Frank Jakoby | Die Zitate aus Goethes "Epilog zum Trauerspiele Essex" in Wilhelm Raabes "Akten des Vogelsangs"
I. Präliminarien
1. Rechtfertigung der philologischen Methode
2. Nachweis relevanter Textstellen
II Forschungsbericht
III. Analyse
1. Inhaltlicher Bezug: Parallelen
2. Historischer Bezug: Parallelen
3. Stoffgeschichtlicher Bezug: Parallelen
a. Entstehungsgeschichte des "Epilogs"
b. John Banks Drama "The Unhappy Favourite"
4. Zusammenfassung
IV. Ausblick
1. Andere Goethe-Zitate
2. Raabes Verhältnis zu Goethe
I. Präliminarien

1. Rechtfertigung der philologischen Methode

Raabe äußert sich an einigen Stellen abwertend über Philologen und ihre Methode, unter anderem läßt er Velten Andres in den "Akten des Vogelsangs" von "frechdummen Literaturgeschichtsschreibern"(S.65)(1) sprechen. Gleichzeitig aber weist seine Zi-tiertechnik auf ausgiebige philologische Vorarbeit hin, er nennt oft Entstehungszeiten und -orte; er spart auch selber nicht mit literaturhistorischen Einordnungen wie ,der junge Goethe’(S.101), "der größte Egoist der Literaturgeschichte"(S.146) usw. Wenn nicht schon aus dieser Haltung, so doch aus seiner Technik der Einwebung vom Zitaten, leite ich das Recht ab, auch seine literarische Hinterlassenschaft zu sezieren und zu klassifizieren.

Was die Kleinlichkeit dieser Untersuchung angehen mag, so glaube ich mich mit dem wiederholten Hinweis auf die ausgefeilte Zitiertechnik Raabes ausreichend rechtfertigen zu können, also selbst aus dem zitierten Subtext auf weitere untergeordnete Texte, auf literaturhistorische und historische Begebenheiten zurückgreifen zu dürfen.

2. Nachweis relevanter Textstellen

Auf Goethes "Epilog zum Trauerspiele Essex" (2) wird bereits in dem Brief Helenes angespielt, den Karl Krumhardt zu Beginn der "Akten" erhält: "Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein."(S.3)

Diese Stelle korrespondiert mit dem Schluß des "Epilogs": "So stirb Elisabeth mit dir allein!" Auf dieselbe Stelle bezieht sich eine Anspielung Karls: "Er hat die Welt überwunden und ist mit sich allein gestorben." (S.89)

Direkt zitiert wird der "Epilog" einzig in einem Brief Veltens an seine Mutter (S.120): "Siehe Goethes Epilog zu dem Trauerspiele Essex: / Hier ist der Abschluß! Alles ist getan, / Und nichts kann mehr geschehn! Das Land, das Meer, / Das Reich, die Kirche, das Gericht, das Heer, / Sie sind verschwunden, alles ist nicht mehr!"

Schließlich erwähnt ihn Helene in Veltens Kammer nach dessen Tod: "Am achtzehnten Oktober achtzehnhundertdreizehn hat euer alter Goethe [...] sein letztes schönes Gedicht gemacht - auf die Elisabeth von England, die ihrem Liebsten den Kopf abschlagen lassen mußte." (S.198)

II. Forschungsbericht

Einzig Joachim Müller (3) geht auf die "Epilog"-Zitate am Rande ein. Seine Untersuchung beschäftigt sich jedoch hauptsächlich mit den Versen aus den "Oden an meinen Freund Behrisch". Müller zufolge sollen die "Epilog"-Verse auf die ,leitmotivischen’ Behrischverse bezogen werden. Abgesehen davon, daß Raabe den Leser überfordere, in-dem weitere Textstellen aus dem Epilog mitverstanden werden müßten und somit die Kenntnis des ganzen Textes nötig sei, handle es sich um ein so abgelegenes Goethe-Werk, daß die Kenntnis einem durchschnittlichen Leser nicht zuzutrauen sei.

Daß der "Epilog" ein so abgelegenes Goethe-Werk sei, ließe sich schnell widerlegen, da ihn Goethe zu den wichtigsten Früchten des Jahres 1813 zählte, das für ihn insgesamt nicht viele aufzuweisen hatte (4).

Weiterhin könnte man anzweifeln, in wie weit es überhaupt Raabes Absicht war, dem Leser Hilfestellungen zu geben und auf irgendwelche Kenntnisse Rücksicht zu nehmen, die seinen eigenen nicht gleichkamen. Beides wird jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.

Ich werde mich in folgenden Ausführungen bemühen, darzulegen, daß die "Epilog"- Zitate durchaus eine eigenständige Interpretation zulassen, die nicht als Fußnote der Behrisch-Verse verstanden werden muß, sondern im Endeffekt als komplementär ange-sehen werden kann.

III. Analyse

1. Inhaltlicher Bezug: Personelle Parallelen

Goethes "Epilog zum Trauerspiele Essex" stellt im wesentlichen einen Monolog der englischen Königin Elisabeth dar, deren Todesurteil gegen ihren Favouriten Essex eben vollstreckt worden ist. Sie sieht seinen Tod, obwohl er die akute Bedrohung ihrer Macht abwendet, als einen Pyrrhus-Sieg, der ihrem eigenen Leben den Sinn genommen hat.

Wirklich zu eigen macht sich das Zitat nur Helene, obwohl das Zitat wie - oben bereits berichtet - durch die Federn aller drei Hauptpersonen geht, weil ihr als einziger die Rolle wirklich paßt.

Velten zitiert in dem Brief an seine Mutter zwar ganze vier Verse, aber er will damit nur seine Enttäuschung darüber ausdrücken, daß alle seine Anstrengungen, zu Geld zu kommen, um Helene nachreisen zu können und erfolgreich um ihre Hand anzuhalten, letzten Endes scheitern: Er kann ihr zwar folgen, sie ist aber schon einem Anderen versprochen. Abgesehen davon wäre eine Heirat der Familie und auch Helene nicht vor-stellbar, weil sie nicht standesgemäß wäre. Hier kollidieren die Interessen, die Helene vielleicht immer schon an Velten Andres gehabt hat, mit der seit Langem herbeigesehn-ten und nun endlich wahrgewordenen "sozialen Rehabilitierung".

Wenn Helene am Ende in Berlin vom "Epilog" spricht, dann kann man wohl eher davon sprechen, daß sie der dramatischen Rolle der Elisabeth gerecht würde: Helene identifiziert sich mit der "Königin Elisabeth, die ihrem Liebsten den Kopf abschlagen lassen mußte", denn sie muß im Nachhinein einsehen, daß ihre Zurückweisung Veltens sein Todesurteil war.

Interessant ist dabei am Rande, daß Helene das Modalverb "müssen" verwendet; wie die Elisabeth des "Epilogs" das Todesurteil gegen ihre Gefühle aus Staatsräson verhängen muß, so muß Helene Velten aus standespolitischen Gründen abweisen.

Weiterhin lassen sich nur in dieser Szenerie, in der Kammer Veltens in Berlin, weitere, nicht explizit erwähnte Textstellen des "Epilogs" mitverstehen. Müller weist bereits darauf hin, daß zum Verständnis dieser Stelle die Kenntnis des ganzen Textes erforderlich ist, nennt aber kein genaues Beispiel. Während Helene und Karl sich in Veltens Kammer unterhalten, stehen immer noch die Verse aus den "Oden an meinen Freund Behrisch" an der Wand. Daher könnte man die Verse: "Fürchte nicht der Wände Spott, / Und wenn du weinen kannst, so danke Gott!" in diesem Kontext mitverstehen.

Helene spricht im weiteren Verlauf des Gesprächs von Velten als ,armem Komödianten’ (S.198) und von sich selbst als ,armer Komödiantin’ (S.199): Auch dieser Vergleich geht parallel mit Goethes "Epilog": "Schauspielerin! so nennen sie mich all’, / Und Schau zu spielen ist ja unser Fall."

Bei akribischer Untersuchung könnte man im "Epilog" auch die frühen Schauspiele der Kinder aus dem Vogelsang entdecken, in denen sich die charakteristischen Beziehungen schon früh ankündigen: "Dort spielt ein Kind und das verstellt sich schon." Die Vorstellung vom Leben als Schauspiel ist typisch bei Raabe, am stärksten tritt sie in dem "200-Seiter"(5) "Im alten Eisen" hervor.

Außerdem ist zu berücksichtigen, daß Helene als "Witwe Mungo" nach Berlin kommt, die über genug Kapital verfügt, mit Leichtigkeit das ganze Berliner Hinterhaus zu kaufen, also wie Elisabeth nach wie vor über alle Macht verfügt ("Nun, du standst, / Und stehest noch, trotz dem, was du empfandst [...]"), aber zugleich als Übriggebliebene resigniert ("[...] Doch wer gesteht sich frei, / Daß diese Liebe nun die letzte sei.").

Die letzte Parallele im Text leitet zugleich zu einer anderen Perspektive der Interpretation über. Helene sagt zu Karl kurz bevor sie vom "Epilog" spricht: "Ja, merkst du, ich habe seinetwegen Geschichte und auch Literaturgeschichte getrieben." (S.198). Elisabeth erinnert sich eines Gewinns, nämlich "Frist / Zu bilden dich, gewannst das, was du bist."

Hat Helene Geschichte und Literaturgeschichte getrieben, dann eröffnen sich auch historische und später literaturhistorische Bezüge, die im Folgenden expliziert werden sollen.

2. Historischer Bezug: Parallelen

Ich bin bemüht, zu beweisen, daß ein historischer Bezug ebenfalls existiert. Helene bezieht sich nicht nur auf den Goethe-Text, das sollte schon allein die Formulierung "sein letztes schönes Gedicht [...] - auf die Elisabeth von England, die [...]" deutlich machen: Hier ist nicht nur die Elisabeth des "Epilogs", sondern auch die historische Figur angesprochen. Ein weiteres Beispiel sollte alle Zweifel ausräumen: Helene verwendet die Bezeichnung "ein anderes Paar aus euren Büchern" (ebd.), was literarisches Werk und Geschichtsbücher gleichermaßen mit einschließt, wie sie es schon bei dem anderen Paar, nämlich Caesar und Kleopatra, tat.

Die Kongruenz der historischen Personen Elisabeth von England (1533-1603) und Earl Essex (1567-1601) auf Helene und Velten der Raabeschen Handlung ist wirklich bestechend.

Velten ist wie Essex ein nicht standesgemäßer Freier, er hat keine Chance zur Heirat. Als Liebesdienst durchreisen beide die Welt, Velten um Helene zu verfolgen, Essex um neue Territorien zu erkunden und um an Elisabeths zweifelhafter Geldschöpfung teilzunehmen.

Helene verbringt ihre Jugend im Exil im Vogelsang, verspottet von der Nachbarschaft, und dennoch gewinnt sie den Reichtum zurück, den sie sich die ganze Zeit zurückgesehnt hatte. Elisabeth bleibt in ihrer Jugend unter Hausarrest und folgt dennoch ihrem Vater auf den Thron. Bei beiden wird dieser soziale Aufstieg von der Umgebung negativ bewertet. Es heißt, Helene hätte sich "verklettert", Elisabeth wird hinter vorgehaltener Hand "der königliche Bastard" genannt.

Der Fall Essex’ erhält seine Tragik dadurch, daß er sich anmißt, selber König zu spielen und schließlich sogar einen Staatsstreich vorzubereiten; Veltens Anmaßung besteht darin, daß er zeitlebens glaubt, er müsse Helene leiten und ihren Lebensweg vorbestim-men. Durch die Ständeregel ist beider Scheitern determiniert.

Eine verdeckte Parallele zwischen Velten und Essex ist besonders interessant: Karl charakterisiert Velten "mit allen Vorzügen und Tugenden begabt, die Ophelia aufzählt" (S.111). Dieses indirekte Zitat bezieht sich auf Shakespeares "Hamlet, Prince Of Denmark"; die Stelle lautet: "The courtier´s, soldier´s, scholar´s eye, tongue, sword, / The expectancy and rose of the fair state, / The glass of fashion and mould of form, / The observed of all observers."(6) Dieses Lob soll von Shakespeare auf seinen Zeitgenossen Essex gemünzt sein (7), womit sich der Kreis schließt.

Bei näherer Betrachtung macht also auch ein historischer Vergleich durchaus Sinn und kann durch Verbindungen zum wahrhaften Zitatsystem legitimiert werden.

3 Stoffgeschichtlicher Bezug: Personelle Parallelen

a) Entstehungsgeschichte des "Epilogs"

Velten Andres wird auffälligerweise an anderer Stelle mit Goethe verglichen ("wie man sich im Alter den jungen Goethe vorstellt") und auch im Bezug auf die Entstehung des "Epilogs" läßt sich eine Beziehung zwischen Goethe und Velten herstellen. Helene gibt in Veltens Kammer sogar das exakte Entstehungsdatum an. Goethe vermerkt über diese vier Tage:

"Hier muß ich noch einer Eigentümlichkeit meiner Handlungsweise gedenken. Wie sich in der politischen Welt ein ungeheures Bedrohliches hervortat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste. Dahin ist denn zu rechnen, daß ich [...] den Epilog zu Essex schrieb, gerade am dem Tage der Schlacht zu Leipzig." (8)

Die Völkerschlacht bei Leipzig war deshalb von solcher Wichtigkeit, weil mit ihr der endgültige Untergang Napoleons besiegelt wurde und Goethe ein unbeirrbarer Anhänger seiner Politik war. Goethe ist auch räumlich von der Schlacht unmittelbar betroffen, die Truppenbewegungen ziehen sich auch durch die Weimarer Gegend. Auch Velten flüchtet sich innerhalb des aufblühenden Berlins der Gründerjahre in die Lektüre seiner Kindheits- und Jugendliteratur und verläßt sich naiv auf die Fürsorge der mittlerweile greisen Fechtmeisterin Feucht. Eine Stelle aus Goethes Brief an Knebel vom November 1813 soll die Parallele weiter verdeutlichen: "Ich gehe in meinem Wesen so fort und suche zu erhalten, zu ordnen und zu begründen, im Gegensatz mit dem Lauf der Welt [...]" (9)

Velten Andres wird im Kontext mit dem Goethe-Vergleich von Leonie des Beaux auch "Weltüberwinder" genannt. Der Kontrast von persönlicher Beständigkeit und weltgeschichtlicher Veränderung ist häufig Thema bei Raabe, ich möchte nur an den Beginn des "Horacker" erinnern.

Auch die "Akten" haben eine fingierte Stoffgeschichte, die erst am Ende enthüllt wird: Helene gibt Karl den Auftrag, alle Geschehnisse aufzuzeichnen. Goethe schreibt den Epilog zum Trauerspiel auf die Bitte der Darstellerin der Königin Elisabeth in John Banks Stück "Unhappy Favorite" hin, das in der Saison 1813 am Weimarer Theater gegeben wurde (10): Hierin findet sich also eine weitere Analogie, Helene ist gewissermaßen die Elisabeth-Darstellerin der "Akten".

(Es würde wohl zu weit gehen, auch darin eine Parallele sehen zu wollen, daß Goethe sich einige Bücher aus einer Leihbücherei bringen läßt, um am Essex-Stoff arbeiten zu können (11), wie auch Velten sich von der Fechtmeisterin seine Jugendliteratur von dort besorgen läßt.)

b) John Banks Stück "Unhappy Favorite"

Wie wir nun sehen, daß die Verwendung des "Epilogs" zwingend auf dessen Stoffgeschichte verweist, so können wir das Stück, dem dieser Schluß angezimmert worden ist, nicht vernachlässigen. Das Trauerspiel weist keine allzu große Qualität auf, darüber ist sich die Literaturwissenschaft einig, Arthur Scouten nennt Banks "one of the weakest playwrights in the long history of English drama" (12), man ehrt höchstens sein Pathos: "Und wenn der Werth eines Tragikers nach dem Maße der Thränen, die seine Stücke kosten, bestimmt würde, so machten wenige unserm Banks den Rang streitig."(13) Banks war ursprünglich ein angesehener Jurist, der sich dann - wie wir sehen - mit mäßigem Erfolg aufs Stückeschreiben verlegte (14). Auch hier könnte man eine - wenngleich zugegebenermaßen nicht sehr schlagkräftige - Parallele zu Karl Krumhardt ziehen, der ja ebenfalls und ausdrücklich erwähnt Jurist ist und dessen Stil offenkundige Mängel auf-weist ("oh wie schade, daß du kein Versmacher bist."; S.199).

Banks Stücke weisen außerdem sehr starke Frauenrollen auf; auch dies könnte eine Verbindung zu den "Akten" darstellen, wenn man sich den Charakter der Mutter Veltens oder die Macht Helenes näher besieht.

Schließlich haben wir es mit der besonderen Situation zu tun, daß ein mittelmäßiges Schauspiel durch die Anfügung einer hervorragenden Persönlichkeit etwas Besonderes wird, wie wir es auch von Karls Jugend und Erwachsenwerden im Vogelsang sagen können, die durch Velten und Helene eine solche Wichtigkeit erlangt, daß es sich lohnt, sie schriftlich festzuhalten.

4. Fazit der Analyse

Es kann eine Anzahl inhaltlicher, historischer und literaturgeschichtlicher Analogien festgestellt werden. Davon sind vor allem die Verbindungen von Essex zu Velten, Goethe zu Velten und Elisabeth zu Helene bemerkenswert.

Der Geschichte der "Akten" liegt der Kontrast zwischen einem generativen Verhalten und einer anachronistischen Tendenz zugrunde. Wir können Personen trennen in diejenigen, die gewöhnlich sind, Kinder zeugen und für diese vorsorgen, wie Karl und des Beaux (Karl beschwört die Nachkommenschaft fast formelhaft), und in diejenigen die nachkommenlos sterben werden, wie Velten, Helene und übrigens auch des Beaux’ Schwester Leonie, die Diakonissin wird. Diese Gruppe weist auch das anachronistische Verlangen auf, das fatale und zum Teil morbid wirkende Bewahrenwollen. Hierbei ist noch anzumerken, daß auch Elisabeth von England kinderlos starb, die Linie der Tudors endete, und gerade der Sohn ihrer Erzrivalin an die Macht kam, die ein ihr vollkommen konträres Leben führte.

Der Versuch ist fatal, weil sich die Zeit nicht aufhalten läßt und er daher a priori zum Scheitern verurteilt ist. Der Versuch wirkt morbid, weil er Situationen herstellen will, die sich mit der Realität nicht mehr vereinbaren lassen; so will Helene mit der Fechtmeisterin das Andenken Veltens wahren, obwohl deren Tod deutlich abzusehen ist, und so wird Velten auch körperlich krank, weil er seine Kammer nicht mehr verläßt.

Da wir jetzt gesehen haben, wie viele Verbindungen sich aus dem bloßen Zitat und der bloßen Erwähnung des Epilogs ziehen ließen, kann er nicht einfach nur ein Hinweis auf die sicherlich dominant auftretenden Verse aus den "Oden an meinen Freund Behrisch" sein, sondern läßt eine eigenständige Interpretation zu, die aber wiederum als ein Komplement verstanden werden könnte:

Aus der paradoxen Formulierung "wie man sich im Alter den jungen Goethe vorstellt" könnten wir ableiten, daß wir ein Zitat von Versen des Achtzehnjährigen einem Epilog des Vierundsechzigjährigen gegenüberstellen können: Einmal ist es ein "giftiger Vers", einmal "sein letztes schönes Gedicht", jener markiert das Ableben Veltens, dieser bestimmt das Weiterleben Helenes.

IV. Ausblick

1. Andere Goethe-Zitate

Neben dem "Epilog" wird auch "Faust I" zitiert, einmal auf "Faust II" angespielt. Diese Zitate haben allerdings keinen besonderen Wert für die Gesamtinterpretation, es handelt sich mehr oder weniger um ironische Anspielungen (z.B. "bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen" (S.65) auf die Schlußszene des zweiten Teils des "Faust"; hierin findet sich auch ein weiterer Beleg für die ausgeprägten Frauenrollen in den "Akten").

Wenn Velten Helene anbietet: "Mein schönes Fräulein darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?" und sie daraufhin ,eine Faust macht’ (S.52), dann ist das natürlich nicht mehr als ein Scherz am Rande. Dieses Faustzitat (V.2605f) (15) weist nur noch in der Hinsicht eine tiefere Bedeutung auf, als der Begriff "Fräulein" zu dieser Zeit noch eine hohe Geburt implizierte (16), Velten damit die trotzige Helene neckt und sich zugleich als Verführer aufspielt.

Die einzige dichter gestrickte Anspielung ist mit zwei Stellen im Zusammenhang zu verstehen. In Veltens Kammer zitiert Karl den "Faust" ungenau: "Ich hätte freier geatmet im Staube, der aus hundert Fächern die Wände uns verenget, unter dem Trödel, der mit tausendfachem Tand in dieser Mottenwelt uns dränget." Er vergleicht damit Veltens Kammer mit dem Faustschen Studierzimmer (V.656-659). Kurze Zeit später, bei der Heimfahrt von Berlin, charakterisiert Karl die Stimmung mit "Trüber Tag. Feld", einer Szenenüberschrift aus dem "Faust".

Einerseits karikiert Raabe hier das Raumkonzept im "Faust", den Wechsel von Systolischem und Diastolischem, andererseits wird dem toten Velten und seiner Kammer ein Stück Verstext zugeordnet, Karl auf dem Rückweg aber eine Regieanweisung, und vor allem eine Überschrift zu einer Prosaszene. Hierin findet man noch eine Spur des Unterschieds zwischen poetischer und prosaischer Existenz.

Interessant ist außerdem, daß Velten den "Faust", eines der vom Bürgertum kanoni-sierten Goethe-Werke, scherzhaft zitiert, Karl aber damit halbwegs ernsthaft versucht, Stimmungen wiederzugeben.

2. Raabes Verhältnis zu Goethe

Hier ist nicht der Ort dieses Thema näher zu behandeln, als vielmehr nur anzuschneiden. Raabe und seine Figuren nehmen eine ambivalente Position zu Goethe ein. Einerseits finden sich gehässige Urteile, wie "der größte Egoist der Literaturgeschichte", und abfällige Bemerkungen über die Pflichtlektüren der Klassiker, andererseits entfalten weniger gängige Werke eine so starke Kraft, daß sie in der Lage sind, Lebensläufe zu ändern.

Auch Raabes Verhältnis zu Goethe ist eine Mischung aus Kritik (s.o.), ironischer Nachahmung - ich weise auf den wahrhaften Osterspaziergang im Romanfragment "Altershausen" hin - und gleichsam großer Verehrung, wovon etwa der Vergleich von Goethes Gedicht "Grenzen der Menschheit" und Raabes Gedicht "Wen ein Gott / In früher Stunde [...]" zeugt.

Anmerkungen
1) Alle Seitenangaben ohne Titel beziehen sich auf: Wilhelm Raabe: "Die Akten des Vogelsangs". Stuttgart 1976, 1988; letzte Auflage 1996
2) Goethes Werke, "Weimarer Ausabe", Abt.1, Band 13, 177/181
3) Das Zitat im epischen Gefüge. Die Goethe-Verse in Raabes Erzählung "Die Akten des Vogelsangs". In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1964, Braunschweig; S.7-23 bes. S.20f.
4) Goethe: Tag- und Jahreshefte. hrsg. v. Irmtraut Schmid. Frankfurt 1994
5) Arno Schmidt nach Hans-Jürgen Schrader: Editorisch-bibliographische Notiz zu Raabes "Horacker". Frankfurt a.M. 1985. Der Begriff soll als Ersatz für die fehlenden Gattungsbezeichnungen im Spätwerk Raabes dienen.
6) William Shakespeare, Complete Edition, Vol.5, hrsg. v. L. Schücking. Augsburg 1996
7) Zit. nach Routh, C.R.N.: Who´s Who in History. Vol. 3. Elizabethanian Age. Oxford 1964
8) Tag- und Jahreshefte, s.o.
9) Goethes Briefe. hrsg. v. Bodo Morawe, Bd.3. Hamburg 1965
10) Sauder, Gerhard: Theaterreden: Pro- und Epiloge, Vor- und Nachspiele. In: Goethe-Handbuch Band 2. Drama, hrsg. v. Theo Koll. Stuttgart 1997
11) Zit. nach Steiger, Robert: Goethes Leben von Tag zu Tag. München, Zürich 1988
12) Scouten, Arthur H.: Restoration and 18th century drama. London 1980
13) Ersch/Gruber: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Leipzig 1819-1889, Reprint 1970
14) Baker/Reed/Jones: Biographia Dramatica Or A Companion To The Playhouse. London 1812, Reprint 1996
15) Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Band 14. Hierauf beziehen sich alle weiteren Versangaben.
16) Schöne, Albrecht: Johann Wolfgang Goethe - Faust. Kommentare. Frankfurt 1994