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Reinhard Döhl | Werner Schreib und Stuttgart - Eine Spurensicherung (1)

Auf der Durchreise

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"auf der durchreise / werner schreib / reinhold koehler", hält eine Notiz für die "botnanger sudelhefte" (1) fest, was mir 1970 wie ein Schlußpunkt der kulturell turbulenten 60er Jahre erschien. Zwischen den beiden genannten Künstlern gab es "natürliche Parallelen" (2), beide waren häufiger in Stuttgart zu Gast, mit beiden hatte ich mich immer wieder einmal in Siegen, Wuppertal (Koehler), in Frankfurt, Wiesbaden, Göttingen, Kassel (Schreib) und anderen Orts getroffen, vor allem mit Werner Schreib verbanden mich zentrale Interessen zu einem Dialog in den verschiedensten Medien.

Die kulturgeschichtliche Bedeutung der 60er Jahre, mit Einsatz Ende der 50er Jahre, ist, worauf ich mehrfach hinwies (3), von einem zunehmend kommerziell und offiziell dirigierten Kunstrummel eher zugedeckt, bis heute kaum erkannt. Über Reinhold Koehler oder Werner Schreib zu schreiben, bedeutet also zunächst Spurensicherung, das kapitelweise Zusammentragen dessen, was die Kunstszene der 60er Jahre mit konturierte. So versteht sich auch der folgende Versuch über "Werner Schreib und Stuttgart" als ein nicht unbedeutendes Unterkapitel des für die 60er Jahre bedeutenderen Kapitels Werner Schreib.

2
Ins Auge gefallen war mir Werner Schreib im November 1958 in Horst Bingels "Streit-Zeit-Schrift", die "Vier Nadelzeichnungen zur Stundensäule" (Morgen/ Vormittag / Nachmittag / Abend) in direkter Nachbarschaft zu "Sprechgedichten" Ernst Jandls plazierte (S. 400 ff.), einer Nachbarschaft, die Werner Schreib so sympathisch war, daß er noch im gleichen Jahr eines dieser "Sprechgedichte" ("wo bleibb da / hummoooa") als "Zitat" in "Die makabren Zeichnungen des merkwürdigen Herrn Schreib" (4) einfügte, während er die "Nadelzeichnungen zur Stundensäule", in überarbeiteter Form, später für einen anderen Kontext vorsah.

Persönlich kreuzten sich unsere Wege, nachdem ich 1959 auf der II. documenta in Kassel und der Ausstellung "Neue Kunst" 1960 in Schleswig weitere Arbeiten von ihm kennengelernt hatte, Ende 1960 in Stuttgart, und zwar anläßlich des im Oktober 1960 von Klaus Burkhardt gedruckten "affiche 7", daß, unter Zugabe von drei Gedichten Dieter Hoffmanns, neben einer Nadelätzung drei Punzen wiedergab (davon eine aus "Punzen mit Schnatterings" (5)). Seit dieser Zeit datiert ein unterschiedlich intensiver Gedankenaustausch, sei es in (Streit)Gesprächen und - soweit sie in Stuttgart stattfanden - ihrem gelegentlichen Niederschlag im Gästebuch, sei es in Korrespondenzen, wobei die Postkarten oft teilcollagierte kleine Kunstwerke waren. Meist ging es um Fragen der Kunst, auch ausstellungs- und publikationstechnisch, um einzelne Autoren und Künstler, immer wieder um die Bedeutung der Kunstrevolution, speziell des Dadaismus und Surrealismus, für die wir uns aus zwar unterschielichen Blickwinkeln interessierten, über deren Bedeutung für eine gegenwärtige Kunst wir uns jedoch völlig einig waren, wenn wir sie jenen künstlerischen Bewegungen zurechneten, die 50 Jahre brauchen, um sich durchzusetzen.

"Nach dieser Zeit", war Werner Schreib 1967 überzeugt, "stellt sich ihr Problem aufs Neue, nur einer anderen Generation und um einige Phasen der Erfahrung bereichert" (6). Wie ich, glaubte auch Werner Schreib an eine Kontinuität künstlerischer Entwicklung seit der Kunstrevolution, von der allerdings zeitweilig, durch die Zäsur des Nationalsozialismus bedingt, die deutsche Kunst ausgeschlossen blieb. "Man kann sich leicht darauf einigen die englische POP-Art, wie sie von R. Hamilton oder P. Blake bekannt ist, zum NEO-DADAismus zu zählen. Ebenso die Bilder und Objekte von Rauschenberg. Das gilt mit Einschränkungen auch für viele andere Künstler dieser Richtung. Hier haben wir es mit einer kontinuierlich tradierten europäischen Kunst zu tun" (6a).

Als ich 1962, ausgehend von und in Fortsetzung zu "Albrechts Privatgalerie" (7), das Konzept einer mobilen Ausstellung entwarf, war Werner Schreib sofort mit von der Partie. Gedacht war dabei an Ausstellungen ohne festen Ort oder Raum, an eine mobile Galerie, deren Vorteil es sein sollte, "daß sie nur existiert, wenn sie eine ausstellung macht, und nur dort, wo die ausstellung gemacht wird. ausgestellt werden nur maler, grafiker, bildhauer etc., die aus einem bestimmten grunde interessant sind, oder im allgemeinen galeriegeschäft übersehen werden. oder wegen des allgemeinen galeriegeschäftes nicht zum zuge kommen usw. und da gibt es noch eine ganz anzahl gründe, warum man diese neue idee einer galerie, die eigentlich keine ist, weil sie nur ist, wenn sie ist, und nur dort, wo sie gerade zufällig eröffnet wird, warum man diese idee hatte und nun in die tat umsetzen will. interessiert sind daran sowohl die presse als auch sammler und einige andere leute".

3
Dieses Ausstellungskonzept realisierte sich nicht, ja nicht einmal die erste Ausstellung mit Arbeiten von Klaus Burkhardt, Günther C. Kirchberger, Paul Reich, Werner Schreib und Friedrich Sieber im Hause Buhl in Heidelberg kam zustande. Aber das geplante Unternehmen sorgte für weiteren Gesprächsstoff, brachte eine Diskussion über sinnvolle Ausstellungsformen in Gang, in der zunehmend auch Fragen gattungsüberschreitender und vermischender Präsentation interessant und speziell von Werner Schreib Vorstellungen entwickelt wurden, die er - an frühere Versuche anknüpfend - in seinen Happenings in Mannheim, Büdingen, London, Wolfsburg, Hannover, Kassel u.a. modifiziert in die Tat umsetzte.

Ein konkretes Ergebnis hatte diese nicht zustande gekommene Ausstellung dennoch: das auf 7 Texte angelegte "Portrait Werner Schreib", dessen erster Text, ein "märchen für schreib", für den (als Typoskript erhaltenen) Katalog vorgesehen war:

"er baute auf sand. er schlug den vögeln die abfahrtszeiten vor ließ ratten nach seiner mütze tanzen und warf die welt zum fenster raus mit vollen händen. er verschenkte mir nichts dir nichts hinterlassend sanduhren kursbücher und zeitzeichen. über alle sender koppheisterten karfreitage schwule diebe faule sachen unsoweiter. der schwarze tag kam und ging mit der zeit um die wette."

Da der Katalog ungedruckt blieb, habe ich diesen Text (zusammen mit einem zweiten: "von einem der auszog das fürchten zu lernen") in die "märchen" der "fingerübungen" (8) eingerückt und 1963, in Folge unserer Diskussionen über die Grenzverwischungen der Kunstarten, zusammen mit Klaus Burikhardt auf Seiten der "ZEIT" und der "Frankfurter Nachtausgabe" grafisch zu lösen versucht (9), was zugleich Ausgangspunkt der bis heute nicht abgeschlossenen "Use papers" (10) wurde. Den letzten Text des "Portreits Werner Schreib", das eigentliche Portrait, publizierte 1964 die Zeitschrift "pe" in der Werner Schreib/Luciano Lattanzi gewidmeten Nr. 16 als "fußnoten werner schreib"; 1965 nahm ich Sie in "Prosa zum Beispiel" auf, für deren Umschlag ein Bild Werner Schreibs Verwendung fand (11):

"etwa ein altes haus bis vorwiegend heiter. macht sich zu schaffen macht sich mit zu schaffen schafft dran rum. trägt dick auf macht sich dünne breitet sich aus. breitet sich aus nach allen seiten peu a peu. hat etwas in auge hat etwas vor verfolgt einen vorgang genau kommt nicht drum rum. setzt neu an läßt angehn geht drüber hinweg. geht weit darüber hinaus gibt klein bei. richtet sich ein und nach richtet an. richtet aus ein an auf für da nach vor bei. würde keineswegs und überhaupt darüber schon gar nicht so doch gewiß da nun einmal davon ganz sicher falls gelegentlich sollte man ja das bloß nicht nur so strikt dafür schon weil statt dessen könnte anstatt gut und gerne darum denn auch höchstens hätte dagegen. Geht noch weiter, ist zum beispiel drauf aus. kommt drauf an. wendet an und für sich und sich nach. setzt sich etwas in den kopf bricht ab. setzt an bricht ab setzt fort läßt nach und nach. macht alle mögliche. wieder und wieder, kommt immer wieder darauf zurück wies kommt und kommt an bei. kommt drauf an und dran ist zusätzlich dran im gange. ist in vollem gange. steckt seine hände nach aus kanns nicht fassen. kanns immer noch nicht fassen kann nichts für tut nichts zur sache macht so als ob. nur so als ob und wie wenn schon. keineswegs und überhaupt darüber gar nicht so doch gewiß da nun einmal davon aber ganz sicher falls man ja gelegentlich daß bloß nicht nur so strikt dagegen weil stattdessen anstatt gut und gerne darum denn auch höchstens hatte dafür. hält jedenfalls dafür macht nur so weiter im großen und ganzen fährt hin und wieder gelegentlich fort läßt sich sehn. taucht plötzlich auf und davon und unter verschwindet. wirft seinen schatten voraus fällt auf und sich ein mit licht von der seite. alle nase lang. etwa ein altes haus. heiter bis wolkig. / unter diesen umständen merkten die umstehenden erst jetzt daß die umstandskleider umstandshalber in andere umstände gekommen waren."

Ohne die "fußnoten" interpretieren zu wollen, ist dreierlei zu ihnen anzumerken. Zunächst versuchen sie in einer Leseschicht ein sprachliches Portrait des stets ungeduldigen, auf dem Sprung befindlichen Künstlers: "fährt hin und wieder gelegentlich fort läßt sich sehn. taucht plötzlich auf und davon und unter verschwindet" u.a. So jedenfalls erlebten ihn in den 60er Jahren nicht nur seine Stuttgarter Freunde, zu denen außer Klaus Burkhardt und mir vor allem der Kameramann Willi Justus Pankau zu zählen ist, der 1956 bereits einen Film über Werner Schreib und Gustl Stark ["Zeichen an der Autobahn"], 1966 anläßlich eines Schreibschen Wandbildes in Mannheim eine kleine personality gedreht hat und 1962, selber verhindert, einen dritten Film des Süddeutschen Rundfunks über die "Semantische Malerei" Werner Schreibs und Luciano Lattanzis anregte (den Dr. Conzelmann dann gedreht hat).

Die zweite und dritte Anmerkung zu den "fußnoten" betrifft ihren Kontextcharakter. Kontexte entstanden für uns einmal durch Zitieren. "Es war nicht schwer, die Blätter anzuordnen, bei den Zeichnungen ging er chronologisch vor; fügte zu jeder ein paar fremde Zeilen, vermerkte den Autor und vergaß nicht zu erwähnen, daß er selbst Erfinder und Verfasser dieser Nadelzeichnungen sei", umschreibt die Einleitung zu den "Makabren Zeichnungen [...]" das Herstellen solcher Kontexte, die auch gegeben waren in einem "Selbstportrait (Collage)" aus dem Jahre 1962 im deutlichen Verweis auf Max Ernst (12) oder in der Stilisierung, Werner Schreibs "merkwürdige Geburt" 1925 sei "just auf den Tag" gefallen, "an welchem Paul Klee die Zeichnung mit dem Titel 'Die drei sanften Narrenworte' anfertigte" (13), oder in einem "Semantischen Bild" von 1961, das K. R. O. Sonderborg und Luciano Lattanzi herbeizitierte (14). Unter Kontext im strengen Sinne subsumierten wir zum anderen unsere Versuche, einer Kunstart Adäquates mit den Mitteln einer anderen Kunstart herzustellen, im Fall der "fußnoten" z.B. das Procedere semantischer Malerei als Text zu wiederholen: "trägt dick auf macht sich dünne breitet sich aus [...] bricht ab. setzt an bricht ab setzt fort läßt nach und nach" undsoweiter. [Zur damaligen Rolle solcher Kontexte und Portraits vgl. ausführlicher Döhl: Die 60er Jahre in Stuttgart; derselbe: Gertrude Stein und Stuttgart bzw. Das Buch Gertrud.]

4
Uber diese "Semantische Malerei" wurde damals energisch gestritten. Die Bezeichnung stammte von Luciano Lattanzi, der 1957 (dem Jahr, in dem die Stuttgarter "Gruppe 11" mit Atila Biro, Günther C. Kirchberger, Karl-Georg Pfahler und Friedrich Sieber erstmalig ebenfalls in der New Vision Centre Gallery ausstellte) in London sein "Manifest of Semantic Painting" publizierte (15). 1959 bestritt, diesmal in der Drian Gallery, die nun schon ehemalige Gruppe 11 ihre, 1960 Luciano Lattanzi ebendort seine zweite Londoner Ausstellung, während Werner Schreib gleichzeitig in der Woodstock Gallery Arbeiten zeigte. Aus dieser zufõlligen Konstellation entwickelte sich jedoch nicht der unter Künstlern sonst übliche furchtlose Streit um Prioritäten, sondern, bei gleichen Intentionen, auf der Basis der Vorüberlegungen Lattanzis, eine langjährige Zusammenarbeit, in der wie Schreib Lattanzi 1961, 1964 Lattanzi seinen Freund in einer "Hommage à Schreib" (16) zitieren wird. Zahlreiche gemeinsame Ausstellungen markieren die äußeren Daten dieser Künstlerfreundschaft, an deren Anfang 1961 eine dreisprachige Publikation "Uber das semantische Bild" steht (17).

Anläßlich einer ihrer Gemeinschaftsausstellungen, im September/Oktober 1962 in der Stuttgarter Galerie Lutz & Meyer (17a), kam es zu einem theoretischen Zusammenstoß mit der Bense-Schule, die den Begriff des Semantischen (an Frege, Morris und Peirce orientiert) anders faßte und den um Einverständnis bemühten Künstlern die Berechtigung ihrer Begrifflichkeit überhaupt bestritt. Diese Diskussion schlug Wellen bis ins Gästebuch, wo Schreib eine semantische Kugelschreiberzeichnung mit der Bemerkung "Ich könnte mir selber 'Adam' auf den Bauchnabel tätowieren" (18) subskribierte, während Lattanzi die Frage "Was ist semantische Malerei" nurmehr mit einer Zeichnung beantworten mochte. Ein Buch, das wir damals als Antwort auf die Angriffe aus der Bense-Schule planten, kam über sein Vorwort nicht hinaus, das ich im März 1964 anläßlich einer Ausstellung Luciano Lattanzis in der Galerie Elitzer in Saarbrücken als "Prolegomena zu einem Stil. Zur semiotischen Malerei Luciano Lattanzis & Werner Schreibs" vortrug. Ins Englische und Französische übersetzt, sollte es die fast vergriffene Programmschrift der beiden Künstler aus dem Jahre1961 ergänzen, wurde aber - einen kurzen Auszug in einem Mailänder Katalog ausgenommen (19) - nie gedruckt. Auch konnte ich, wegen des laufenden Semesters und Fertigstellung eines Manuskripts über "Das literarische Werk Hans Arps", im Januar 1965 an einer "Serenata Semantica" (u.a. mit Umbro Apollonio, Gillo Dorfles, Umberto Ecco und Lattanzi) in der Galleria Cadario nicht teilnehmen.

"Prolegomena zu einem Stil. Zur semiotischen Malerei Luciano Lattanzis & Werner Schreibs.

1. Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein. Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori. (Ludwig Wittgenstein)

2. In einer ersten Annäherung würde ich Luciano Lattanzi und Werner Schreib als methodisch arbeitende Künstler bezeichnen und als ihr Programm das automatisch aus sich selbst entstehende Bild. Das bedeutet, daß der Künstler während des Arbeitsvorgangs kein vorgeplantes Ergebnis vor Augen hat, auf das hin er arbeitet, daß seine Bilder also keinen vorkonzipierten oder vorkonzipierbaren Inhalt haben, daß sie nicht analytisch, also keine Interpretation von Welt sind. Vielmehr entstehen sie schrittweise, von Entscheidung zu Entscheidung, kontrollierbar jeweils nur in jenem Bildabschnitt, der sich gerade im Arbeitsprozeß befindet. Und das besagt zugleich, daß das Ergebnis nicht nur für den Betrachter, sondern ebenso für den Künstler überrraschend sein kann.

3. In ihrer methodischen Arbeit handhaben Luciano Lattanzi und Werner Schreib einen Stil, den ich digitalen Stil nennen möchte, weil er eine ästhetische Welt in endlich vielen kleinen Schritten (= Alternativen) aus einem genau kalkulierten und kalkulierbaren Repertoire aufbaut. Dieses Repertoire lautet: vertikal, horizontal, kreisrund, zickzack, wellenförmig, gekreuzt, spiralförmig. Und es ließe sich sogar noch einfacher darstellen, wenn man es als Manipulationen von geraden und gekrümmten Linien auffaßt. Ein solches Repertoire enthält die Elemente möglicher ästhetischer Welten in einem ungeordneten Zustand. Jeder Ordnungsprozeß als eine durch die Phantasie, das Auge, die Hand des Künstlers gesteuerte Kombination einfacher Elemente mit begrenzter Verschiedenheit intendiert dabei eine neue ästhetische Welt, enthält eine neue ästhetische Botschaft. Luciano Lattanzis und Werner Schreibs Bilder zeigen dies im Nebeneinander ihrer Produktion mit verschiedenartigen Ergebnissen ebenso wie die Unermeßlichkeit der Möglichkeiten auf dem Weg vom singulären Zeichen zur Zeichenstruktur zum Superzeichen.

4. Aus diesem Grunde möchte ich von den Arbeiten Luciano Lattanzis und Werner Schreibs auch als von möglichen Mustern oder Modellen sprechen, wobei diese Muster oder Modelle zu kennzeichnen wären als Variation, Addition, Multiplikation, Adjunktion und Integration eines vorgegebenen Repertoires. Historisch kann man eine solche Malerei, ein solches Kunstverständnis innerhalb eines Entwicklungsprozesses sehen, der seine Wurzeln wohl in der Romantik hat (theoretisch z.B. in den Fragmenten der Schlegel/Novalis), seine Väter aber in der Kunstrevolution um die Jahrhundertwende (im Futurismus/Dadaismus zum Beispiel; bei Klee, Kandinsky, Hölzel; und dann bei Wols, Pollock u.a.). Und ich sehe dies als eine Entwicklungslinie, die zum Primat der Mittel, zur Malerei als bewußt handwerklichem Prozeß, zur Reduktion auf die Variation eines Mo- dells führte. Innerhalb dieser Entwicklung haben Luciano Lattanzi und Werner Schreib ihren genau bestimmbaren Platz, indem sie die Tendenz der Reduktion auf die Variation eines Modells noch einmal verschärfen, indem sie noch das Repertoire des Modells auf die einfachsten Zeichen und ihre Manipulation reduzieren.

5. Unter diesem Aspekt würde ich Luciano Lattanzi und Werner Schreib auch als progressive Künstler sehen und ihre Arbeiten als Stationen auf dem Wege von einer analytischen zu einer synthetischen Kunst, als ästhetische Demonstrationen bzw. Demonstrationsobjekte eines Übergangs von einer analytischen zu einer synthetischen Welt (A.A. Moles).

6. Schließlich würde ich Luciano Lattanzi und Werner Schreib noch als intellektuelle Künstler bezeichnen, mit dem präzisierenden Zusatz, daß ihre Kunst, weit entfernt vom tierischen Ernst vieler ihrer Kollegen wesentlich ästhetisches Spiel ist, in Gang gesetzt und unter ständiger Kontrolle von Phantasie und Intellekt, die die Spiele der Zeichenfeder oder des Malpinsels, des Handwerkzeugs und dessen Spielregeln jeweils neu erfinden.

7. Was die Arbeiten der beiden Künstler zeigen, sind die methodisch erzielten Ergebnisses eines intellektuellen Spiels, sind Ergebnisse, die ihre Existenz weniger den Impuleen einer Außenwelt, vielmehr den ästhetischen Regeln des Spiels verdanken. Da diese Regeln erkennbar bleiben, sind Herstellung wie Betrachten der Arbeiten urteilende Vorgänge. Kunst erzeugt, einem inzwischen geflügelten Wort zufolge, Gegenstände zum geistigen Gebrauch (Max Bill) und Spiel, wie ich hinzufüge. Die Arbeiten Luciano Lattanzis und Werner Schreibs sind solche Gegenstände."

Das Produzieren von Ideen, das Entwerfen von Plänen, die entweder nicht realisierbar waren oder nicht durchgeführt wurden, ist ein (dem Fragment der Romantik vergleichbares) Charakteristikum der 60er Jahre. Das gilt auch im Falle Werner Schreibs. Wer einmal Einsicht in seine Briefe genommen hat, bringt leicht eine umfänglichere Liste geplanter, nie realisierter Aktivitäten und Publikationen zusammen. Ich beschränke mich auf Beispiele.

In einem Brief aus dem Jahre 1961 an Klaus Burkhardt ist von einem Handpressendruck die Rede, der Horst Bingels Prosa "Der fliegende Küchenherd" und Werner Schreibs "Nadelätzungen zur Stundensäule" verbinden sollte. Dem Brief lagen farbige Andrucke und bereits die getippten Viten bei. Ein Druck kam nicht zustande.

Im gleichen Brief teilt Werner Schreib mit, daß er alle Platten für ein Buch mit Paul Vogel fertig hab das unter dem Titel "steine / süden / schienen / schlafen / süden / schienen / schlafen" erscheinen sollte. "aus diesen worten müßtest du versuchen, einen titel zu drucken, der ganz und gar deinen arbeiten entspricht: das ineinander verzahnte und verwachsene gewebe von elementen, die sich letztlich als zeilen erweisen : als die zeilen des titels". Dieses als Handpressendruck Klaus Burkhardts in Zusammenarbeit mit der Galerie Müller gedachte Buch ist nie erschienen, obwohl es seinen Platz in der avisierten Buchreihe mit Titeln von Max Bense/Karl-Georg Pfahler ("Reste eines Gesichtes"), Karl Fred Dahmen und mir ("so etwas wie eine geschichte von etwas"), Franz Mon/ K.O.Götz ("verläufe"), Theodor W. Adorno/Kaspar-Thomas Lenk ("Nachbilder zu Mahler") und Anneliese Hager/K.O.Götz ("Die rote Uhr") sehr wohl behauptet hätte. Eine Bild/Text-Seite in der von Paul Ignaz Vogel edierten Zeitschrift "neutralität" (Jg. 1, H. 1, o.J., S. 14) bestätigt dies nicht nur, sondern läßt auch Schlüsse auf das bildnerisch-typografische Konzept zu.

Unerfüllt blieben ferner Pläne, von denen ein Brief aus dem Jahre 1963 spricht: "ich bin dabei, mehrere publikationen vorzubereiten, mit originalradierungen und text. den text zu setzen und zu drucken, überlasse ich dir, für die radierungen werde ich sorgen. eine anzahl mitarbeiter habe ich bereits fest. andere werden folgen. / wenn ich dich bisher recht verstanden habe, bis du damit einverstanden, wenn ich die sache organisiere und dir das gesamte manuskript material zusende, wenn die vorbereitungen abgeschlossen sind. / es handelt sich vorläufig um drei verschiedene projekte. eine papierprobe und das format lege ich dir bei. es gehört zu den drei projekten. auflage etwa 50 stück."

Wenn es vorerst auch unmöglich scheint, in jedem Fall anzugeben, um was für ein Buchprojekt es sich gehandelt hat, ist es nützlich, sich angesichts der wenigen Buchveröffentlichungen Werner Schreibs zu Lebzeiten (20) die Fülle seiner Buchpläne einmal gegenwärtig zu machen, nicht zuletzt in der Hofinung, bei erhaltenen Plattensätzen das eine oder andere Projekt posthum dennoch publizieren zu können.

Aber nicht nur das druckgrafische, auch ein seit Ende der 50er Jahre zunehmendes literarisches Oeuvre erfuhr nie eine umfassendere Publikation, von einzelnen Texten einmal abgesehen, die zumeist Schreibs Lust am Unsinn erkennen lassen: "Nonnenförsters / Nockenblume / mundet / wie Benin. / Am naphtagelben Borkenbaum / bummert / Gottfried Benn; / Bomm bom basa / bomm bom biii / bomm bom busss. - / Gaudium / cum Priapus" (21).

Ein 1970 in "Egoist" abgedrucktes ("wenn in der mitte des jahres") und ein faksimiliertes Gedicht ("Notzucht in Paris"; exemplarischer Fall eines postdadaistischen Ikonoklasmus), zwei Zählgedichte, eine fingierte "vita" und die Kritikerschelte "Guten Morgen, Tante Lucy" (21a), vor allem aber die 1985 von Karl Riha und Franz-Josef Werner herausgegebenen "Gedichte und andere Texte" (22), sowie der von Karl Riha und S. J. Schmidt edierte "Ideographische Bericht 1967", "Gott raucht nicht / Er braucht Pudding" (23), lassen ablesen, daß hier noch mit einigen Uberraschungen zu rechnen ist.

So recht Jürgen Claus mit der Feststellung hat, "der Künstler" sei für Werner Schreib "der poetische Mensch schlechthin" gewesen, so sehr das wenige Veröffentlichte und der literarische Nachlaß Claus' Diktum, "seine Poesie konnte sich aller Medien bedienen", auch für die Literatur bestätigt, Claus' Annahme, Schreib habe "seine poetischen Texte [...] für eine spätere Zeit" zurückgehalten, "dieser ungeduldige Mensch" habe "die Fähigkeit" gehabt, "warten zu können" (24), ist allenfalls halbrichtig. Denn Werner Schreib hat nicht nur seinen Freunden seine Texte immer wieder einmal zur Diskussion gestellt, er hat durchaus an ihre Publikation gedacht. So erhielt ich Ende 1967 zwei Typoskripte mit der Bitte: "hier schicke ich dir einige blätter poesie, bitte versuche doch einmal, ob mayer [korr. aus meyer, R.D.] sie drucken will. Ich sprach mit ihm sehr kurz darüber, als er hier war, und er zeigte sich interessiert. er will ja nach england, also ist eile geboten. / der ideogrammatische bericht sollte als buch oder etwas ähnliches erscheinen, denn die typographie ist ja der knüller bei dieser sache."

Zwar dauerte es noch eine Weile, bis Hansjörg Mayer, der in den 60er Jahren eine international renommierte Edition und eine nicht minder ambitionierte Galerie betrieb, Stuttgart endgültig in Richtung London verließ, aber Werner Schreib hatte richtig herausgespürt, daß Hansjörg Mayer, nicht zuletzt bedingt durch ein mieses Stuttgarter Kulturklima, nurmehr mit halbem Herzen bei der Sache war und Ende der 60er Jahre sein Editionsprogramm deutlich drosselte bzw. zunehmend auf die Herausgabe der "Gesammelten Werke" Diter Rots ausrichtete. So war denn auch in diesem sich zurückhaltenden und verändernden Verlagsprogramm kein Platz mehr für den "ideogrammatischen bericht", bei dem es sich um nichts anderes als den 1985 von Riha/Schmidt herausgegeben "Ideographischen Bericht 1967" handelte. In der Tat: Hansjörg Mayer wäre- wie seine Verlagsproduktion ausweist (25) - damals der einzige Drucker gewesen, der Schreibs Vorstellungen typografisch vernünftig hätte umsetzen können.

Auch das zweite, von Werner Schreib dem Brief beigefügte Typoskript kam zuspät. Es war mit seinen sechs Texten aus dem Jahre 1966 für die Reihe "futura" bestimmt, die sich ihrem Ende näherte und Anfang 1968 - analog zu den 26 Buchstaben des Alphabets - mit der Nr. 26, mit Robert Fillous "galerie legitime", schloß. Was Riha für den "Ideographischen Bericht 1967" festhält, seinen schreibtechnischen Bezug "auf die Praktiken der konkreten Poesie", gilt ebenfalls für dieses zweite Typoskript, "La poésie arithmétique", dessen sechs "Zählgedichte" 1970 von mir wenigstens in die Zürcher Ausstellung "text buchstabe bild" (25a) aufgenommen werden konnten und damit - wenn auch indirekt - publiziert wurden. Das ist nicht ganz unwichtig, da "La poésie arithmétique" als Typoskript ein Ganzes darstellt und die Teilpublikationen in der Zeitschrift "Egoist" und der Sammlung "Gedichte und andere Texte" allenfalls fragmentarischen Wert besitzen, ausgenommen das in den "Ideographischen Bericht 1967" aufnommene Zählgedicht, da es dort in einem anderen Kontext funktionabel gemacht ist.

LA POÉSIE ARITHMÉTIQUE

1 und 2 ist 3
3 und 4 1st 5
5 und 6 ist 7
7 und 8 ist 9
9 und O ist 1

1 und 2 ist 3
2 und 3 ist 4
3 und 4 ist 5
4 und 5 ist 6
5 und 6 ist 7
6 und 7 ist 8
7 und 8 1st 9
8 und 9 ist O

1 und 2 ist 3
4 und 5 ist 6
7 und 8 ist 9
0 und 1 ist 2
3 und 4 ist 5
6 und 7 ist 8
9 und O ist 1
2 und 3 ist 4
5 und 6 ist 7
8 und 9 ist O

1 und 1 ist 2
2 und 2 ist 3
3 und 3 ist 4
4 und 4 ist 5
5 und 5 ist 6
6 und 6 ist 7
7 und 7 ist 8
8 und 8 ist 9
9 und 9 ist O

11 und 11 ist 12
12 und 12 ist 13
13 und 13 ist 14
14 und 14 ist 15
15 und 15 ist 16
16 und 16 ist 17
17 und 17 ist 18
18 und 18 ist 19
19 und 19 ist 20

elf und zwölf ist zwölf
zwölf und zwölf ist dreizehn
dreizehn und dreizehn ist vierzehn
vierzehn und vierzehn ist fünfzehn
fünfzehn und fünfzehn ist sechszehn
sechszehn und sechszehn ist siebzehn
siebzehn und siebzehn ist achtzehn
achtzehn und achtzehn ist neunzehn
neunzehn und neunzehn ist zwanzig

(a + b)2 = (c + d)2 = (e + f)2
= (g + h)2 = (i + j)2 = (k + l)2
= (m + n)2 = (o + p)2 = (q + r)2
= (s + t)2 = (u + v)2 = (w + x)2
= (y + z)2

Bevor ich auf den rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund der hier vollständig in korrekter Form- und Reihenfolge wiedergegebenen Zählgedichte eingehe, sei wenigstens darauf hingewiesen, daß es wenig Sinn macht, Ideen, Äußerungen oder Produktionen Werner Schreibs punktuell zu nehmen. Sie gehören in der Regel in den größeren Werkzusammenhang und müssen in ihren unterschiedlichen Ausfaltungen immer auch als Teil eines Ganzen verstanden werden, das mehr ist als die Summe seiner Teile, das in einem wörtlichen Sinne als work in progress gesehen und gelesen werden sollte.

Kein Wunder also, wenn sich zur "Poésie arithmétique" anderen Orts und zu anderer Zeit Entsprechendes findet, z.B. als Gästebucheintrag am 16.8.1964, wo Werner Schreib eine semantische Filzstiftzeichnung unterschrieb:

Es saßen die Knaben 3/4 vor Vier
und tranken 4/5 der Liter vom Bier
Da kamen 5/6 der Mädchen vorbei
und schlugen 6/7 der Knaben zu Brei
Das siebente Siebtel unterdessen
hat die Sache nie vergessen!
Werkgeschichtlich durchaus noch in der Tradition der "Makabren Zeichnungen [...]" und ihrer kompositorisch häufigen Verbindung von Pictura und Subscriptio, verweist der Text zugleich auf die weitere Tradition der Zähl- und Kreistexte der Unsinnspoesie, die Zeichnung zugleich auf Cachetagen, für die Werner Schreib wiederholt die Bezeichnung "Organisation arithmétique" wählte (26).

Ähnliches ließe sich für das mit 1968 datierte "Monument für einen Sonnentag" (27) zeigen, dessen Titel mit einem Gästebucheintrag vom 15.5.1967 korrespondiert, einer Frottage, die "Ein Monument für Sonntag Morgen und eines für Mittwoch Nachmittag (Sparflamme)" getitelt ist, was wiederum auf ein Gedicht vom 9.1.1966 bezogen werden kann:

Wenn das braune Knäckebrot
auf dem
entsetzlich hölzernen Tische
kracht und knackt
und die
heilige Familie Döhl
erbarmungslos
die gute Suppe
und auch
die Milch
und den abgestandenen
Kaffee
in sich hineinschüttet
Dann ist
Sonntag morgen
einhalb
zehn.
(Im Vorbeigehen: die auffällige wenn-dann-Struktur dieses Textes ist bei Gedichten Werner Schreibs häufiger anzutreffen, z.B. in dem schon genannten Gedicht "wenn in der mitte des jahres", und entspricht durchaus einer Spielregel seiner semantischen Bilder). Ein weiteres Beziehungsfeld stellt sich her, wenn man das "Monument für einen Sonnentag" und das "Monument für Sonntag Morgen [...]" in den weiteren Kontext der "Monumente" (28) stellt, ikonographisch einerseits auf das "Semantische Monument" von 1960 (29), den Materialdruck "Schiefer Turm" von 1961 (30), andererseits auf die "Hommage à Frederic le Grand Roi de Prusse" (31), oder die Nadelzeichnung- bzw. -ätzung eines "Priapus" (32) zurückverfolgt.

6
In seinem den "Ideogrammatischen Bericht" und die "Poésie arithmétique" begleitenden Brief stellt Werner Schreib über ein vertrauliches P.S. für die Zählgedichte von 1966 einen Zusammenhang her, in dem sie auch gelesen werden müssen: "ich will MERZ 25 herausgeben - eine neue nummer mit neuen beiträ-gen (schwitters hat es nur bis MERZ 24 gebracht) schicke mir bitte etwas wie 'es anna' für eine seite ca." Werner Schreib hat diesen Zusammenhang kurze Zeit später präzisiert mit dem Hinweis, er habe das erste dieser Zählgedichte "für Kurt Schwitters gemacht. Kurt Schwitters ist tot, aber man sieht, sein Geist lebt und Anna Blume hat demnächst Geburtstag" (33).

Ich weiß nicht mehr, was ich Werner Schreib für diese Geburtstagsfeier und und das nie erschienene "MERZ 25" geschickt habe. 1986 habe ich mit der Collagen-Serie "MÄRZ 26" versucht, noch einmal an diesen Plan und Werner Schreib zu erinnern, ohne großen Erfolg.

Schreibs explizite Hinwendung zu Kurt Schwitters in der zweiten Hälfte der 60er Jahre war keine Neuorientierung, allenfalls die Konkretisierung einer Zuneigung. Auf Grund seines grundsätzlichen Interesses am Dadeismus hatte ich in ihm für Probleme meiner Arp- und Dadaforschung stets einen interessierten Zuhörer. Gemeinsam war uns das Interesse an Hugo Balls Tagebuch "Die Flucht aus der Zeit" und damit an der aufregenden Existenz eines Künstlers, der in den 60er Jahren allenfalls als Hesse-Biograph noch bekannt war. Schon im August 1954 hatte Werner Schreib zusammen mit einem Freund im Taunus "ein DADA-Memorial" und "Hugo-Ball-Gedächtnis-Piknik" (sic, R.D.) (34) veranstaltet, das durch ein Foto belegt ist. Als später die Happening-Bewegung auch in der Bundesrepublik an Bedeutung und Boden gewann, verwies er wiederholt vergeblich auf diesen frühen eigenen Beitrag, so noch am 26.8.1968 in einem Brief an Wolf Vostell, in dem er das "Einwickeln" eines Menschen ergänzend zu und entsprechend einer 1966 erstellen Liste "semi-mechanischer Prozesse" "Empaquetage" nannte (34a).

Kurt Schwitters aber war und blieb in der Zeit unserer Bekanntschaft der am meisten bedachte Künstler. Eher zufällig hatte ich in dem frühen Gehversuch "Carette" (35) des späteren Verlegers Jens Petersen dieses Interesse Schreibs entdeckt, der Kurt Schwitters dort eine Zinkätzung und die Zeilen gewidmet hatte:

Wenn die Kirschen reif sind
geht der Mond unter und
wenn der Mond aufgeht
werden die Kirschen sauer.
Nachdem wir eine Weile darüber gestritten hatten, ob nicht Bild und Text auch von Kurt Schwitters hätten sein können bzw. warum nicht, entwickelte sich bald so etwas wie eine freundschaftlich konkurrierende Schwitters-Rezeption. Beide besaßen wir das 1958 von Stefan Themerson in London in der Gaberbocchus-Press editierte "Kurt Schwitters in England" und zitierten gerne: "When I am talking about the weather, / I know what I am talking about", einen Satz, der zeitweilig fast den

Wert einer privaten 'Parole' hatte. Was in den frühen 60er Jahren eher spärlich von/über Schwitters erschien, wurde ausführlich diskutiert, so 1962 das Hausmann/Schwittersche Projekt "PIN and the story of PIN", 1964 der von Jes Petersen besorgte Reprint der "Memoiren Anna Blume in Bleie" oder 1965 die von Ernst Schwitters nicht sehr zuverlässig zusammengestellte Ausgabe von "Anna Blume"-Texten: "Anna Blume und ich".

Spätestens mit den letztgenannten Publikationen waren auch die Anregungen für Schreibs "Poésie arithmétique" aus dem Jahre 1966 gegeben, deren geplanter Titel - "LA POÉSIE ARITHMÉTIQUE / (Zählgedichte) / [Querstrich] / (Zwar ist es Wahnsinn, doch es hat Methode!) / (Shakespeare) / (eine ganz / leichtfaßliche Methode / zur Beschreibung / der Mehrwertsteuer)" - nicht von ungefähr an den Zweittitel der "Memoiren [...]" erinnert: "Eine leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann"; deren Inhalt dagegen von Texten aus "Anna Blume und ich" provoziert wurde (vgl. dort vor allem die Seiten 126, 128 f. und 182 f.).

Daß und in welcher Konsequenz uns auch die bildnerischen Arbeiten Schwitters', insbesondere seine Gattungsverwischungen beschäftigten, zeigen einige meiner Text-Grafik-Integrationen und, in Korrespondenz, ein "wundervolles f-gedicht", das mir Werner Schreib Anfang 1963 als Postkarte schickte. Als 1966 "Das Buch Es Anna" (36) erschien, nahm Werner Schreib dies zum Anlaß, Es Anna durch eigenhändige Unterschrift in die Reihe der Sympathisanten seiner "Proklamation" eines Kurt-Schwitters-Gedenkjahres 1967 einzureihen. Von den Feuilletons, auf die ich bei meiner Arbeit über Schwitters gestoßen war, wählten wir, nach einer der Forschung bis heute offensichtlich unbekannt gebliebenen Quelle, der "Prager Presse" vom 20. Mai 1926, "Das geliehene Fahrrad" aus, um es zusammen mit einem Aufsatz von mir zum 80sten Geburtstag Kurt Schwitters' in der "Stuttgarter Zeitung" zu publizieren (37). Schließlich haben wir auch meinen 1969 erschienen Aufsatz über "Kurt (Merz) Schwitters" während der Niederschrift noch mehrfach diskutiert (38).

"Ich lebe bewußt, wie ich lebe. Das Ziel ist Ernst, der Weg humorvoll. Oder sarkastisch. Oder Spiel. So ist das ganze Leben aller Menschen, wenn sie ohne äußeren Zwang leben. Wir spielen, bis uns der Tod abholt", hatte Kurt Schwitters am 24.7.1946 dem Freund der Hannoverschen Jahre, Christof Spengemann, geschrieben. Werner Schreib starb am 20. September 1979 bei einem Autounfall, "Unmittelbar nach der Eröffnung seiner Ausstellung in unserer Baden-Badener Galerie", wie der Verlag Hauswedell am 16.3.1970 für die Freunde Werner Schreibs und des Verlages betonte. Die "SUITE ASTRONAUTIQUE", eine Folge von 9 Radierungen und einem Text von Paul Scheerbart, erschien 1970 nurmehr mit Nachlaßtempel und Signatur Ingeborg Schreibs, 1971 von den "Monumenten aus dem Zwergenkabinett", "hucke / nucke / wucke / wack" gefolgt. Im März 1972 bekam Werner Schreib, nicht in der Galerie der Edition Hansjörg Mayers die bereits 1969 geschlossen hatte, sondern in der Galerie Folkmar von Kolczynski doch noch, wenn auch posthum seine immer gewünschte Stuttgarter Einzelausstellung - Erinnerung an einen Künstler, der wie viele Stuttgart in den 6Oer Jahren berührt hatte, auf der Durchreise: Werner Schreib, Reinhold Koehler, Andre Thomkins, Arthur (Ady) Køpcke u.a., ohne daß die Stadt sie wahrnahm.

Anmerkungen
1) aus den botnanger sudelheften. ein notizbuch. Stuttgart. Edition Hansjörg Mayer 1982, S. 23.
2) John Anthony Twaites: Die Zeichen. In: Egoist, Jg 11, 1970, H. 1 (H. 17 der Gesamtfolge), S. 47.
3) Kunst Handwerk Kunst. Eine Edition der Galerie Geiger. Hrsg. von R.D. Kornwestheim 1985, S. 170 u.a.
4) Stierstadt/Taunus: Eremiten-Presse 1958, s. [10].
5) Ursprünglich in einer Auflage von 120 Exemplaren vorgesehen, erschien "affiche 7" schließlich in einer Aufl. von 140 Exemplaren. - Punzen mit Schnatterings. Stierstadt/Taunus: Eremiten-Presse 1960. Aufl. 100 Ex.
6) Werner Schreib: Spiel mit dem Feuer. "Destruction in Art" - Kunst im Untergrund. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Dezember 1967, S. 22. - Die entsprechende S. wurde von Werner Schreib mit einem damals häufigeren roten Stempelabdruck "destruction et transformation / poetique" versehen und mir mit "Beste Grüße, alter Pataphysiker!" zugeschickt.
7) In der Heidelberger Studentenzeitschrift "forum academicum", November 1961, Dezember 1961, Mai 1962, Juli 1962.
8) Wieshaden: Limes Verlag 1963, S. 49 f.
9) Abb. u.a. in Ausstellungskatalog "Between Poetry and Painting", London: Institute of Contemporary Arts 1965, S. 36.
10) Zu den "Use papers" vgl. Klaus Peter Denker: Text-Bilder. Visuelle Poesie international. Köln: DuMont Schauberg 1972, S. 140 ff; - Sammlung Cremer. Europäische Avantgarde 1950 bis 1970. Kunsthalle Tübingen 1973, S. 40 ff.
11) Wiesbaden: Limes Verlag 1965, S. 55 f. Die Aufnahme der "Fußnoten" war auch als Hommage auf Werner Schreib gedacht, der in einem Neujahrsgruß das Jahr 1965 als "ein Schreibjahr" deklariert hatte.
12) Abb. auf Plakat Werner Schreib, "paysages astronautiques", Basel: Galerie Hilt, September - November 1968 (Rückseite). - Vgl. auch den von der Galerie Brusberg, Hannover, 1961 verlegten dreifach kolorierten Kupferstich "hommage a max ernst"; Abb. In Katalog "semantische malerei / lattanzi / schreib" 1962.
13) Gerd Winkler: Semantik in Büdingen. In: Egoist 17, S. 27.
14) Abb. ebd., S. 36.
15) Vgl. auch Lucio (sic, R.D.) Lattanzi: Eine Analyse der semantischen Malerei. Ebd., S. 49.
16) Abb. 10 in Kat. der Ausstellung Lattanzi, Frankfurt: Galerie Sydow, März 1964.
17) Uber das semantische Bild / About the semantic image / Sur l'image semantique. information 61. Hrsg. von der Galerie für zeitgenössische Kunst, Das Fenster, Dr. H. Appel, Frankfurt am Main, März-Februar (sic, R.D.) 1961.
17a) 14.9. - 6.10.1962 unter dem Titel "sema". Zur Ausstellung erschienen ein Faltblatt und ein Plakat nach einer "Semantischen Zeichnung" Werner Schreibs aus dem Jahre 1961. Die Zeichnung ist auch in: Egoist 17, S. 35), allerdings kopfstehend, abgebildet.
18) Zu "tätowieren" vgl. später auch Werner Schreibs "Neue Anleitung zum Tätowieren. Ansprache nebst praktischen Vorführungen" auf dem Kunstfest in Büdingen am 20. August 1966.
19) Katalog: Luciano Lattanzi. Pittura Semantica. Mailand:Galleria Cadarlo, 20. Januar - 9. Februar 1965, S. 4
20) Außer den schon genannten sind dies nur noch die Punzendrucke "Ach Gottchen, ach Gottchen" (Stierstadt/Taunus: Eremiten-Presse 1963) und die von Werner Schreibillustrierte "Reiskornfrage" Stefan Reisners (ebd. 1960).
21) Die makabren Zeichnungen (...), S. [34].
21a) Werner Schreib wurde bei dieser Kritikerschelte von den TRAN-Texten Kurt Schwitters angeregt, ohne sie allerdings zu imitieren.
22) Vergessene Autoren der Moderne XII. Siegen 1985.
23) experimentelle texte, nr 4. Siegen 1985.
24) In: Egoist 17, S. 23
25) Vgl. den Ausstellungskatalog "publikaties van de edition en werk van hansjörg mayer". Haags Gemeentemuseum 5. Oktober - 24. November 1968
25a) Zürich: Helmbaus 11. Juli - 23. August 1970, Kat.nr n 14.
26) Abb. einer Cachetage von 1963 in Ausstellungsfaltblatt der Ausstellung "Schreib. Hommage a Heraklit et Beat", Wolfsburg: Galerie Rothe 24. 2. bis 10.4.1967, S. [3]; Abb. einer Arbeit von 1969 (?, R.D.) in: Egoist 17, S. [40].
27) Abb. ebd., S. [38].
28) Abb. einer Beton-Stehle ebd., S. [43].
29) Vgl. Ausstellung Internationale Malerei 1960-61. Wolframs-Eschenbach 15. Juli - 24. September 1961, Katalognr. 437.
30) Abb. in AusstellungskaLalog "semantische malerei / lattanzi / schreib", Hannover, S. [19].
31) Abb. auf Umschlag der Zeitschrift "Carette" (Anm. 35). Eine Interpretation bieten Klaus Hoffmanns "manieristische concetti", in "pe 16", S. [33].
32) Die makabren Zeichnungen (...), S. [35].
33) Egoist 17, S. 25.
34) Ein im Archiv Sohm, jetzt Staatsgalerie Stuttgart, befindlicher Fotoabzug ist rückseitig von Schreib kommentiert: "Happening 1954 / Schreib (links), zelebriet (sic, R.D.) mit Freunden ein (sic, R.D.) DADA-Memorial-Tag / Hugo-Ball-Gedächtnis-Piknik (sic, R.D.) / August 1954 im Taunus/ Hessen / Germany [...]".
34a) Der Brief an Vostell befindet sich ebenfalls im Archiv Sohm, jetzt Staatsgalerie Stuttgart.
35) Carette. Schriften zur neuen Kunst. Nr 1, Oktober 1960. "Diese Publikation enstand anläßlich einer Grafik-Ausstellung von Werner Schreib" (vorletzte Umschlagseite).
36) Berlin: Fietkau Verlag 1966 (schritte 12).
37) Erklärte Liebe zum Unsinn. Stuttgarter Zeitung 16. Juni 1967, S. 66
38) In Wolfgang Rothe (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Bern und München: Francke, S. 761 ff.