Traum von Washingtons Inn wird brüchig, als Carla feststellt, daß sie ein Kind bekommt, und sich durch den Entschluß zur Abtreibung von ihm zurückzieht; er wird schließlich mit Steinen beworfen: "Die ruchlos geworfenen Steine trafen Amerika und Europa, sie schändeten den oft berufenen europäischen Geist, sie verletzten die Menschen, sie trafen den Traum von Paris, den Traum von Washingtons Inn, den Traum NIEMAND IST UNERWÜNSCHT, aber sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen kleinen Jungen, der mit dem Schrei 'Mutter' zum horizontblauen Wagen gelaufen war" ("Tauben im Gras", 258). Auch die vielzitierte Vereinigung Odysseus Cottons mit Susanne - "Sie lagen zusammen, weiße Haut, schwarze Haut, Odysseus Susanne Kirke die Sirenen und vielleicht Nausikaa, sie schlängelten sich, schwarze Haut weiße Haut, in einer Kammer (...) sie lagen wie auf einem Floß, im Taumel der Vermischung lagen sie wie auf einem Floß, nackt und schön und wild, sie lagen unschuldig auf einem Floß das in die Unendlichkeit segelt" ("Tauben im Gras", 264) - erhält ja nur jenseits der Vereinigung in ihrer mythologischen Überhöhung den Anschein der Bindung, wobei diese Überhöhung in sich bereits eingeschränkt ist ("und vielleicht Nausikaa").

Als Ersatzhandlung und gleichzeitig als Ouvertüre für den Mord an Ilse Kürenberg wiederholt sich im Tod in Rom in der brutalen Besitzergreifung Lauras durch Judejahn kolportagehaft verzerrt die Ania-Szene: "Aber dieser warf sich wie eine Bestie über sie, er spreizte ihre Glieder, zerrte an ihrer Haut, und dann nahm er sie roh, ging roh mit ihr um" (246), "und der Mann war böse, er flüsterte, 'du bist eine Jüdin, du bist eine Jüdin' (...) und legte die Hände um ihren Hals" (247). Das Problem der unglücklichen, unerfüllbaren Liebe, einer Liebe, die ins Leere mündet, verhärtet sich zur Satire auf eine Zeit ohne Liebe, am deutlichsten ausgesprochen am Schluß des "Treibhauses", wo die Vereinigung Keetenheuves mit dem Mechanikerlehrling Lena in den Ruinen aus ihrer Überhöhung durch das vom Heilsarmeemädchen Gerda auf der Gitarre gespielte und gesungene Lied vom himmlischen Bräutigam, das gleichzeitig die Gegenstimme darstellt, zurückgenommen wird als "ein Akt vollkommener Beziehungslosigkeit, den er vollzog, und er starrte fremd in ein fremdes, den Täuschungen der Lust überantwortetes Gesicht" (222).

Dieses Fremdsein des anderen, dieser Prozeß der Entfremdung gilt aber nicht nur für die Liebespartner, obwohl beides bei ihnen zunächst am deutlichsten greifbar ist, es betrifft das Verhältnis der Menschen zueinander allgemein. So überlegt Keetenheuve oder der Autor (die Grenze zwischen Erzähler und erzählter Figur verwischt sich derart bezeichnenderweise oft): "War Keetenheuve ein Ausländer? War er unter Menschen gereist, die anders weinten, anders lachten, die anders waren als er? Vielleicht war er ein Ausländer des Gefühls, und das Gelächter aus der Dunkelheit, die ihn umgab, schlug schmerzhaft wie eine Woge über ihn und drohte ihn zu ersticken" ("Das Treibhaus", 148 f.). Die durch die Entfremdung aufgerissene Kluft ist nur noch mit Hilfe der (Selbst-)Täuschung überbrückbar, für Philipp z.B. im Lächerlichwerden: "'Alles zerbricht', dachte Philipp, 'wir können uns nicht mehr verständigen, nicht Edwin redet, der Lautsprecher spricht' (...) Immer wenn Philipp einen Vortrag hörte, mußte er an Chaplin denken. Jeder Redner erinnerte ihn an Chaplin" ("Tauben im Gras", 248; vgl. auch "Das Treibhaus, 9: "Immer fiel ihm Komisches ein (...) und selbst in der Lebensgefahr war ihm das immer auch Groteske der Situation nicht entgangen").

Dieser Prozeß der Entfremdung mündet konsequent in den Prozeß der Selbstentfremdung, des sich selbst Fremdwerdens. Das läßt sich an dem Keetenheuve-Zitat ablesen und wird fast überdeutlich, wenn Personen plötzlich mit ihrer technisch reproduzierten Stimme konfrontiert sind: "Und Philipp hörte nun seine eigene Stimme (...) Die Stimme befremdete ihn. Was sie sagte, beschämte ihn. Es war eine Exhibition, eine intellektuelle Exhibition (...) Seine eigene Stimme, die Worte, die er sprach, erschreckten Philipp und er floh aus dem Laden" ("Tauben im Gras", 67). Entsprechend reagiert Siegfried Pfaffrath: "Falsch klang die Musik, sie bewegte ihn nicht mehr, fast war sie ihm unsympathisch wie die eigene Stimme, die man, auf ein Tonband gefangen, zum erstenmal aus dem Lautsprecher hört, und denkt, das bin nun ich, dieser aufgeblasene Geck, Gleißner und eitle Fant" ("Der Tod in Rom", 8), während Keetenheuve "immer mehr (...) den Zwang" scheut, "durch das Mikrophon sprechen zu müssen: die Groteske, die eigene Stimme in allen Winkeln verzerrt aus den Lautsprechern bullern zu hören, ein hohlklingendes und für Keetenheuve schmerzlich hohnvolles Echo aus einem Dunst von Schweiß, Bier und Tabak" ("Das Treibhaus", 29).

Dieser Fremdheit, diesem Prozeß der Entfremdung und Selbstentfremdung stehen die den Romanen eingelegten Reiseschilderungen seit "Eine unglückliche Liebe" entgegen, bilden eine Art Gegengewicht und liefern, ähnlich wie die immer
deutlicher hervortretende zeitgeschichtliche Faktizität, auch so etwas wie einen festen Rahmen, ohne den alles zu entgleiten droht. Heißenbüttel hat von hier aus am schärfsten der Kritik Reich-Ranickis an den Reisebüchern Koeppens widersprochen: "Landschaften, Straßen, Gebäude, Stadttopographien und Inventare lokalisieren die Erzählung, halten sie fest und öffnen sich zugleich als immer weiter, immer noch beweglich verschiebbare Horizonte. Die Personen selbst, als Staffage zur Landschaft genommen, sind greifbar, wenn auch zugleich ohne Berührung mit dem, um was es im Grunde geht" (250).

Aber auch dieses konkrete Gegengewicht gerät ins Gleiten. Bereits in "Eine unglückliche Liebe" verwirrt der ständige Ortswechsel in Italien, weniger konkretes Gegengewicht als vielmehr äußerer Spiegel der Unruhe und Unsicherheit Friedrichs. In zunehmendem Maße - vor allem in den Romanen der fünfziger Jahre - wird die jeweilige Geographie durchsichtig auf Dahinterliegendes; am faßbarsten vielleicht im "Treibhaus" während der Begegnung Keetenheuves mit Lena auf einem Trümmergrundstück in einer Halluzination Keetenheuves: "Der Polizeimeister kam in einem Wasserwerfer gefahren und lud zu einer Treibjagd ein. Er hetzte dressierte Hunde über das Feld und feuerte sie mit Rufen an: Hetzt ihn, faßt ihn, jagt ihn! Der Minister suchte mit seinen Hunden Keetenheuve den Hundefreund zu fangen. Aber Frost-Forestier breitete schützend eine Weltkarte vor Keetenheuve aus, deutete auf den Rhein und sagte: 'Dort liegt Guatemala!'" (222).

Umgekehrt gilt dieses Durchsichtigwerden der Geographie auch für die Reiseberichte, gerät das Beobachtete ins Gleiten, wird es in der Reflexion gleichsam fremd: "Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz (...)." Mit diesen Zeilen - der vollständige Satz zieht sich in einer Assoziationskette über zweieinhalb Seiten hin - beginnt die Amerikafahrt. Eine solche Geographie ist nicht mehr konkret faßbar, ist in den Prozeß des Fremdwerdens mit hineingenommen. Sie zeigt en détail, daß die Welt, wie Koeppen sie sieht, nicht mehr überschaubar ist, daß der Versuch, sie zu begreifen, im Grunde genommen ebenso scheitern muß wie der Versuch, das unverständliche Gegenüber Mensch zu verstehen, sich zuzuordnen.

Eine Szene in "Tauben im Gras" macht das deutlich, wenn - bei der Begegnung der Amerikanerin Kay mit dem deutschen Dichter Philipp - Kay denkt: "Ich werde die einzige von unserer Reisegesellschaft sein, die zu Hause erzählen kann, wie es ist wenn einen ein deutscher Dichter verführt" (263) - während Philipp denkt: "Was will ich von ihr? will ich mit ihr schlafen? vielleicht könnte ich mit ihr schlafen, für sie ist es Reiseromantik (...) Kay ist reizend, aber ich bin gar nicht versessen darauf, ich will gar nicht sie, ich will das andere Land, ich will die Weite, ich will die Ferne, einen anderen Horizont, ich will die Jugend, das junge Land, ich will das Unbeschwerte, ich will die Zukunft und das Vergängliche, den Wind will ich" (263). Aber dieses Amerika, das Philipp will, ist ebenso ein Traum wie Washingtons Inn. Er wird vom Autor zurückgenommen. Der Schluß von "Tauben im Gras" könnte gleichzeitig der Anfang der "Amerikafahrt" sein, die "Amerikafahrt" ist gleichsam die Antwort Koeppens auf Philipps Traum.

Was die Reisebücher von seinen Romanen unterscheidet, ist der augenscheinliche Versuch Koeppens, sich an Faktizität, an den "Rahmen" zu halten. Man kann das veranschaulichen, wenn man übertreibend formuliert, daß in den Reisebüchern das zur Sprache kommt, was in den Romanen dem Prozeß der Entfremdung und Selbstentfremdung entgegengesetzt wird, also das, was übrigbleibt, wenn man die "Erzählung" herausläßt. Aber in den Reiseschilderungen, die den Romanen eingelegt sind, zeichnet sich bereits ab, was an den Reisebüchern deutlich faßbar wird: daß sich auch das Beobachtbare, das Beobachtete immer wieder dem Zugriff entzieht, durchsichtig auf Dahinterliegendes und in diesem Durchblick fremd wird.

Heißenbüttel hat darauf aufmerksam gemacht, daß "der Erzähler der Reiseberichte (eindeutig beschreibbar durch alle Berichte hindurch, identifizierbar mit sich selbst und eine Figur, mit der sich der Leser identifizieren kann) (...) so etwas wie ein Ersatz-Ich" ist, "eine Kunstfigur, die der Autor einsetzt, um von dem Konkreten erzählen zu können, das er sich gegenüber sieht"; Heißenbüttel hebt aber diese Reisebücher m. E. zu stark von den Romanen ab - deren notwendige Folge sie sind, nachdem Koeppen an die Grenze des Erzählbaren gestoßen war -, wenn er schreibt: "Die ausweglose Problematik der Selbstentfremdung ist genauso zurückgezogen wie die 'grauenhafteste Geschichte'" (250).

Man müßte fragen, ob sich in den Reisebüchern nicht - nachdem sich in den Romanen die Figuren und damit die Erzählung dem Zugriff entzogen haben - auch das faktisch Beobachtbare dem Zugriff entzieht, ob nicht der Prozeß der Entfremdung und Selbstentfremdung in einen Prozeß der "Weltentfremdung" einmündet, ob nicht das, was jenseits der Erzählung noch beschreibbar scheint, sich letztlich wiederum der Beschreibbarkeit entzieht. Das deutet sich bereits in den Romanen an, wird am greifbarsten vielleicht in der die empfindsamen Reisen "Nach Rußland und anderswohin" abschließenden kurzen Prosa "Landung in Eden", die die beschreibbare Welt noch einmal aus dem Gesichtsfeld des Piloten einer Düsenmaschine in Stichworten, in entgleitenden Fixpunkten zusammenfaßt: "Keinem hat je so die Welt gehört wie mir. Ich sah die Sonne über Wüsten und Meeren, ich sah sie am Mittag über Urwäldern und weiten Savannen, am Abend sah ich sie im Polareis versinken und im Dunstschleier der Tropen untergehen. Ich sah dies alles oft und in wenigen Stunden zusammengedrängt wie in den Bildern eines Films" (335). Der Elbrus, der Gaurisankar, der Fudschijama usw. sind "nicht einmal mehr Wegmarken" für diesen Flug in dreißigtausend Meter Höhe. Das Faßbare entgleitet endgültig. Außerdem fliegt das Ich über das Land des Feindes: "Ich sehe aus meinem Himmel seine Städte nicht. Ich will sie nicht sehen. Ich will nicht wissen, ob es Menschen sind, die in ihnen wohnen. Mein Vater sagt, wenn wir sie doch vernichten könnten, wenn wir sie doch mit einem einzigen Schlag endlich vernichten könnten" (336). Aber der Kommandant spricht das die Vernichtung auslösende Wort "Zebaoth" nicht, das Ich selbst spricht es aus. Die kurze Prosa schließt: "Wo ich nun lande, ist Eden. Niemand spricht mehr von Zebaoth. Im Paradies wohnen keine Menschen" (337).

So klar wie hier wird an keiner Stelle, daß das Ich der Reisebücher nicht unbedingt die autobiographische Person Koeppens sein muß. Insofern entzieht sich nach den Figuren und dem Rahmen nun auch dieses Ich letztlich der Möglichkeit einer Identifikation. Was am Ende des Prozesses der Entfremdung und Selbstentfremdung und schließlich der "Weltentfremdung" als Lösung, als Utopie, als "Paradies" angeboten wird, ist eine unheimlich "verwandelte Welt", "ein Erdball künstlicher Sonnen", ein Paradies ohne Menschen. Diese kurze Prosa - so scheint mir - führt die Satire bis zum bitteren Ende, indem sie als Lösung praktisch nur noch die völlige Vernichtung zuläßt.

Es ist merkwürdig, daß die Kritiker der Reisebücher als "zweifellos wertvolles Nebenwerk" ausgerechnet diese am Ende des ersten Reisebuches an exponierter Stelle stehende kurze Prosa überlesen haben. Denn wie die Reisebücher bereits in den Romanen an- und als Gegengewicht eingelegt sind, so ist auch dieser "Lösungsvorschlag" mehr oder weniger versteckt in den Romanen ebenso wie in den Reisebüchern wiederholt enthalten: im Freitod Keetenheuves - "der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei" ("Das Treibhaus", 223) - als individuelle Lösung oder in den "Reisen nach Frankreich" als Halluzination des Erzählers: "Ich stieg die Stufen hinunter (...) ich ging auf Paris zu, wanderte durch Kinderscharen, sah ein großes französisches Reich, sah es als Gen einer freundlichen Menschheit, ich sah die Straßen wie Grüfte, die Fassaden ihrer hohen Häuser glichen steilen Felswänden, die Fenster Vereisungen, die gespaltenen Jalousien Frostaufbrüchen" (285).

Wenn Koeppen in seinen Büchern - und das gilt von seinem ersten Roman über die Reisebücher bis zu den wenigen, nach ihnen veröffentlichten kurzen, stark autobiographisch gefärbten Prosastücken - vom, wie Heißenbüttel es zuspitzt, "Sichselbstbefinden in einer Welt, in der dem Selbst der Boden entzogen ist", erzählt, und zwar bei den Romanen in zunehmendem Maße in Form der Satire, der in den Reisebüchern die satirische Brechung, die makabre Paraphrasierung entsprechen, dann stößt er bis an die Grenze des Erzählbaren, und das bedeutet schließlich, daß damit auch die Erzählbarkeit dessen, was er als Zeuge zu erzählen versucht, in Frage gestellt wird, daß der Erzähler sich selbst in Frage stellt. Mir scheint es so keine Spekulation, anzunehmen, daß unter diesem Gesichtspunkt den letzten Prosaveröffentlichungen Koeppens - so "Anamnese", Von "Anbeginn verurteilt" (1969), "Jugend" (1971) programmatische Bedeutung zukommt, weil hier im Versuch einer Rückkehr zum Ausgangspunkt so etwas wie ein Rückgriff auf noch; oder wieder Erzählbares erfolgt, ein weiterer Versuch, von einem anderen Punkt aus noch einmal neu anzusetzen.

Die stark "autobiographische" Färbung der letzten Prosatexte; der Rückgriff auf eine Zeit, in der Koeppen "voll damit beschäftigt" war, "zu überleben. Ich geriet selber in Romansituationen und war nicht mehr, meinem Wesen gemäß, ein reiner Beobachter" ("Werkstattgespräch", 49); in "Anamnese" sogar der Rückgriff auf die Jugendjahre in Pommern: das alles läßt die Vermutung zu, daß Koeppens Versuch, von einem anderen Punkt aus noch einmal neu anzusetzen, vor allem die eigene Person betreffen wird, jedoch nicht im radikalen Schritt zur reinen Autobiographie, eher als Versuch eines persönlichen Romans. In auffallender Korrespondenz hat Koeppen gegenüber Christian Linder geäußert: "Ich lebe in einem Roman", und an anderer Stelle: "und dann lebe ich auch etwas wie eine Romanfigur" (17). Beide Formulierungen lassen in ihrer ausdrücklichen Verquickung von Autobiographie und Roman, von Leben und Fiktion kaum verwunderlich erscheinen, wenn Koeppen 1971 Heißenbüttel gegenüber einschränkt, sich "einen jungen Mann zurechtgelogen" zu haben, "der sozusagen stellvertretend noch einmal seine, Koeppens, Erinnerung transportieren sollte".

Autobiographisches war in die Romane seit "Eine unglückliche Liebe" und auch in die Reisebücher schon immer mit eingeflossen, wurde aber von der Erzählung weitgehend verdeckt. Einmal darauf aufmerksam geworden, ist es relativ leicht, den autobiographischen Bestandteil der Bücher Koeppens zu sehen. Ein Hinweis der "Autobiographischen Skizze" - "Ich wollte mit dem Zirkus fliehen, ich bewunderte die anmutige Amazone, ich liebte ihr gehorsames Pferd; doch die bunte Nymphe enttäuschte mich, als ich ihr mein Leben anbot" (65) - erinnert nicht nur an die unglückliche Liebe Friedrichs zu der zweitklassigen Kabarettistin Sibylle, sondern macht wahrscheinlich, daß in "Eine unglückliche Liebe" auch eigene Erfahrung mit eingeflossen ist. Im Grunde rekapitulieren Koeppens Romane und Reisebücher von Anfang an jeweils auch ein Stück Autobiographie; lassen sie z.B. immer auch das durchscheinen, was er im "Werkstattgespräch" auf den Nenner gebracht hat: "Ich hatte es nicht leicht und machte es mir schwer. Ich war arm und außerordentlich widerborstig. Mir fehlte jede Fähigkeit, mich dem normalen, dem bürgerlichen, dem Erwerbsleben anzupassen. Ich schwamm gegen den Strom und hatte Mühe, nicht unterzugehen. Ich studierte, ich beobachtete, ich vagabundierte" (49).

Die immer wiederkehrenden Motive - Vergeblichkeit des Reisens, Flucht und Heimkehr, Fremdheit und Selbstentfremdung, Selbsttäuschung und Resignation - sind auch autobiographische Motive. Nicht nur der die Erzählung ständig unterbrechende, ihre einzelnen Stationen und Momente kommentierende Erzähler der Romane und nicht nur der ständig aus der Beobachtung in die Reflexion des Beobachteten wechselnde Erzähler der Reisebücher tragen deutlich Koeppensche Züge, obwohl sie sich bezeichnenderweise immer wieder gerne hinter Zitaten und Anspielungen aller Art verbergen, auch die Figuren der Romane - etwa Friedrich in "Eine unglückliche Liebe", Johannes von Süde in "Die Mauer schwankt", Philipp in "Tauben im Gras" und Keetenheuve im "Treibhaus" - spiegeln und verdecken zugleich den Erzähler-Autor, sind fiktive Masken eines Autors, der in seiner Erzählung auch autobiographisch spricht und dies zugleich hinter der Erzählung verbirgt. In diesem Zusammenhang versteht sich die Bemerkung "und ich dachte, ich werde es schreiben, und wußte, daß ich starb, in dieser Zeit, in diesen Jahren, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt" ("Ein Kaffeehaus", 95) auch als nachträgliches Eingeständnis Koeppens, daß er in seinen zeitkritischen Romanen der fünfziger Jahre nicht mehr einfach nur eine das "Grauen" veranschaulichende, die Hintergründe dieses "Grauens" aufdeckende Erzählung schreiben konnte, daß er sich vielmehr, Betroffener und Getroffener zugleich, als Erzähler miteinbeziehen mußte in den Versuch seiner zeit- und selbstkritischen Prosa. Das wird deutlich und undeutlich zugleich in der Rolle des immer wieder in die Erzählung eingreifenden, kommentierenden Erzählers, der in den Figuren z.B. eines Philipp oder Keetenheuve ja auch sich selbst kommentiert und sich dabei mit einem Zitat oder einer Anspielung oft wieder diesem Selbstkommentar entzieht, wobei sich überdies - z. B. in dem mitgeteilten Zitat aus "Das Treibhaus" - die Grenze zwischen Erzähler und erzählter Figur häufig verwischen kann.

Daß andererseits das erzählende Ich der den Romanen folgenden Reisebücher nicht nur die autobiographische Person Koeppens ist, hat Heißenbüttel bereits mit dem Hinweis auf das "Ersatz-Ich: eine Kunstfigur" herausgestellt. Eine Analyse der Reisebücher - etwa der "Reisen nach Frankreich" - läßt gelegentlich sogar zwei "Ichs" unterscheiden, einen "Nein"- und einen "Jasager" (als Gegenstimme zum aggressiven Pessimisten), jedoch nicht so, daß sich diese beiden "Ichs" in jedem Fall säuberlich voneinander trennen lassen. Auch sie überlagern sich.

Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Neuansatz, der sich in den stark "autobiographisch" gefärbten Prosastücken abzeichnet, Bedeutung zu als einem Versuch, nun in der Erzählung - wenn auch noch mit Hilfe einer "zurechtgelogenen" Ich-Figur, unter Einsatz einer fiktiven Hilfsfigur - sozusagen bei sich selbst zu bleiben, über sich selbst zu sprechen. Aber noch dieses Sprechen über sich selbst - am sachlichsten erklärlicherweise noch in der "Autobiographischen Skizze" und im "Werkstattgespräch" - verschleiert in "Ein Kaffeehaus", "Anamnese", "Von Anbeginn verurteilt", "Jugend" die Person Koeppens wieder, überführt das konkret-autobiographische Detail in den allgemeineren und anonymeren Kontext der Erzählung: "Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die Augen, die feucht werden, es brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich spürte nichts, es war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen Kastanien entkleidete, ich verließ sie schon oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie, wie üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, sie heimführte oder so tat und an das Geschäft dachte, das ich nicht habe" ("Anamnese", 259).

Man könnte vielleicht verallgemeinern, daß Koeppen eigentlich von Anfang an auch von sich, auch über sich zu Phasen des Koeppeschen Werkes in auffallender Konsequenz, sprechen versucht, daß er aber eine merkwürdige Scheu davor hat und, davor zurückschreckend, jeden Versuch sogleich in der Erzählung versteckt und kaschiert. Dennoch kann man festhalten, daß dieses autobiographische Sprechen bei jedem Neuansatz immer stärker in den Vordergrund tritt: Für seine Reisebücher hat Koeppen z. B. nachträglich betont: "daß ein Aufenthalt, irgendwo in der Welt, es leichter" mache, "von sich zu sprechen. Es sind andere Spiegel, vor die man sich stellt" ("An Ariel und den Tod denken"). Aber noch in der stark "autobiographisch" gefärbten Prosa der letzten Zeit gerät der Versuch, bei sich selbst zu bleiben als dem, von dem man sprechen will, sehr bald wieder ins Uneigentliche, wird er zurückgenommen durch die Einführung einer fiktiven Hilfsfigur. Dennoch erfolgen bei genauerem Hinsehen die erscheinen die Phasen der Nachkriegsromane, der "empfindsamen" Reisebücher, der "autobiographischen" kurzen Erzählprosa als schubweise Versuche auf einem "langen Weg zur Selbstannahme" (Klaus Haberkamm) und zugleich eines davor Zurückschreckens. Kein "Rückzug ins Unverbindliche", sind, von hier aus gesehen, die Reisebücher Koeppens der faßbare Beginn eines Rückzuges auf sich selbst: "Ich will noch sagen, was ich sagen möchte, und dies mehr für mich; es ist fast ein düsteres Selbstgespräch, wenn mir jemand zuhören sollte dabei, ist es mir recht" (Koeppen gegenüber Linder, i6).

Ähnlich, wie sich das aus "Eine unglückliche Liebe" herausgezogene Modell möglicher Geschichten an die späteren Romane und bedingt auch an die Reisebücher anlegen, wie sich eine immer deutlichere Tendenz zum autobiographischen Sprechen an Koeppens Prosa relativ leicht ablesen läßt, ist auch für seine Erzähltechnik, seine Kompositionsmethode eine weitgehende Kontinuität festzustellen. Der eigenwillige Stil deutet sich bereits in "Eine unglückliche Liebe" an in einem an die Filmschnittechnik erinnernden, oft fast abrupten Wechsel von kurzen, feststellenden, gelegentlich über einen langen Abschnitt hin bevorzugt parataktisch gereihten Sätzen und längeren, zum Teil rhetorisch anmutenden assoziativen Satzperioden, von Erzählung, Dialog und innerem Monolog mit Grenzverwischung zwischen Erzähler und erzählter Figur, usw. Diese Wechsel und Sprünge verklammern Erzählung und Reflexion, Kommentar und Anspielungen, Faktisches und Traumhaftes, Episches und Lyrismen.

Was Bienek im "Werkstattgespräch" als das Besondere und Unverkennbare des Stiles herausstellt - "die Suggestion durch Anhäufung der Bilder, Anhäufung von Adjektiven, der rasche übergangslose Wechsel von Zeit, Schauplatz und Personen, ferner die Montagen, Einblendungen" (50) -, ist in "Eine unglückliche Liebe" bereits angelegt und erscheint, worauf Koeppen selber ausdrücklich hingewiesen hat, nicht zuletzt bedingt durch jahrelanges Schweigen, gleichsam potenziert in Tauben im Gras als "Folge eines aufgestauten, eines zu spät verwirklichten Stilexperiments". Eine Vielzahl von Ereignissen, von oft nur in ein/zwei Sätzen angedeuteten tragischen, aber auch komischen Geschichten, die die Romane der fünfziger Jahre kennzeichnen, erklären sich - ebenfalls in den beiden Romanen der Vorkriegszeit, etwa in der relativ komplizierten Geschichte des Baumeisters in "Die Mauer schwankt" bereits angelegt - sicherlich auch als Eruption eines aufgestauten, jahrelang nicht möglichen Erzählens, als Folge davon, daß Koeppen eben nicht "reiner Beobachter" bleiben konnte, sondern in eine Fülle von "Romansituationen" geriet, die und deren Folgen sich fraglos in der Vielzahl der Ereignisse und angedeuteten Geschichten nicht nur der Romane seit "Tauben im Gras" mit niederschlugen.

Es ist bezeichnend, daß Koeppen die Frage, ob er "ein bestimmtes Konzept, ein Schema" für seine Bücher habe, verneinte und auf "die Fülle" der Themen hinwies, "die erschreckt". "Die Themen drängen sich heran wie alte Gläubiger. Was passiert nicht alles in der Welt! Dabei halte ich die Handlung für nebensächlich" ("Werkstattgespräch", 51). Entsprechend kennt Koeppen auch - gegensätzlich etwa zu Arno Schmidt - "keine Zettelkästen. Kaum Notizen, vielleicht ein einziges Schmierblatt... Manchmal ahne ich nur, wohin ich steuern will. Es ist dann wie eine Fahrt durch die Nacht, mit starken Abweichungen vom gar nicht festgesetzten Kurs" (ebd., 52).

Solche "starken Abweichungen vom gar nicht festgesetzten Kurs" begründen sich wohl auch mit dem autobiographischen Interesse Koeppens an seinen Figuren, sind durch den immer wieder in das Kaleidoskop von Einzelschicksalen kommentierend eingreifenden Erzähler-Autor gewiß mitbedingt. Heißenbüttel hat (einschränkend) darauf aufmerksam gemacht, daß dieser ständig die Erzählung unterbrechende Kommentar nicht (philosophische) "Spiegelung der Erzählung" sei, vielmehr so etwas darstelle wie "Paraphrasen zu Personen, Ereignissen, Politik, Verhaltensweisen", die zwar der Reflexion zuneigen, "aber stets, wenn sie mit Reflexion in Berührung kommen, sogleich ins Konkrete der Charakterisierung, der Handlungsbeschreibung, ja der Metapher" zurückdrängen.

Heißenbüttel interpretiert diesen Befund im Sinne seiner These, daß Koeppen "einer Selbstentblößung auf der Spur" sei, als "Erschrecken des subjektiven Selbstbewußtseins vor sich selbst (...) Der Autor redet von etwas, von dem er unmittelbar reden möchte, aber er redet zugleich darüber hin und schämt sich selbst der Blöße dieses bloß Darüberhinredens" ("Wolfgang-Koeppen-Kommentar", 245). Diese Problematik, dieses Dilemma erklären sich wohl vor allem aus der von Koeppen in "Ein Kaffeehaus" indirekt begründeten Erzählhaltung, die den Autor in den Versuch einer zeitkritischen Prosa als Objekt miteinbeziehen muß, in einer - überspitzt gesagt - Mischung von Fiktion und Autobiographie, die sich im Stil der Romane ebenso niederschlagen mußte wie die Erkenntnis, "daß ein Aufenthalt, irgendwo in der Welt, es leichter" mache, "von sich zu reden", im Stil der Reisebücher, die ja auch die Suche nach dem "Fremdsein ganz und kraß" ("An Ariel und den Tod denken") spiegeln.

Dies alles aber unterscheidet Koeppens Prosa wesentlich von seinen "literarischen Einflüssen", deren größter vielleicht der 1926 von ihm mit Erschütterung gelesene Ulysses ist (vgl. "Werkstattgespräch", 50), dem sich dann als weitere nicht nur stilistische Einflüsse die Romane von Dos Passos, Döblin und Faulkner zugesellen (Vergleichsinterpretationen wären hier äußerst aufschlußreich), weniger wohl die Prosa Gides, zu dessen "Kontrapunktmethode" Walter Jens einen Bezug herstellen möchte. Auch zu Gertrude Stein besteht kaum eine "Wahlverwandtschaft"; sie hat eigentlich nur den Titel und das Motto zu Tauben im Gras geliefert, das Edwin völlig mißverstanden noch einmal aufgreift (254). (Vgl. "Gertrude Stein und Stuttgart").

Darüber hinaus ist ein solches Zitat (aber auch sein Mißverständnis) ebenso wie die zahlreichen Anspielungen auf historische, vor allem aber geistesgeschichtliche Fakten, auf die Mythologie allerdings ein wesentlicher Stilzug Koeppens, der in seinen Büchern zahlreiche Funktionen erfüllt, nicht jedoch so weitgehend, daß sich Koeppen z.B. bei seiner "Amerikafahrt" nur auf "Kafkas exemplarische Imagination" bezieht, daß er Frankreich "am ehesten mit den Augen Maupassants" sieht (Soergel/Hohoff), denn das tut Koeppen lediglich unter anderem. Auch die Zitate, die mythologischen Verweise, die zeitgeschichtlichen Anspielungen bleiben wie die Figuren der Koeppenschen Erzählprosa gelegentlich seltsam vage, schieben sich oft gleichsam wie blinde Spiegel zwischen Fiktion und Kommentar, lassen den Kommentar ins Unpersönliche, Unverbindliche zurückfallen. Nur eine genaue und umfangreiche Stilanalyse kann weitergehend zeigen, wie genau die Sprache der Koeppenschen Bücher, zu der auch das Zitieren, die Anspielung gehören, dem Prozeß des Fremdwerdens, der Entfremdung und Selbstentfremdung entspricht, brüchig werden, leere oder stumpfe Stellen enthalten und sogar entgleiten kann.

Die Kritik hat auf die Veröffentlichungen Koeppens unterschiedlich und widerspruchsvoll reagiert. Die beiden ersten Romane fanden vereinzelt Zustimmung (Jhering, Franzen, Ruppel), ließen aber auch "einen damals braunen heute christlichen Kritiker nach dem Arbeitslager rufen" ("Autobiographische Skizze", 67). Die Reaktion auf die Romane der fünfziger Jahre schwankte zwischen gelegentlich nahezu hymnischer Zustimmung und radikaler Ablehnung, während die Reisebücher so einstimmig gepriesen wurden, daß Reich-Ranicki nicht ganz zu unrecht argwöhnte: "man hat hier den Eindruck, daß Koeppen nicht nur dafür gelobt wurde, was er geschrieben hat, sondern auch dafür, was er zu schreiben unterließ" ("Fall Koeppen", 33). Einen "Fall Koeppen", wie Reich-Ranicki ihn zu erkennen glaubt, gibt es dennoch nicht. Auch übersieht, wie schon angedeutet, Reich-Ranicki die Zusammenhänge zwischen den zeitkritischen Romanen und den Reisebüchern.

Daß die Reisebücher kein "Rückzug ins Unverbindliche", nicht nur "zweifellos wertvolles Nebenwerk", oder, wie Koeppen selbst zeitweilig selbstkritisch einschränkte, "Kulissenbeschreibungen", "Umwege zum Roman" sind, hat Jens in seiner Laudatio zu begründen versucht: "Jetzt endlich, in der freien Prosa des Reiseberichts, konnte Koeppen mit der Sprache schalten, wie es ihm gefiel, konnte Bildungs-Reminiszenzen einfließen lassen und, ohne Rücksicht auf die Fabel, Namen und Daten beschwören (...) Was sich im Munde erdachter Figuren gespreizt und peinlich belehrend ausnimmt - gerade in der lyrischen Parabel, in Sternescher Meditation und ikarischem Flug steht es am rechten Ort; hier ist das Spiel mit den Jahrtausenden erlaubt (...), hier bieten sich die unerwarteten Vergleiche und zugespitzten Antithesen geradezu an" ("Wolfgang Koeppen", 100).

Aber erst Heißenbüttel hat über die Verteidigung der Reiseberichte als den Romanen gleichwertiger literarischer Leistung hinaus auf die dahinter liegenden ursächlichen Zusammenhänge von zeitkritischer Prosa mit autobiographischen Tönungen und "empfindsamem" Reisebericht als Versuch der Selbstaussprache hingewiesen.

Ähnlich uneinheitlich ist die Einschätzung des Koeppenschen Werkes in der Literaturwissenschaft, die sich seit Ende der sechziger Jahre häufiger mit diesem Autor beschäftigt "Zwischen Nonkonformismus und Resignation" sieht Manfred Koch in einer ersten Monographie das Koeppensche Nachkriegswerk angesiedelt. Als "zeitkritischen" Autor, der in seinen Nachkriegsromanen "Engagement und Artistik, Realität und Fiktion" verbindet, wertet Dietrich Erlach in einer von Marcel Reich-Ranicki angeregten Arbeit den Schriftsteller und erklärt die "Krise des Romanciers Koeppen" mit aus der "Reaktion auf die Romane": "Die Enttäuschung des Intellektuellen über die politische und soziale Restauration steigerte sich zur totalen Resignation des Schriftstellers angesichts der Aufnahme seiner kritischen Romane, einer Aufnahme, die auf deprimierende Weise seine Diagnosen weitestgehend bestätigte" (209).

Vor allem Ernst-Peter Wieckenberg und Klaus Haberkamm sind dieser Auffassung der "Resignation" des "politischen" Schriftstellers entschieden entgegengetreten, Wieckenberg u. a. mit der Feststellung, daß Koeppen - im Sinne Walter Benjamins - "den Schritt von der auratischen zur politischen Kunst" nicht gehe, daß er seine "Kritik am Gegenwärtigen (...) nur vortragen" könne, "indem er das Vergangene als das Bessere durch den versuchten Gebrauch vergangener Kunstmittel" beschwöre (200). Für Wieckenberg ist Koeppen "ein bürgerlicher Schriftsteller, der den Weg zur politischen Kunst (...) nicht gehen will oder nicht gehen kann, weil die politischen Zustände nichts bergen, was eine bessere Zukunft verspräche" (202).

Als "prinzipiell unpolitischen Autor" begreift auch Haberkamm Koeppen und verweist auf eine "nicht wörtlich genug zu nehmende Selbstcharakteristik Philipp-Koeppens" (264): "(...) ich verabscheue die Gewalt, ich verabscheue die Unterdrückung, ist das Kommunismus? ich weiß es nicht, die Gesellschaftswissenschaft: Hegel Marx die Dialektik - nie begriffen, Gefühlskommunist: immer auf der Seite der Armen sinnlos empört, Spartakus Jesus Thomas Münzer Max Hölz, was wollten sie? gut sein, was geschah? man tötete sich, kämpfte ich in Spanien? mir schlug die Stunde nicht, ich drückte mich durch die Diktatur, ich haßte aber leise, ich haßte aber in meiner Kammer, ich flüsterte aber mit Gleichgesinnten, Burckhardt sagte mit Leuten seiner Art sei kein Staat zu machen, sympathisch, aber mit Leuten dieser Art ist auch kein Staat zu machen, keine Hoffnung, für mich nicht mehr" ("Tauben im Gras", 179 f.).

Indem Haberkamm die autobiographischen Momente derart schon in den Romanen aufspürt, kann er das Koeppensche Werk mit Recht als einen "langen Weg zur Selbstannahme" (267) lesen, kann er Wolfdietrich Rasch zustimmen, der in den Reisebüchern "Zeugnisse der Entspannung" sieht und sie als "Zwischenstationen zur Autobiographie" wertet (Rasch, 228; Haberkamm, 268), kann er als mögliche Konsequenz dieses "langen Weges zur Selbstannahme" ein "Verstummen" zulassen, das Linder als "konsequenten Akt der Verweigerung" (25) diagnostiziert. Unter etwas anderem Aspekt hatte Heißenbüttel vermutet, Koeppen sei einer "Selbstentblößung auf der Spur", um einige Jahre später zu konstatieren: "Je weiter in der Projektion auf fiktive Gestalten, einschließlich des Ichs der Reiseberichte, die Tendenz zur Selbstentblößung vorangetrieben ist, um so stärker verschließt sich der Privatmann Wolfgang Koeppen" ("Literatur als Aufschub von Literatur", 34).

Ausgehend von dieser Beobachtung, von der Feststellung, daß Koeppen augenscheinlich immer wieder vor einem nur autobiographischen Sprechen zurückschreckt, das sich als Konsequenz seiner literarischen Entwicklung andeutet, ließe sich schließlich der von der Literaturgeschichtsschreibung gestellten Frage, ob "der Zeitroman auf die Grenzen seiner künstlerischen Gestaltung" gestoßen sei, als zweite Frage zusetzen, ob auch eine "Literatur der Selbstentblößer" (Heißenbüttel) an die Grenzen ihrer künstlerischen Gestaltung gestoßen ist.

Die Problematik, das Dilemma, die - aus Gründen der Deutlichkeit sei folgende Behelfsüberlegung abschließend gestattet - z.B. in der stilistischen und qualitativen Diskrepanz zwischen Peter Weiss' "experimenteller" Prosa (z.B. "Der Schatten des Körpers des Kutschers"), seinen autobiographischen "Romanen" (z.B. "Abschied von den Eltern") und seinem politischen Theater (z. B. "Die Ermittlung") sichtbar werden, sind, da dies alles in Koeppens Prosa gleichzeitig da ist, bei Koeppen wesentlich komplexer, wenn auch weniger leicht zu fassen.

Eine Abhandlung der "Tauben im Gras" im Kapitel "Großstadtroman" (Welzig, "Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert", 120) liefert zwar aufschlußreiche Teilaspekte, aber nur die. Die weitergehende Analyse der Koeppenschen Romane der fünfziger Jahre als Zeitsatire, die ihre Wirkung in negativer Richtung erstrebt, die, in der Verzerrung des Politischen und Weltanschaulichen, auf Veränderung aus ist, läßt die Verzerrung ins Kolportagehafte erklären aus der Rolle des Moralisten, der, in die Enge getrieben, zum Zyniker wird, sie klärt aber nur zum Teil, warum Koeppen an die Grenze des Erzählbaren gerät.

Auch die Vermutung Heißenbüttels, Koeppen verstecke das Autobiographische, weil für ihn in der reinen "Selbstentblößung" "noch zuviel autobiographische Eitelkeit" stecke, scheint mir, bei der Verflechtung mehrerer Aspekte, auch wiederum nur einen zu treffen. Hinzu kommt grundsätzlich die Problematik des Erzählens, nachdem die Fabel fragwürdig geworden, ja unmöglich zu sein, nachdem eine nicht mehr überschaubare Welt in ihr weder (wie auch immer) abbildbar noch beschreibbar noch im fiktiven Modell konstruierbar scheint. Koeppen ist eben nicht der "reine Beobachter", der er gern wäre. Obwohl der Platz am Fenster in seinen Büchern eine bezeichnende Rolle spielt, ist er gezwungen, diesen Platz ständig zu verlassen, sich als Erzähler hineinzunehmen in den Versuch einer Prosa, die, zeitkritisch und autobiographisch zugleich, versucht, über die Welt und sich selbst in dieser Welt etwas auszusagen, und die dabei diesen Versuch und die Möglichkeit, darüber zu sprechen, ja den Versuch des Sprechens selbst, in Frage stellt.

Dokumente

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Sekundärliteratur

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