Traugott Schneider [d.i. Reinhard Döhl] | Die Helden sind müde

"Überall scheinbar quollen sie hervor, ausgekrochen aus der lauen, etwas feuchten Luft, sie flossen langsam hin, als hätten die Mauern sie ausgeschwitzt, oder die umgitterten Bäume, die Bänke, die schmutzigen Trottoirs, die Parks" - beginnen die "Tropismen" Nathalie Sarrautes, und damit die Produktion einer modernen Prosa, deren literarische Bedeutung noch nicht ganz abschätzbar ist, der aber im Zusammenhang des "Neuen Romans" wesentliches Primat und in der Diskussion um "Entstehung und Krise des modernen Romans" grundlegende Aktualität zukommt.

Nathalle Sarraute wurde 1902 in Iwanowa-Woznessensk geboren und lebt heute in Paris. Ihre verhältnismäßig bescheidene Produktion datiert seit 1939: "Tropismes". Es folgten 1948 "Portrait d'un Inconnu", 1953 "Martereau" und schließlich 1959 "Le Planétarium". 1958 war ein bemerkenswerter Essayband "L'Ere du Soupcon, Essais sur le Roman" erschienen. (1)

Zu den wichtigsten Vorworten, die Jean-Paul Sartre geschrieben hat, gehört neben dem einbändigen Vorwort der "Oeuvres completes" Jean Genets das Vorwort zu "Portrait d'un Inconnu". - Nach Sartre geht es Nathalie Sarraute nicht mehr um den Menschen als Bestehendes, sondern als ständig Entstehendes, als ein zwischen "Être" und "Néant" sich hin und her Bewegendes. Sartre konstatiert ferner, daß die Erzähltechnik der Sarraute zur Konzeption des "Anti-Romans" führe (wovon die Autorin in ihren Essays ja auch selbst spricht). Und schließlich spricht Sartre davon, daß bei der Herstellung dieser Texte "Gemeinplätze" verwendet werden, daß die Welt des Heideggerschen "man", des Heideggerschen "Geschwätzes" ständig gegenwärtig sei und Stil werde.

In dem Essay "Das Zeitalter des Mißtrauens" sagt Nathalie Sarraute Aufschlußreiches zu ihrer Romankonzeption. Sie meldet dabei äußerste Bedenken gegen eine Fabel an, gegen eine "Geschichte mit lebendigen und handelnden Personen", gegen "echt romanhafte Lebensfülle" gegen den "Romanhelden", der eine "weitere unvergeßliche Gestalt" unter den vielen unvergeßlichen Gestalten der Literaturgeschichte bedeuten würde. Es gäbe keinen "Held des Romans" mehr, weil der Held des Romans bei Joyce, Proust und infolge Freuds zu einer "willkürlichen Begrenzung", zu einem "konventionellen Muster" geworden sei. "Wie beim Statuenspiel erstarren alle Gestalten, die er berührt. Sie vergrößern die in seinem Gedächtnis aufbewahrte riesige Sammlung von Wachsfiguren, die er im Verlaufe des Tages eilig ergänzt und die, seitdem er lesen kann, durch die unzähligen Romane bereichert worden ist."

Nathalle Sarraute folgert: "Deswegen befreit sich, in einer der Malerei analogen Entwicklung - obwohl unendlich viel zaghafter und langsamer und mit langen Unterbrechungen und Rückläufen - das psychologische Element ebenso wie das bildhafte Element unmerklich von dem Gegenstand, mit dem es bisher eins war."

Wie der moderne Maler das Objekt einem Universum des Zuschauers entreiße und deformiere, um das malerische Element darin sichtbar zu machen, so verfolge der Roman, den nur die Bindung an überholte Techniken als eine minderwertige Kunst erscheinen ließe, durch eine gleichartige Bewegung wie die der Malerei mit Mitteln, die nur Ihm gemäß seien, einen Weg, der nur Ihm zukomme. (2)

Das Ist nun freilich alles andere als eine Toterklärung des Romans. Vielmehr erscheint so der "Anti-Roman" als eine "Krankenreaktion" (Sarraute) auf die Krise des modernen Romans, ließe sich also als Versuch einer konstruktiven Lösung bezeichnen.

Nathalie Sarraute verzichtet auf eine Fabel soweit möglich. Was das "Geschehen" in den Büchern der Sarraute zusammenhält, sind Möbel, Wände u.ä. Und was sich dazwischen herumbewegt, sind vermutlich Menschen, meist anonym (so "er", bzw. "der Onkel" und "sie", bzw. "die Tante" in "Martereau"). Am besten kann man das alles in den "Tropismen" studieren, die - wenn sie auch das älteste Buch der Sarraute sind - doch das konsequenteste scheinen. Die Literaturkritlk (G. Zeltner-Neukomm: Das Wagnis des französischen Gegenwartromans, Hamburg 1980) hat davon gesprochen, daß "alle Gestalten Nathalle Sarrautes etwas formlos
Qualliges" hätten. Nathalle Sarraute spricht von "modèles informes où s'entrechoquent mille possibilités". Diese Figuren begegnen einander und sagen etwas. Der Ort Ihrer Begegnung ist die kleinbürgerliche Wohnung, ist der Gemeinplatz. Was sie von sich geben, sind sprachliche Versatzstücke, Automatismen, an sich sinnentleert, aber in der Handhabung durch die Autorin just den Gemeinplatz demaskierend:

"Sie waren jetzt alt, sie waren ganz verbraucht, wie alte Möbel, die viel benützt wurden, die ausgedient und ihren Zweck erfüllt hatten, und manchmal stießen sie (das war Ihre Koketterie) eine Art trockenen Seufzer aus, voll Verzicht und Erleichterung, und er hörte sich wie ein Knarren an.

An den milden Frühlingsabenden gingen sie zusammen aus, sie gingen still spazieren, setzten sich in ein Café, wollten einige Augenblicke schwatzen.

Mit viel Vorsicht wählten sie einen gut geschützten Winkel ('hier nicht, das ist im Luftzug, dort nicht, gerade neben den Waschräumen'), sie setzten sich - 'Ach! diese alten Knochen, man wird alt Ach! Ah!' - und sie ließen ihr Knarren hören."

So spult sich das ab, was "man" so denkt, was "man" so sagt, in sprachlichen Versatzstücken, gespenstisch im automatischen Ablauf des "Geschwätzes" vegetiert es dahin im Marionettentheater einer Nathalie Sarraute: die "Helden" sind müde.

Natürlich sind solche Bücher das genaue Gegenteil zu den Romanen eines Hemingway z.B., wo der Versuch, die "Psychologie" auszuklammern, eben zu jener Ausbildung der "story" führte, wie sie noch immer die Feuilletons nicht nur der Tageszeitungen überschwemmt. Sie sind aber auch eine Absage an den Erzähler alter Schule, wie ihn Thomas Mann einleitend zum "Zauberberg" einführte: "Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts".

Nathalie Sarraute verzichtet nach den "Tropismen" auf das Imperfekt und wählt das Präsens. Und die vieldiskutierte Frage "wer erzählt den Roman" beantwortet sich spätestens anhand des "Planetariums" mit: Der Autor erzählt den Roman. Und vielleicht sollte man sogar besser sagen: Der Autor setzt etwas in Gang: die Sprache, läßt etwas sprechen usw.

Wie schon Gertrude Stein, wie Beckett und all die Autoren, bei denen sich - im Gegensatz zu den Bergengrün-Gaisers - wirklich von einer modernen Prosa sprechen läßt, schreibt auch Nathaha Sarraute eine Prosa, wo etwas "mit der Sprache" und nicht mehr nur "in der Sprache" gemacht wird. Gerade dadurch, daß sie die Automatismen kleinbürgerlicher Konversation, die Sprache der Banalität gebraucht und sie handhabt, ist das an Ihrer Prosa deutlich ablesbar. Und diese Handhabung gewohnter Redefiguren, das 0815-Schema einer Kommunikation, (eben just die Sprache aber auch von "bild" und weiteren Erzeugnissen dieser Art), die Sprache im Zustand der Konversation und die Entwicklung einer Prosa, die bei ihrer Herstellung das Krankenbild unserer saturierten Gesellschaft konstatiert und zugleich auf ihre Entlarvung, vielleicht sogar auf Therapie aus ist, - das alles scheint uns das Bemerkenswerte an den Büchern der Nathalle Sarraute, an einer fraglos modernen Prosa, deren Reiz selbst die Übersetzungen wenig zu mindern vermögen.

[forum academicum, Jg 12, Nr 7, Dezember 1961, S. 17]

Anmerkungen
1) Bisher erschienen in Deutschland: "Tropismen", Verlag Günther Neske, Pfullingen, 1959; "Martereau", Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1959; "Das Planetarlum", Kiepenheuer & Witsch, o.J.
2) Der Essay "Das Zeitalter des Mißtrauens" erschien separat In: Akzente 1958. H. 1.