Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet | Wolfgang Schmidt
Reinhard Döhl | Zu den Serien 11, 12 von Wolfgang Schmidt

meine damen und herren,
was sie heute abend hier an den wänden sehen, ist auch die methodische illustration eines der pataphysischen sätze shattuks sozusagen eine übersetzung des was-ist-das in den zirkelschluß. und die tatsache, daß wolfgang schmidt das nicht weiß und wendelin niedlich es nicht wahr haben will, wäre dann die demonstration eines zweiten pataphysischen satzes. aber wir sollen ihnen hier nicht pataphysisch kommen, sondern diszipliniert - obwohl das eigentlich keinen gegensatz bedeutet - und beginnen jetzt ernsthaft:

meine damen und herren,
was sie heute abend hier sehen und was niedlichs bücherdienst eggert für die nächste zeit zur asketischen zierde gereichen wird, sind die Serien 11 und 12 des frankfurters wolfgang schmidt, genauer gesagt: 2 folgen von fotoblättern. diese fotoblätter bilden insofern serien, als sie 2 reihen, 2 folgen, 2 gruppen oder gruppierungen von jeweils zusammenhängenden, gleichwertigen etwasen vorstellen. und sie sind seriell, insofern sie reihentechniken verwenden, die jeweils eine vorgegebene konstruktion zugrunde legen und die komposition übersichtlich darauf aufbauen.

was hier zu sehen ist, sind also wolfgang schmidtsche fotoserien, auf denen seriell etwas gezeigt wird. dieses etwas, das auf diesen totoserien, in diesen fotoserien gezeigt wird, sind in einer ersten annäherung etwase, die einem konstruktionsprinzip unterworfen sind, das jedes etwas einzeln und die etwase im Zusammenhang betrifft. das heißt: man kann zwar jedes gezeigte etwas für sich nehmen; aber erst im zusammen der reihenfolge dieser etwase, im zusammen der serie ergibt sich schließlich das, was gezeigt werden soll.

was hier zu sehen ist. sind also sozusagen 2 serielle kompositionen. der vorteil solch einer seriellen komposition ist, daß sich nicht mehr die frage stellen läßt, was sie außerhalb ihrer selbst bedeuten soll. es ist der vorteil einer im wörtlichen Sinne konkreten kunst; der vorteil der konkretation. Eine serie von kohlköpfen etwa könnte umgangssprachlich ja immerhin noch eine reihenfolge bedeuten von - sagen wir - konzert- oder theaterbesuchern. eine reihenfolge von kreisen aber ist und bedeutet eine reihenfolge von kreisen. und eine reihenfolge von gestörten kreisen ist und bedeutet eine reihenfolge von gestörten kreisen. das ist - um aus der reihe zu tanzen - gewissermaßen das noli turbare circulos meos des wolfgang schmidt. Und so wäre die serie 11 als beispiel zunächst nichts weiter als eine reihenfolge von kreis, gestörten kreisen zur spirale, die nichts bedeutet, außer sich selbst im zusammenhang.

ein zweiter vorteil solch einer seriellen komposition ist, daß man genau angeben kann, um was es bei ihr geht. so zeigt die serie 12, um mit ihr anzufangen -

ein zentraler schwarzer kreis wird überlagert von einem gleichgroßen, gleichschwarzen.
der überlagernde kreis rückt stufenweise nach rechts aus dem zentrum.
der überlagerte kreis springt nach links aus dem zentrum.
der linke kreis ist schwarz.
der rechte kreis wird heller.
beide verändern ihre gestalt.
ein kreis verschwindet.
der andere wird unschärfer, größer, bewegt sich auf der bildrand zu aus dem bild.
oder im falle der serie 11 geht es um den prozeß zwischen zwei etwasen - einer scharfen und einer unscharfen linie - dessen verlauf mit folgenden angaben zu skizzieren wäre:
scharfe linie läßt öffnung für unscharfe.
scharfe linie wird kürzer.
unscharfe linie wird länger.
unscharfe linie nimmt platz der scharfen ein.
unscharfe linie läßt öffnung für scharfe linie.
undsoweiter.
scharfe und unscharfe linie geraten in spiralbewegung.
fraglos könnte man den vorgang beider serien auch mit je einer zahlenfolge angeben; wie wir der vollständigkeit halber auch hinzufügen wollen, daß selbstverständlich willkürliche eingriffe des künstlers zur erreichung schöneren aussehens einer solchen serie grundsätzlich verboten waren.

allgemein: was in wolfgang schmidts serie 11 als serielle komposition gezeigt wird, ist ein gegeneinander von scharfer und unscharfer linie sozusagen auf kreisebene; ein vor- und rücklaufender dialektischer prozeß bis zur auflösung in die spiralbewegung; mit der einschränkung, daß diese bewegung nicht als bewegung, sondern in einem fixierten zustand / in fixierten zuständen gezeigt wird.

bliebe die berüchtigte frage, was das mit kunst zu tun hat bzw. die frage nach dem ästhetischen sinn solcher serien. und als antwort - wobei wir uns aus gründen der übersichtlichkeit zunächst wiederum auf die serie 11 beschränken wollen:

wolfgang schmidt zeigt in der serie 11 das gegeneinander von scharfer und unscharfer linie, die durch störung mögliche deformation des kreises in die spirale, nicht als kontinuierlich fortlaufenden prozeß, als kontinuierliche bilderfolge etwa eines films; sondern in einzelnen, genau fixierten, gleichsam erstarrten zuständen. damit grenzt er seine konkrete serie - durch die abschließende spirale in der denkbaren nähe einer sogenannten kinetischen kunst - gleichsam gegen diese kinetische kunst ab, und damit gegen ine heute weitverbreitete gefahr einer mystifizierung bzw. mystifikation.

ferner: man muß wolfgang schmidts serien verstehen als serielle kompositionen unter dem gesichtspunkt des prinzips der reinheit und simplizität. wobei eine solche serielle komposition um ihrer ästhetischen botschaft willen die vorstellbare grenze der reinheit nicht erreichen, nicht zu einfach werden darf, aber immer auf dem wege ist dahin. daß - zum beispiel - die serie 11 diese grenze nicht überschreitet, der puren simplizität nicht verfällt, liegt an ihrer methodischen komposition aus der spannung zwischen kreis und spirale und dem dialektischen gegensatz von schärfe und unschärfe. ja: sie stellt gewissermaßen den modellfall dieses problems dar.

schließlich: die serien wolfgang schmidts zeigen je ein konsequentes programm der konstruktion unter dem gesIchtspunkt des prinzips der reinheit der simplizität. das macht seine serien als muster, als modellfälle reproduzierbar, weist auch auf ihre nähe zum sogenannten designobjekt. damit gilt für die serien wolfgang schmidts, was wir hier vor einem jahr anhand der serigrafien vasarelys bereits konstatierten: anstelle des traditionellerweise an der wand erwarteten originals ist innerhalb eines bereiches gegenwärtiger kunstlenscher betätigung die originäre erfindung von mustern bzw. modellen getreten die unter dem gesichtspunkt des prinzips der reinheit und simplizität programmiert und konstruiert, nach ihrer realisation beliebig reproduzierbar scheinen. Aber während die ausstellung der serigrafien vasarelys noch eine mehrzahl von solchen mustern bzw. modellen zeigte, zeigen die beiden fotoserien wolfgang schmidts als serielle komposition jeweils nur ein einziges modell; zeigt - um es noch einmal an ihr beispielhaft zu sagen - zeigt die serIe 11 eine modellkonstruktion aus der spannung zwischen kreis und spirale, dem dialektischen gegensatz von scharfer und unscharfer linie. die wechselseitige bedingtheit aber, die wechselnde spannung zwischen geschlossen und offen, zwischen schärfe und unschärfe ist gleichzeitig aber auch das, was diese serie dem betrachter mitteilen soll; macht den inhalt, den ästhetischen betrag, die - wenn sie so wollen - ästhetische botschaft der serie 11 aus; ist gewissermaßen die leerstelle, die der künstler hinterläßt und in die der betrachter einsteigen sollte -

quod erat demonstrandum.

[Buchhandlung Niedlich Stuttgart, 7.1.1965. Druck in: Kritisches Jahrbuch 2. Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich 1972]