Reinhard Döhl | Spiele
siebenhundertfünfzig. ein spiel

die 1. handlung spielt in potsdam. in schloß sanssouci wird friedrich der kleine wieder einmal vom zipperlein geplagt. zur ablenkung läßt er sich von heinrich heine aus hamburg den nachttopf karls des großen bringen, worauf auch er einer ohnmacht nahe ist und der vorhang über die geschichte fallen kann.

im 1. zwischenspiel enthüllt helmut kohl (souffliert von philipp jenninger) in einem längeren entscheidungsmonolog seine inneren
gedanken und den plan, den bonnbonnierendeckel nebst ecktürmen, hauptportal und fassadenschmuck zu restaurieren, während
christo (gegenspiel und steigende handlung) den reichstag durch verpacken vor der bonner restauration bewahren möchte.

die 2. handlung spielt in plötzensee. sie ist jenen festspielbesuchern zugedacht, denen die gnade der späten geburt nicht zuteil
wurde. um deutlich zu machen, daß nicht jede aufhängevorrichtung ein garderobenhaken ist, wird die handlung aber auch jenen
gewidmet, die ihrerzeit gewissen und rechtsempfinden an der garderobe abgegeben hatte.

das 2. zwischenspiel ist eine klassische rüpelszene in einer version des frontstadttheaters. das bewußtsein, an vorderster front zu
stehen, könnte bei steigendem spiel und gegenspiel in ebenfalls klassischer stichomythie in der sequenz gipfeln: bulle (sich
vorbeugend, höflich): natty? punker (entgegenkommend und sich ebenfalls vorbeugend): bumppo!

die 3. handlung und zugleich peripethie des festspiels versammelt einige westberliner baulöwen in ländlicher idylle (berlin is doch
keen dorf nich!) im wirtshaus gatow, das in fontanes werken nicht vorkommt und westdeutschen touristen gegenüber als adria-grill
getarnt ist. einziges diskussionspunkt sind die zukunftsaussichten der postmoderne. entsprechend steht

das 3. zwischenspiel unter dem motto never moore minetti! in einem elegischen monolog beklagt der künstlich beatmete schauspieler auf einer parkbank nuschelnd das vermoorte tegel und räsoniert über die positiven konsequenzen, die eine seinerzeitige vermerzung berlins durch kurt schwitters gehabt hätte.

die 4. handlung verlegt den schauplatz nach ostberlin. sie berichtet in deutlich fallender handlung von den festvorbereitungen im
ostsektor der stadt, die jedoch opfer der berichterstattung durch das zdf werden. der vorschlag höfers, diepgen und krack möchten
wenigstens für einen frühschoppen ihre sessel tauschen, ist allenfalls retardierendes moment. in teicho-skopie zeigt

das 4. zwischenspiel bilder von der revue roter rummel<, die erwin piscator a.g. mit mitgliedern des metropol-theaters inszeniert hat (hauptrolle: dachdecker erich). hinter dem vorhang aufgenommene bilder von den kreuzberger umzügen können nur westlich der elbe und nördlich der mainlinie empfangen werden, da sich die berliner festspiele und der bayerische staatsrundfunk aus der
direktübertraghung ausgeblendet haben.

die 5. handlung führt zu dem längst erwarteten ende vor historischer kulisse. während sich die hauptakteure zum obligaten show
down am kalten buffett treffen, tragen die demonstrierenden zuschauer transparente mit sich, auf denen straßenzüge kreuzbergs,
das vermoorte tegel und ein schließlich doch von christo verpackter reichstag zu erkennen sind. gleichzeitig mit dem absingen der
lokalhymne das ist die berliner luftluftluft wird smogalarm gegeben und fällt der

vorhang

[das festspiel gehört mit den entsprechenden collagen/illustrationen zu der kunst&kompostkartenkorrespondenz mit wolfgang ehehalt. heute im archiv der akademie der künste, berlin]