Reinhard Döhl
Farbe, Landschaft, Musik

Ich kenne - um mit einer persönlichen Feststellung zu beginnen - auf der gegenwärtigen Kunstszene nur wenige Maler, deren werkgeschichtliche Entwicklung eine ähnliche KonSequenz und Konstanz aufweist wie die Arbeiten Philippe Morissons. Ohne spektakuläre Sprünge verläuft seine Werkentwicklung übersichtlich und in klarer Phasenabfolge. Eine monographische Darstellung würde frühe Versuche von Landschaftsmalerei und Selbstportraits festhalten, Einflüsse der Literatur, vor allem der Musik konstatieren, die in der Biographie Morissons eine größere Rolle spielt. Es folgen - gleichsam in Jahresringen - Einflüsse van Goghs dann Cezannes, der 1904 von Ur-Formen der Natur spricht, die in der Kunst und durch die Kunst realisiert werden. Nach 1945 kommen hinzu die entscheidenden Einflüsse von Kandinsky, von Mondrian und Malewitsch, deren Namen zugleich für die ganze Breite einer vom Rationalen zum Irrationalen fächernden abstrakt-konkreten Kunstrevolution stehen.

Morissons Reaktion, ablesbar an seinen Bildern, ist zunächst ein Explodieren von Formen und Farben, sind ungestüme, dissonante Bilder und Collagen, mit ihrer dem Dissonanten, Ungestümen analogen Technik. Am Ende dieser "Explosion" steht die Entdeckung der Farbe als Fläche, und Morisson verwendet fast zehn Jahre darauf, dieser Entdeckung nachzugehen.

Um 1960 beginnt er mit einer stärkeren, dann starken Gliederung des Bildraums, werden seine Kompositionen zusehends strenger, gewinnt Morisson seinen - wie es so schön heißt - unverwechselbaren eigenen Stil. Bei teils systematischer, teils intuitiver Anordnung der Farben und Farbfolgen tritt schließlich seit zirka 1970 an Stelle der dominant vertikalen eine dominant horizontale Gliederung des Bildraums.

Hier könnte eine monographische Darstellung zunächst schließen, wollte man es bei einer derartigen Obertächenbeschreibung belassen. Zum Verständnis der ausgestellten Arbeiten trüge sie freilich wenig bei. Fügt man allerdings die Beobachtung hinzu, daß die Struktur der letztjährigen Arbeiten auf eine verblüffende Weise den Strukturen der Landschaft entspricht, die den jungen Morisson geprägt hat, der sich überdies mit Landschaftsmalerei versuchte, entnimmt man der monographischen Skizze die Bedeutung der Musik für Biographie und Werk Morissons, die beherrschende Rolle und Funktion der Farbe in der Werkentwicklung, so sind damit zugleich drei Aspekte gegeben, unter denen eine weitere Annäherung an die Bilder dieser Ausstellung möglich ist.

Dabei wäre zunächst das Stichwort Farbe aufzugreifen. Kurze Zeit nach Philippe Morissons erster Einzelausstellung bei Denise René in Paris veranstaltete die Galerie eine Sammelausstellung unter dem Etikett "hard-edge" (1). Dieses, zusammen mit einem zweiten, ebenfalls durch eine Ausstellung illustrierten Etikett, "Formen der Farbe (2), signalisiert für die sechziger Jahre in der Malerei eine Gegenwendung gegen den die fünfziger Jahre beherrschenden Tachismus. Die "hard-edge"-Ausstellung der Galerie Denise René machte überdies - indem sie auch Arbeiten von Arp, Sophie Taeuber, von Albers zeigte - eine Tradition deutlich, die zurück zu den ersten Ausformulierungen einer konkreten Kunst, auf das Bauhaus und wesentliche Tendenzen der Kunstrevolution verwies.

Im zeitgeschichtlichen Kontext standen die Etiketten "hard-edge", "Formen der Farbe", aber auch "Form und Farbe", "Form durch Farbe" - wie gesagt - für einen der farbigen Formauflösung tachistischer Malerei, dem sogenannten Informel gegenläufigen Prozeß der Formentwickuns aus der Farbe heraus. An Stelle der - wie man es damals gerne nannte - informellen Geste sollte die durch Farbe, von der Farbe her determinierte Form treten. La composition est pour moi en filigrane de la couleur, sagt es z.B. Morisson (3). Dieser Anspruch wurde jedoch - wie zum Beispiel die Besucher der großen Stuttgarter Ausstellung feststellen mußten - nur von den wenigsten Ausstellern wirklich erfüllt, vielfach hatte man es mit Beispielen einer konstruktiven, geometrischen Malerei, mit fabig gefüllten Formen zu tun. Nicht Formen der Farbe, vielmehr oft nur farbige Formen, ließen die Bilder der Stuttgarter Ausstellung ein programmatisches Mißverständnis ebenso wie ein malerisches Defizit erkennen.

Eine keine Gruppe von Malern, unter ihnen Philippe Morisson, hat immer wieder vor diesem Mißverständnis gewarnt, hat betont, in welchem Maße Farbe der Ausgangspunkt eines Bildes sei. Formal lesen wir es in Morissons Vita: Endgültiger Übergang zur Farbe, behandeit als Fläche [adoption définitive de la couleur traitée en aplats]; intentional hören wir es in einem Interview, in dem Morisson darauf besteht, daß die Farbe für ihn das ideale Ausdrucksmittel sei: La couleur est le véhicule idéal pour m'exprimer. Der Maler Morisson, könnte man sagen, arbeitet mit und in Farben. Der Aussagewert seiner Bilder liegt in den Farbschritten, den Spannungen von farblichen, nicht formalen Vorgängen, im Farben-Spiel. Das wird vielleicht am deutlichsten bei Arbeiten, die im Umkreis einer Farbe spielen, bei den gelben, grünen, blauen, roten Bildern und Gouachen.
Das zweite Stichwort hieß Landschaft. Philippe Morisson stammt aus der Normandie, genauer: aus dem Seebad Deauville. Seine Seherfahrungen sind also geprägt von einer Landschaft der ausgedehnten Fläche(n), der Weite. Ihrer horizontalen Schichtung(en) und Begrenzung(en) und - durch ihre spezifischen Lichtverhältnisse. Wenn Morisson als seine augenblicklichen Probleme die Transparenz der Farbe, die Farbhelligkeit, das Leuchten der Farbe benennt, läßt sich dies sicherlich in seiner werkgeschichtichen Tradition erklären, etwa mit einem Hinweis auf Kandinsky. Es kann aber ebenso in den spezifischen Lichtverhältnissen der Seelandschaft seine Wurzeln haben, wobei die horizontale Strukturierung seiner Arbeiten in den horizontalen Schichtungen und Begrenzungen dieser Landschaft ihre Entsprechung fände.

Eine derartige Überlegung begibt sich auf dünnes Eis, und es scheint angebracht, zu sagen, was hier keinesfalls gemeint ist. Keinesfalls gemeint ist hier ein Vergleichsverfahren, wie es im Umkreis der Bildexegese tachistischer Arbeiten häufiger zu beobachten war: in der Gegenüberstellung fotografierter Natur, etwa geschichteter Bergwände, mit einem strukturell vergleichbaren Bild tachistischer Provenienz. Anläßlich der 2. Documenta lieferte die Zeitschrift "magnum" hierzu abschreckendes Beispielmaterial in Fülle. Etwa in der Verbindung eines Landschaftsfotos mit Emil Schumachers Ölbild "Barbaros". Der gemeinsame Nenner, den die Zeitschrift fand, lautete "Katastrophale Landschaft" und die Exegese:

Der Vesuv und der Aetna haben aufgehört, Feuer zu speien. Aber der Schein trügt. Unter der glänzenden Oberfläche der Zivilisation sind die katastrophalen Kräfte keineswegs gebändigt. Es gibt kaum einen Europäer, der nicht durch die Katastrophe in irgendeiner Form gegangen ist, er hat sich daran gewöhnt.

Einer Publikation über Morisson sind Fotos der Landschaft seiner Jugend beigegeben (4). Das ist nun fraglos nicht so zu verstehen, daß hier der gemeinsame Nenner à la "magnum" gesucht und gefunden werden soll. Es ist vielmehr nur dann sinnvoll und zu verstehen, wenn man sich einer Erfahrung der Psychologie erinnert, die besagt, daß zentrale Erlebnisse der Kindheit und frühen Jugend beim erwachsenen Menschen plötzlich wieder auftauchen, anamnetisch bestimmend werden können. In unserem konkreten Fall; daß die Seherfahrungen des jungen Morisson, die sinnlichen Eindrücke der Seelandschaft jetzt ihre ästhetische Umsezung erfahren. Die Schichtungen und Begrenzungen auf den letztjährigen Arbeiten stellen nicht die horizontalen Schichtungen und Begrenzungen einer Landschaft in abstrahierter Form dar. Die Horizonte auf den Bildern Morissons sind durchaus ebenso künstlich wie die Farbschichtungen. Aber die malerische Entscheidung für sie läßt sich erklären aus der Anamnese sinnlicher Erfahrung einer Landschaft z.B., in der ein Augenmensch lernen kann, wie sehr eine Horizontale Raum aufhebt. In diesem Sinn entspricht einem nicht zuletzt durch die Lichtverhältnisse bedingten Wechselspiel von Weite und horizontaler Begrenzung jetzt ein ästhetisches Wechselspiel von Farbe und Form, von Form und Farbe in jeweils anderer rhythmischer Abfolge.

Was zugleich zum dritten Stichwort führt: Musik. Immer wieder trifft man in der Biographie Morissons. im Umkreis seines Oeuvres auf musikalische Spuren, sei es, daß Bilder Komponisten gewidmet sind, sei es als Zitat, als Hinweis etwa darauf, daß Dichtung und Musik den jungen Maler beeinflußt hätten, oder als Hinweis auf die Verwandtschaft seiner Malerei mit der Musik, die ihn zum Teil direkt inspiriere. Die Menge namentlich genannter Musiker ist auf den ersten Blick verwirrend groß, läßt sich bei einem zweiten Zusehen jedoch auffallend leicht in drei Gruppen ordnen. So begegnen mit den Namen Bach oder Couperin Musiker, die grob dem Barock zuzuordnen wären. Namen wie Schumann, Wagner, Mahler, Debussy stehen für eine musikalische Entwicklung von der Romantik zum Impressionismus. Eine dritte Gruppe umfaßt Namen von Musikern der Gegenwart, etwa Xenakis oder Varese, denen Morisson Bilder gewidmet hat. Alle drei Gruppen ließen sich leicht auffüllen.

Bei einer solchen Auflistung fällt nun zweierlei auf: zum einen, daß es sich um Musiker handelt, die eine - wenn man so will - konstruierte Musik mit Spielraum für die lmprovisation (etwa im Generalbaßzeitalter Barock) oder den Zufall (etwa beim Stochastiker Xenakis) komponierten bzw. komponieren. Zum anderen - und das scheint mir noch wichtiger, daß wir es mit Musikern zu tun haben, für die der Klang eine jeweils besondere Bedeutung hat. So behandelten die Musiker des Barock zwar die Oberstimme(n) bevorzugt, betteten deren Führung aber ein in eine als Eigenwert hervortretende Harmonik. Für die Reihe Schumann, Wagner, Mahler, Debussy ist der semeinsame Nenner Klangfarbe, Klangformen schnell gefunden. Schönberg spricht in seiner "Harmonielehre" sogar von zukünftigen Klangfarbenmelodien. Für Literaturliebhaber sei schließlich noch auf die romantische Vorliebe für Synästhesien verwiesen, etwa eine Gedichtzeile der Art Golden wehn die Töne nieder. Schließlich arbeiten die zeitgenössischen Komponisten wie Varese, Ligeti, Stockhausen mit sogenannten Klangschichten, Klangschichtungen.

Morissons Interesse an der Musik resultiert also auch aus einer augenscheinlich parallel gelagerten künstlerischen Problematik. Verkürzt gesagt: seine Farbschichtungen entsprechen den Klangschichtungen in der Musik. Den Klangfarben der Musiker entsprechen in Umkehrung gleichsam die Farbklänge der Morissonschen Arbeiten. Morisson ist ein - wenn man so will - musikalischer Maler (5).
Dies alles sind mögliche Annäherungen, Versuche, Bilder zu verstehen. Sie können und sollen dem Besucher einer Ausstellung nicht abnehmen, was nur er selbst leisten kann, das Hinsehen, die eigene Auseinandersetzung. Vielleicht hat er es - alltäglich gröbsten visuellen Reizen ausgesetzt - bei dem Maler Morisson schwerer als bei anderen Malern. Eines wird er gewiß müssen: genau und lange hinsehen



Anmerkungen
1)Vgl. die Vorworte von Lawrence Alloway, Michel Seuphor und Teddy Brunius im gleichnamigen Katalog der Ausstellung.
2) Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1967, spez. das Vorwort von Dieter Honisch im Katalog der Ausstellung, die mit Albers, Libermann, Lohse und Vasarely allerdings nur noch vier der bei Denise René ausstellenden Künstler zeigte.
3) Dies und die folgenden Zitate nach Gilles Plazy: Morisson. Evreux: Imprimerie Hérissey 1956. Le territoire de l'oeil, Bd. 2
4) Siehe Anmerkung 3.
5) Zum Problem musikalischer Malerei vgl. jetzt Ausstellung und Katalog "Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts". Staatsgalerie Stuttgart 1985, die aber neben vielen anderen auch den Namen Morisson nicht verzeichneten, obwohl er den Ausstellungsteil "Konkret - seriell - harmonikal" um einen durchaus eigenen Aspekt ergänzt hätte.