Christoph Zeller | Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre [1998]

Zusammenfassung | Die einzelnen Kapitel | Schema | Zu Christoph Zellers "Poetische[m] Asaroton"

Zusammenfassung

Wilhelm Raabe fügte sich nicht den ästhetischen Forderungen des bürgerlichen Realismus, seine Romane und Erzählungen bilden keine "Wirklichkeit" ab, sie sind nicht "objektiv", nicht "humorvoll" nach jenem damaligen Verständnis, das die Widersprüche einer unbegreiflichen Welt zu versöhnen suchte. Seine Fabeln sind meist in wenigen Sätzen wiederzugeben, und so verlagerte sich das Interesse an einem der wichtigsten deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zusehends auf die Art und Weise der Darstellung, die Kunstfertigkeit seiner Texte.

Während sich die einschlägige Forschung der Entschlüsselung einzelner Zitate und Anspielungen widmete, benennt die vorliegende Dissertationsschrift Ursachen eines eigentümlichen, erzählerischen Verfahrens: Die Erfahrung eines problematischen Ichs begründet demnach die Reflexion des Schreibens. Einen Zusammenhang, eine Einheit findet das Subjekt einzig noch in der Wiedergabe dichterischer Gesetzmäßigkeiten, die den literarischen Reminiszenzen und Bruchstücken zu einer Ordnung - der des Textes - verhelfen.

Daß sich das Ich nach dem Verlust eines transzendenten Obdachs in einer gottlosen, bedeutungsleeren Welt zu orientieren habe, ist indessen das große Thema Jean Pauls. Dem Atheisten sei die jenseitige Welt und damit die Unsterblichkeit verwehrt, er verliere sich in "zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs" ("Rede des toten Christus"). Die in der "Vorschule der Ästhetik" entwickelte Theorie des Dichtens stellt die Einbildungskraft in den Mittelpunkt und vor allem: den "Witz". Dieser verbinde Unzusammenhängendes, finde Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, indem er sich der Sprache als fügsamen Materials bediene. Er sei das "Anagramm der Natur", ein "Geister- und Götter-Leugner", der "Freiheit" und "Gleichheit" gebe - die Ideale der Französischen Revolution. Der solcherart entstehende Text sei aber ein spielerisches, poetisches Produkt der "witzigen" Phantasie, nach heutiger Terminologie: eine literarische Montage, die sich durch Offenheit und Lückenhaftigkeit auszeichne.

Jean Paul bereitete hierdurch moderne Erzählverfahren vor, er ist der Ahnherr einer ästhetischen Tradition, die sich durch das 19. Jahrhundert verfolgen ließe, bevor sie im Spätwerk Wilhelm Raabes anlangte. Zu jener Zeit wurde Jean Paul kaum mehr gelesen, seine Romane galten als Ausbund des schlechten Geschmacks. Gemessen am Urteil Goethes und Hegels, das für die Epoche des bürgerlichen Realismus Bestand hatte, wurden seine Schriften für formlos und geschmacklos, sogar für krankhaft gehalten. Daß Raabe sich das Werk Jean Pauls geflissentlich aneignete, den Namen des Autors häufig erwähnte, auf Figuren und Motive anspielte und ganze Passagen wörtlich zitierte, wurde - bis heute - ignoriert. Tatsächlich verbürgten die Texte Jean Pauls ein literarisches Programm. Sie illustrieren den Selbstbezug literarischer Produktion, sie stellen die bislang verborgene, immanente Poetik im Werk Wilhelm Raabes dar. Die Prosawerke beider Autoren gestalten Szenarien kreativen Schaffens, sie erzählen keine Geschichten mehr, sondern sind selbst bereits Abbildungen des Dichtens, Allegorien des Erzählens.

In exemplarischen Gegenüberstellungen einzelner Romane, stets am Text orientiert und mit gelegentlichen Ausblicken auf andere Autoren versehen (etwa Shakespeare, Goethe, Tieck, Rückert, Voß), zeichnet die Dissertation eine intensive Jean-Paul-Lektüre Wilhelm Raabes nach, verfolgt dessen schriftstellerische Entwicklung und leistet Grundsätzliches in dreierlei Hinsicht:

Die einzelnen Kapitel

Obwohl dem "Hesperus", den "Flegeljahren" , dem "Komet" und dem partiell einbezogenen "Titan", die durchgängig von Raabe zitiert werden, Aufmerksamkeit gebührte, stehen die für die Entwicklung des künstlerischen Verfahrens maßgeblichen Titel im Mittelpunkt: "Die Unsichtbare Loge" als romanesker Auftakt des Jean Paulschen Werks nach den satirischen Jugendschriften, "Siebenkäs" als Beispiel humoristischen Erzählens, "Selina" als Abschluß und Quintessenz einer dichterischen Explikation des psychischen Innenraums, "Dr. Katzenbergers Badereise" für eine in Resignation und Zynismus umschlagende literarische Positionsbestimmung, "Der Jubelsenior" als Exempel einer Gattungstradition, welche der Idylle die Aufgabe einer metaphorischen Darstellung poetologischer Gesetzmäßigkeiten zuschreibt.

Die Kapitel können sowohl im Zusammenhang, wie auch einzeln gelesen werden. Jedes erörtert an einem ausführlich besprochenen Roman Raabes die Wechselwirkung psychologischer Introspektion (Subjekt) und erzählerischem Verfahren (Montage). Das Vorgehen ist stets induktiv, die Textanalyse hat Vorrang. Nach einer Einführung ist den Kapiteln ein kritischer Forschungsüberblick vorangestellt. Des weiteren wird zumeist über "dritte" auf die Texte Raabes und schließlich Jean Pauls hingeleitet: Gemeinsamkeiten ergeben sich häufig über Gattungstraditionen (z. B. Idyllik) oder bevorzugte, oft genannte Autoren. Die Analysen folgen einer nicht allzu schematisch angelegten Dreiteilung. Jedem Kapitel ist ein kurzes, zwei bis drei Seiten umfassendes Fazit beigefügt. Am Schluß der Arbeit sind die Thesen kurz skizziert.

Das der Einleitung folgende Kapitel führt in die Problematik ein, beleuchtet die unter der Dominanz der Weimarer Klassik und des Idealismus stehende Wirkungsgeschichte Jean Pauls und macht die Stilisierungen der literarischen Öffentlichkeit (Zeitschriften, Verlage, Universitäten) ebenso transparent, wie das gegen den programmatischen Realismus sich absetzende Selbstbild Raabes. Es kommentiert den allenthalben vorgetragenen Vergleich des Braunschweiger Schriftstellers mit Jean Paul und verfolgt den widerspruchsreichen und unzulänglichen literaturwissenschaftlichen Deutungsversuchen bis in die Gegenwart nach. Als Teil der Rezeptionsgeschichte Jean Pauls steht ein Forschungsbericht zum Verhältnis beider Autoren am Ende des Kapitels.

Die besondere Bedeutung der Gattung Idylle für das Werk Raabes ist Gegenstand des dritten Kapitels. In "Hastenbeck", dem vorletzten, 1898 erschienenen Roman, wird die Gattungstradition auf unterschiedlichen Ebenen reflektiert. Ohne eigentliches Sujet erscheint Idyllik auf einer abstrakten Ebene als Beschreibung eines umfriedeten Bezirks dichterischer Phantasie. Die Idylle ist demnach der arkadische Innenraum schriftstellerischer Produktion, sie veranschaulicht den "Metatext der literarischen Fiktionalität" (Wolfgang Iser). Eine solcherart restituierte "Einheit" des schreibenden Ich gibt sich indes von Beginn an als Utopie zu erkennen. Von einem apokalyptischen Subtext und nicht minder von dem umgebenden Kriegsgeschehen unterlegt, ist die Autonomie des Subjekts einer Bedrohung ausgesetzt: Der Vanitasgedanke ist das vorherrschende Movens einer Dichtung, die das Zusammenspiel von Zerstörung und Rekonstruktion als Regel der Textproduktion thematisiert. Das Modell für die im Text angelegte, zwischen subjektiver Gefährdung und textueller Gestaltung stehende Reflexion des Schreibens findet sich in Jean Pauls "Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz". Zusammen mit dem ersten Roman "Die unsichtbare Loge", stellt die "Idylle" den Referenztext für die Spiegelung literarischer Gesetzmäßigkeiten dar.

Daß Raabe bereits in seinem ersten Roman "Die Chronik der Sperlingsgasse" (1857) Jean Pauls Werke ("Wutz", "Siebenkäs", "Leben Fibels" u. a.) nicht als bloße Bildungsreminiszenzen erwähnte, geht aus dem vierten Kapitel hervor. Insonderheit das Datum des "15. Novembers", das die Initiale zu Raabes gesamtem Œvre vorstellt, erweist sich als Resultat einer "Verdichtung", einer mehrfachen semantischen Kodierung. Sie deutet auf eine frühe Lektüre der Schriften Jean Pauls und deren Einfluß auf die Anfänge des jungen Raabe hin. Der Zusammenhang biographischer Faktizität und literarischer Fiktionalität steht im Zentrum dieses Teilstücks.

Mit dem 1868 erschienenen Roman "Abu Telfan oder Die Rückkehr vom Mondgebirge" fortzufahren, rechtfertigt sich aus der künstlerischen Neuorientierung, die Raabe nach Jahren der Anpassung an den literarischen Markt vollzog. Die Hinwendung zu einem experimentellen, narrativen Verfahren, das die spielerische Auflösung der Erzählerfigur betreibt und das Romanpersonal zur Abbildung einer in multiple Bereiche aufgespaltenen, dichterischen Einbildungskraft heranzieht, zeugt von der literarischen Erforschung der menschlichen Psyche. Jean Pauls "Selina" ist, wie in Kapitel V gezeigt, der Referenztext jener psychologisch-poetischen Doppelbewegung, die sich in der Metapher des unbekannten inneren Afrikas manifestiert.

Auf den Begriff des Humors konzentriert sich der zeitgenössische Vergleich Raabes mit Jean Paul. Daß sich der Terminus zu Zeiten des bürgerlichen Realismus grundlegend von der Anwendung durch die beiden Schriftsteller unterschied, bildet den Anstoß zum sechsten Kapitel. Keine "Gemütsverfassung", keine "Lebensweisheit" ist demnach gemeint, welche die Widersprüche des Daseins versöhnen solle, sondern das Merkmal einer besonderen Erzählweise. Jean Paul erklärt die "neuere Poesie" aus dem "Christentum", dessen Dualismus von Himmel und Hölle, Diesseits und Jenseits, "nach dem Einsturz der äußern Welt" ("Vorschule der Ästhetik") in das Innere des Menschen verlagert worden sei. Von der "Spaltung" des Subjekts habe humoristisches Erzählen demnach zu handeln, vom Verlust metaphysischer Heilsvorstellungen und dem Zugewinn psychologischer Erkenntnisse. Paradigma dieser humoristischen Epiphanien, einer im Moment des Erzählens aufgehobenen, transzendentalen Weltvorstellung, ist der 1796 erschienene "Siebenkäs". Raabe übernimmt in "Stopfkuchen" die von Jean Paul vorgezeichnete, aporetische Setzung der Erzählerkonfiguration. Stopfkuchen und Eduard tragen unverhohlen die Züge des seelenverwandten Freundespaares Leibgeber/Siebenkäs. In Auseinandersetzung mit Jean Paul entwickelt Raabe schließlich ein Textmodell, das eklatante Ähnlichkeiten zur von Freud vorgetragenen Explikation der Psyche aufweist.

Der poetologische Metatext erhält auch in Kapitel VII, Raabes wenig beachteten Roman "Wunnigel" analysierend, den Vorrang. Er beschreibt die Auflösung eines geschlossenen Werkbegriffs analog zum Verfall bürgerlicher Autonomievorstellungen. Aus Überresten und Trümmerstücken der Vergangenheit, Metaphern für das textkonstitutive Zitat, erwächst eine neue - unabschließbare, durchlässige und mehrdeutige - Form der Darstellung: die Montage. Bereits Jean Pauls "Dr. Katzenbergers Badereise" dokumentiert eine sich auf Sammlung, Montage, Zitat stützende Poetik. Sie beruht auf einer zynischen, nihilistischen Zurückweisung personaler "Einheit" und erörtert analog die mit dem Mal des "Häßlichen" belegte Idee einer aus vorgefertigten Teilen zusammengesetzten Text-Sammlung.

In einem Exkurs sind die für "Wunnigel" relevanten, poetologischen Segmente auf "Gutmanns Reisen" anzuwenden, dem Roman mit der wohl größten Dichte an Jean-Paul-Zitaten im Werk Raabes. "Dr. Katzenbergers Badereise" nimmt gleichwohl eine herausragende Stellung bei der Vermengung ästhetischer und politischer Fragestellungen ein.

Im letzten Kapitel bleibt, Raabes postum publizierten Roman "Altershausen" als Exempel eines "montierten" Kunstwerks vorzuführen (die zeitliche Nähe zur literarischen Avantgarde ist kein Zufall). Die im Text gestellte Frage nach dem "Selbstbewußtsein" (BA 20, 240) korreliert einer aus Zitaten und Anspielungen gestalteten Bauform, einem literarischen Spiel. Den Kern bildet die Gattungstradition der Idylle, so daß an das "Hastenbeck" gewidmete Kapitel angeschlossen werden kann. Die bukolische Selbstbespiegelung dichterischer Gesetzmäßigkeiten geht auf die Aneignung von Jean Pauls "Jubelsenior" zurück. Dort sind die digressiven, poetologischen Reflexionen - Jean Paul möchte sie als eigene Gattung, als "Appendix", bezeichnet wissen - die "Hauptsache", sind "ein musivisch in den Stubenboden eingelegtes, ein poetisches Asaroton" (SW I/4, 413f). Ein Mosaik aus literarischen Bruchstücken, von einer "gedichteten Dichtungstheorie" zusammengehalten, ist desgleichen das Werk Wilhelm Raabes.

Schema

I Einleitung
II Stilisierungen
III Idylle (Hastenbeck - Schulmeisterlein Wutz)
IV Der 15. November (Chronik - Unsichtbare Loge)
V Das unbekannte innere Afrika (Abu Telfan - Selina)
VI Humoristische Epiphanien (Stopfkuchen - Siebenkäs)
VII Sammlung, Montage, Zitat (Wunnigel - Katzenberger
Exkurs: Gutmanns Reisen
VIII Spiel (Altershausen - Jubelsenior)
IX Schluß
X Literaturverzeichnis
 

Reinhard Döhl |  Zu Christoph Zellers "Poetisches Asaroton. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre"

Seit einigen Jahren erfahren das Werk Wilhelm Raabes, die Zitier- und Verweissysteme seines Erzählverfahrens besondere Beachtung. Wie in den letzten Raabe-Jahrbüchern oder z.B. in den Arbeiten Eckhardt Meyer-Krentlers, Horst Denklers oder der Stuttgarter Dissertation Helmuth Mojems dokumentiert (vgl. ausführlich das Literaturverzeichnis der vorgelegten Dissertation), fügen sich besonders die späten Romane Raabes weder dem zeitgenössischen Verständnis von Literatur noch in eine von der Literaturwissenschaft vorgegebene Kategorie des bürgerlichen Realismus. Sie zeichnen sich stattdessen aus durch eine im fortwährenden Verweis oder verdeckten Bezug auf "fremde" Literatur offene, zu aktivem kombinatorischen Lesen einladende komplexe, mehrschichtige Struktur. Und sie nehmen dabei als narrative Experimente, in Annäherung an neue Formen literarischer Gestaltung poetische Praxen des 20. Jahrhunderts vorweg.

1995 bereits machte Christoph Zeller in seiner mit "sehr gut" bewerteten Magisterarbeit "Erzählerbewußtsein und Erinnerung. Wilhelm Raabes 'Altershausen'" auf strukturelle und poetologische Bezüge zu Jean Pauls "Jubelsenior" aufmerksam, die eine gründlichere Untersuchung der Beziehungen Raabes zu Jean Paul wünschenswert machten. Raabes Affinität zu Jean Paul wurde seit dem Erscheinen der "Chronik der Sperlingsgasse" (1857) zwar von der Literaturkritik stets behauptet, von der Literaturwissenschaft nachgeschrieben, ein Beweis hingegen bis heute nicht erbracht. Überdies wurde Jean Paul in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum gründlich gelesen. Seine Ablehnung bereits zu Lebzeiten (Gegensatz zur Weimarer Klassik, zur Ästhetik Hegels), seine Abschätzung als eines "krankhaften Subjektivisten", die Rollenzuweisung eines form- und geschmacklosen Außenseiters, willkürliche Eingriffe in das Werkganze, nach denen dem Dichter beim bürgerlichen Lesepublikum bestenfalls die Rolle des "Idyllikers" blieb - all dies war natürlich auch Raabe vertraut, der sich zwar mit öffentlichen Äußerungen zu seiner Lektüre auffallend zurückhielt aber sich dennoch in seinem Werk unüberlesbar immer wieder und vor allem auf Jean Paul bezog.

Daß Literatur aus Literatur entsteht, aus "Makulatur", wie Raabe es mit wörtlichem Verweis auf Jean Paul sagt, wobei die zahlreichen Mühlen in Raabes Werk auch Lumpen-, also Papiermühlen sind, ist ein Prinzip humoristischen Erzählens seit Cervantes, und die wenigen Zeugnisse Raabes zu seiner jugendlichen Lesewut gliedern ihn bereits in diese Tradition ein (Vgl. Kap. II: "Stilisierungen"). Das Spätwerk Raabes nun stellt den vorläufigen Höhepunkt dieser komplizierten dichterischen Produktionsweise dar. In ihm ist Handlung auf ein Minimum reduziert, entstehen Sinnstrukturen erst durch Ent-schlüsselung zahlreicher Zitate und Anspielungen, wird das Erzählen zum eigentlichen Gegenstand des Erzählens. Die Spiegelung literarischer Regeln setzt die Infragestellung der höchsten literarischen Instanz, des Erzählers, voraus. Er ist der Stellvertreter einer im bürgerlichen Zeitalter angenommenen Autonomie des Ich, das gewissermaßen frei über sein künstlerisches Vermögen, seine Antriebe oder Seelenkräfte verfügt. Erzählen ist bereits im Werk Jean Pauls immer auf diesen Erzähler bezogen, der sich im Verlauf des literarischen Schaffens zunehmend seiner Souveränität beraubt sieht. Für Raabe ist dann die Erzählerfigur nurmehr als Spiel denkbar, als Summe verschiedener Figuren im Text.

Die Einheit oder Autonomie des Erzähler-Ichs ist Thema einer literarischen Gattung - der Idylle (in ihr wird die innere Einheit durch die Abgeschlossenheit des locus amoenus angezeigt). Mit dem letzten zu Lebzeiten Raabes erschienen Werk - "Hastenbeck" - beginnt Zeller daher die Analyse der erzählerischen Grundlagen, da in diesem Text, wie kaum in einem anderen, Idyllik thematisiert werde. Der Gattung seien, ist Zeller überzeugt, nachdem sie in die Form des Romans integriert wurde, zwei Funktionen zugefallen. Idyllik gestatte die Beleuchtung des psychischen Innenraums und sei zugleich poetologische Selbstreflexion. "Hastenbeck" zeige nun die Gefährdung des Ichs einerseits - etwa in der Gestalt des gehetzten und bedrohten "Blumenmalers" Pold Wille - und die wesentlichen Bausteine des Erzählens andererseits. Als Porzellanfiguren seien die Personen des Textes Allegorien des Erzählens, zerbrechliche Abbilder der auf den Künstler/ Schriftsteller bezogenen Aspekte seines Inneren. Da die Auflösung dieses Inneren, das sich in "Traumgebilde" (Raabe) verliere, in den psychoanalytischen Theorien Freuds angedeutet sei, lasse sich dessen >Traumdeutung< (1900) als Beleg für die dichterischen Verfahren Verschiebung und Verdichtung heranziehen. Der Text selbst setze sich dagegen aus Bruchstücken zusammen, die anderen Texten entnommen seien. Diese Bruchstücke nennt Zeller, einer Definition Walter Benjamins folgend, Allegorien, eine der Deutung bedürftige, aus solchen Bruckstücken sich zusammensetzende bzw. zusammengesetzte Dichtung allegorisch. Statt der Handlung stelle die Reflexion der Komposition und ihrer Gesetze den roten Faden des Textes dar. Beispielhaft wird dies deutlich, wenn sich in "Hastenbeck" mit der Nennung von Cobers "Kabinettprediger" der Blick auf die 'Idylle' des "Schulmeisterlein Wutz" und (von ihr untrennbar) "Die unsichtbare Loge" öffnet. Jean Pauls Witztheorie aus der "Vorschule der Ästhetik" bilde schließlich den theoretischen Hintergrund, vor dem sich die allegorische Schreibweise Raabes entwickle. (Vgl. Kapitel III: "Idylle".)

Jean Paul wird von Raabe (in der Beweisführung Zellers, der darauf schon in seiner Magisterarbeit hinwies,) immer dann zitiert, wenn Raabe die Reflexion des erzählerischen Verfahrens in seinen Texten anstrebt. Beide Autoren veranschaulichen die Gesetzmäßigkeiten des Schreibens, sie zeigen die Prinzipien der Montage (an anderer Stelle spricht Zeller auch von Collage) und die Problematisierungen von Subjektivität, was sich auf die Formel einer wechselseitigen Bedingung von Destruktion des Subjekts und Konstruktion des Textes bringen lasse. Damit belege eine Analyse der Erzählprosa Raabes vor dem Hintergrund des Jean Paulschen Werks die frühe Aktualität eines Theorems, der 'Tod' des Subjekts, das von Poststrukturalisten wie Roland Barthes oder Derrida erst eigentlich aufgegriffen wurde. Zeller läßt sich jedoch nicht zu einer nachträglichen Theorieanwendung verführen, sondern entwickelt (einige Verweise auf Michel Foucault abgerechnet) seine Überlegungen aus den Texten Raabes und Jean Pauls selbst, gestützt lediglich auf Freud und Benjamin, die ja beide der Entstehung der literarischem Moderne sehr nahe standen.

Die weiteren Kapitel widmen sich mit unterschiedlicher Gewichtung sowohl der Destruktion des Subjekts bzw. des autonomen Ichs (exemplifiziert an einzelnen Figuren oder der Erzählerinstanz) oder dem Montageverfahren. Daß die in "Hastenbeck" aufgedeckten Strukturen bereits im Frühwerk, bereits in der "Chronik der Sperlingsgasse" anzutreffen sind, veranschaulicht das IV. Kapitel: "Der 15. November". Der legendäre "Federansetzungstag" ist nämlich nicht nur eine Anspielung auf Tiecks gleichnamige Novelle [worauf als erster Huth aufmerksam machte, was Fuld dann ohne Nachweis abschrieb], sondern bezeichnet auch und vorrangig das für die Entstehung von Jean Pauls Erzählwerk wohl wichtigste Datum: er verweist auf die Todeserfahrung des jungen Jean Paul und vermengt gleichzeitig literarischen Vorstufen des Erlebnisses aus dem Jugendwerk, aber auch aus der Lektüre, aus Goethes "Werther" z.B. [der auch in Raabes Werk wiederholt eine Rolle spielen wird]. Das Datum, mit dem Raabes Werk also beginnt, ist also in mehrfacher semantischer Kodierung [vgl. zum Terminus die einschlägigen Aufsätze Götz Müllers 1991, 1994] eines literarischen Zitats als Signal eines bedeutungstragenden poetischen Verfahrens zu verstehen. Darüber hinaus finden sich in der "Chronik" aber noch weitere deutliche Hinweise auf Werke Jean Pauls oder auf die Lektüre von für beide Autoren gleichsam gewichtigen Texte (etwa Shakespeares), was Zeller veranlaßt, Raabes folgendes Schaffen unter dem Nenner der Kompilation zu subsumieren.

"Abu Telfan" wird von der Forschung als Neuorientierung im Werk Raabes verstanden. In der Mitte dieses Romans findet sich aber nicht nur der Titel eines der Verbindung von Erinne- rung/Traum und Literatur gewidmeten Aufsatzes von Jean Paul ("Über das Immergrün unserer Gefühle"), sondern der Text ist als Allegorie der schriftstellerischen Selbsterkundung zu lesen. Die häufiger verwendete Metapher des "unbekannten inneren Afrika" bezeichnet dabei das zu dunkle Innere, aus dem der Heimkehrer Leonhard Hagebucher zurückkehrt. Der Aufenthalt im fernen Kontinent ist gleichermaßen der Erforschung des Selbst wie der Lektüre gewidmet. Raabe fand die Metapher in Jean Pauls "Selina, oder über die Unsterblichkeit der Seele". Dem Traum wird hierin die Poesie gleichgestellt, als Fenster in ein unendliches Jenseits. Nicht nur, wie sich an anderer Stelle der vorliegenden Arbeit andeutet - Nicht nur "Abu Telfan" ist desgleichen als Traumdichtung zu verstehen, als schriftstellerische Erkundung des Inneren. Im Traum erfährt sich das Ich nicht mehr als Ganzes, sondern aufgespalten in ein Nebeneinander von Ich, Es und Über-Ich, oder, mit den Worten Jean Pauls, in eine "Sammlung mehrerer Ichs". (Vgl. Kap. V: "Das unbekannte innere Afrika").

Daß die neue Poesie dem Christentum entstamme, mit dessen Problematisierung der Gegensatz von Himmel und Hölle, Diesseits und Jenseits aber in den Menschen selbst verlagert werde, besagt eine These aus Jean Pauls "Vorschule der Ästhetik". Jean Paul hat dies in Gegensatzpaaren fixiert: in Vult und Walt, Albano und Roquairol und vor allem in Siebenkäs und Leibgeber. Aus der Negation entsteht humoristisches Erzählen, das sich als Reaktion auf den Verlust eines transzendenten Weltbildes betrachten läßt. Entsprechend versteht Jean Paul Humor als "Umkehrung" des Erhabenen, als das negativ Erhabene und nennt den Teufel die "Moreske einer Moreske" - den größten denkbaren Humoristen. Und ebenso entsprechend ist Leibgeber Atheist, der Atheismus aber das Thema der "Rede des toten Christus" im Zentrum des "Siebenkäs".

Das Schema des "umgekehrten" Christus wird von Raabe in "Stopfkuchen" übernommen, der Text ist analog zum "Siebenkäs" konzipiert. Der dicke Heinrich Schaumann, genannt "Stopfkuchen", ist ein Pendant zu Leibgeber. Beide sind Verkörperungen des Humoristen, negative Christusfiguren, Zyniker, ja: Teufel. Die Spaltung von Innen und Außen spiegelt sich in der Doppelung der Erzählerfigur Eduard/Stopfkuchen. Eduard kommt nicht mehr zu Wort, umso mehr dagegen sein "Ideal", Heinrich Schaumann. Während die Souveränität des autonomen Ich - hier: des Erzählers - grundsätzlich bezweifelt wird, läßt der Text eine komplexe Strukturierung erkennen: Freuds zweitem Instanzenmodell entsprechend sind einem oberflächlichen Text ein "unbewußter" Subtext und ein die Regeln des Schreibvorgangs reflektierender Metatext zugeordnet (Vgl. Kap. VI: "Humoristische Epiphanien").

Auch Raabes "Wunnigel" vereinigt in sich die Dialektik einer sich auflösenden Idee von Subjektivität und dem daraus resultierenden neuen Literaturverständnis (= alle Dichtung ist "epigonal"), setzt sich aus dem Trümmern der Vergangenheit zusammen. Der dem Leben entsagende Protagonist des Textes (Nihilist und Zyniker) ist daher ein "Sammler" von Gegenständen einer untergegangenen Epoche - die Allegorie des Schriftstellers. Jean Paul hat in "Dr. Katzenbergers Badereise" - worauf schon Karl Freye, ohne allerdings die Implikationen und Konsequenzen zu erkennen, hingewiesen hatte - diese Konstellation vorweggenommen. Er hat im Sammeln von "Mißgeburten" nicht allein ein auf Schönheit und Harmonie gerichtetes Kunstideal verneint, vielmehr dem Häßlichen und dem "Ekel" zu ästhetischem Rang verholfen. Jean Paul zog also aus den Erfahrungen der eigenen Produktion die Konsequenz: 'große' Romane ließen sich ihnen zufolge nicht mehr schreiben, nur im Kleinen, in "Sammlungen" von Aufsätzen und Prosatexten, ließ sich eine in ihren Grenzen nicht erfahrbare, eine sinnentleerte Welt darstellen. Zusammengehalten werden die "Vermischten Schriften" (ursprünglich anstelle der "Badereise"), trägt Zeller einleuchtend vor, durch die allegorisch verschlüsselte Spiegelung erzählerischer Maximen, mithin die Figur des Erzählers. Im Inbegriff der Montage werde das narrative Verfahren am ehesten erfaßt. Jean Pauls Witztheorie aber lege den Grundstein für eine literarische reflektierte Praxis des Zitierens (Vgl. Kap. VII: "Sammlung, Montage, Zitat").

Ein hier sinnvoll eingeschobener Exkurs zu "Gutmanns Reisen" belegt nicht allein eine Fülle an Jean-Paul-Zitaten, sondern legt noch einmal besonderes Gewicht auf den nach Zellers Meinung wichtigsten Referenztext: "Dr. Katzenbergers Badereise". Denn keinesfalls würden in "Gutmanns Reisen" eigene biographische Details verarbeitet oder das liebevolle Bild rührseliger politischer Aktivitäten gezeichnet. Eindeutig beziehe Raabe gegen nationalistische Töne und das Versagen des bürgerlichen Lagers Stellung. Ziel der Kritik sei letztlich auch hier die Vorstellung subjektiver Autonomie, der Gegensatz von "Denken" und "Handeln". Wie in "Dr. Katzenbergers Badereise" bestehe Raabes Haltung in Abscheu, Ekel und Zynismus. [Unerörtert bleibt leider die Bedeutung des im Text immer wieder genannten Wunsiedel].

In "Altershausen" konzentrieren sich schließlich alle im Werk vorbereiteten Maximen des Schreibens. Die Fahrt an den Ort der Kindheit ist schriftstellerische Erkundung der Psyche. Sie ist als Traum - assoziativ, den Prinzipien der "Verschiebung" und "Verdichtung" verpflichtet - konzipiert, als Utopie verlorenen Glücks, als Idylle. Alle im Text auftauchenden Figuren sind auf die Erzählerfigur bezogen, sind Aspekte des Ich, das am Anfang die Frage nach dem Selbstbewußtsein formuliert. Alle im Verlauf des Erzählens zitierte Literatur ist Teil der Erinnerung, des Gedächtnisses eines erzählenden Subjekts. Dessen Einheit löst sich auf, verliert sich in unterschiedliche Rollen. Ansatzpunkt ist die für ein allmächtiges Ich einstehende Genieästhetik, die vielfach gebrochen und in der Gestalt Ludchen Bocks, des "Wahnsinnigen", negiert wird. Stattdessen bietet sich eine neuartige Poetik der Montage literarischer Bruchstücke. Als Spiel (Ludchen = ludus) gewährt der Schreibvorgang die ins Unendliche fortsetzbare Kombination von Zitaten und Anspielungen. Der Text ist also offen und keineswegs ein Fragment, das aus Gründen künstlerischer Unentschlossenheit von Raabe nicht fortgesetzt werden konnte.

Noch einmal steht die Reflexion des Erählvorgangs im Mittelpunkt, sind Figuren und Bilder Allegorien des Erzählens. Raabe lehnt sich, wie schon die Magisterarbeit von 1995 darlegte, an Jean Pauls "Jubelsenior" an (aber auch an Johann Heinrich Voß' "Luise", was der Rolle Geßners in "Hastenbeck" vergleichbar wäre), worin der poetologischen Digression Vorrang vor der Darstellung eines Handlungszusammenhangs eingeräumt wird. Ein solcher Text, so Jean Paul, verdiene die eigene Gattungsbezeichnung "Appendix". Im Appendix würde zur Hauptsache, was im Roman nur nebensächlich, nur der "Auskehricht" sei - eben die Selbstbespiegelung des Geschehens. Der Text gleiche daher einem Mosaik und mehr noch, er sei ein "musivisch in den Stubenboden eingelegtes, ein poetisches Asareton" (Vgl. Kap. VIII: "Spiel").

Vielfältiger und differenzierter als in einem zusammenfassenden Referat skizzierbar, belegen Zellers Untersuchungen die Dominanz des reflektierten Erzählvorgangs vor den erzählten Gegenständen und Vorgängen im Erzählwerk Raabes und Jean Pauls. In beiden Fällen über die Ergebnisse bisheriger Forschung hinausgehend, bietet die Arbeit nicht allein für Raabes erzählerisches Verfahren, für Ursache und Funktion des Raabeschen Zitier- und Verweissystems eine grundlegende Darstellung, sondern auch neue Einsichten in einzelne Texte Jean Pauls, vor allem ihre poetologische Bedeutung für die Modernität einer recht gelesenen Raabeschen Erzählprosa.

Die umfangreiche Arbeit ist nicht immer leicht zu lesen, was einen Grund drin haben könnte, daß der Verf. dreierlei in einem zu leisten, in jedem seiner Kapitel eine philologische, eine poetologische und eine anthropologische Ebene zu einem wechselseitigen Bedingungsgefüge zu verbinden versucht. Der Verf. hat dieses Verfahren jedoch einleuchtend begründet. Er hat auch deutlich gemacht, daß er sich notwendig auf einzelne exemplarische Texte beschränken müsse und im Falle Jean Pauls auf die "Flegeljahre", den wenigstens partiell berücksichtigten "Titan" oder den selten behandelten "Komet" verwiesen. Auch im Werk Raabes sind Texte nicht berücksichtigt, deren vergleichende Analyse erhellend hätte werden können, z.B. "Deutscher Adel" (wegen seines direkten Bezugs auf die "Vorschule"), "Meister Autor" (wegen des Garten- und damit eines anverwandelten Idyllentopos, was einen Bogen zu Geßners "Lycas, oder die Erfindung der Gärten", und damit zu "Hastenbeck" aber auch zum "Wutz" hätte schlagen lassen). Gelegentlich ergeben sich Unklarkeiten, z.B. durch einen wechselweisen Gebrauch der Begriffe Montage (den Zeller zu bevorzugen scheint) und Collage oder dort, wo sich zu dem den Kontext eines Zitats bezeichnenden Subtext ein zweiter, Freuds zweitem Instanzenmodell entsprechender "unbewußter" Subtext an die Seite stellt.