Reinhard Döhl | Stücke und Spiele | Teils-Teils
3. Die schöpferische Seite des Objektiven

Gespräch

GERT: Da setzen sich wirklich schon welche draußen hin.
THOM: Ja, wirklich. Ein bissel gewagt, nicht?
GERT: Das schon; aber nun werden sie nach Hause gehn und werden sagen: Nun ist es aber wirklich Frühling; wir haben schon draußen gesessen.
THOM: [...] Wenn ich eine Novelle schreiben würde, die heute begönne, würde ich auch so anfangen: An einem Nachmittag, mitten im hellen Frühling.
GERT: Eigentlich ist es ja mehr Balladenwetter, weißt du. Alles kühl und straff und blau und gold; aber wie würdest du weiter schreiben?
[...]
THOM: Ich würde wohl einfach sagen müssen, was geschieht: Die Wälder wurden uns ferner; von Nebeln eine dünne Haut legte sich über den See; das Licht wurde zarter und durchsichtiger und nahm an Fülle ab.
GERT: Das ist allerdings [...] schön [...].
THOM: Gar nicht schön [...]. Nur eine Zuflucht.
GERT: Vor wem?
THOM: Vor der Lächerlichkeit. Sieh mal, wenn man heutzutage von jemandem sagt: der macht Gedichte oder schreibt Novellen, so ist das beinahe so, als ob man sagte, er habe einen unreinen Teint. Das kompromittiert seinen Geschmack und stellt seine Lebensart in Frage. Wenn man es aber doch nicht lassen kann, bleibt nur die Zuflucht, die Dinge und Geschehnisse auf ihren rein tatsächlichen Bestand zurückzuführen, sie auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.
GERT: So wie du es eben getan hast? Das hieße also, ehe man einen Roman oder ein Gedicht schreiben wollte, müßte man Chemie, Physik, experimentelle Psychologie, Atomistik, Embryologie studieren?
THOM: Du drückst es etwas verwegen aus; aber ich sage ja. [...]
Sage mal, kennst du Jacobsen?
GERT: Jens Peter? Den Dänen? Gewiß kenne ich ihn.
THOM: Ist dir nie etwas aufgefallen, wenn du dir dessen Leben ansahst?
GERT: Was meinst du denn?
THOM: Er war nämlich ein großer Naturwissenschaftler, weißt du das? [...] Und denke mal, dieser Mensch hat sich auf eine ganz seltsame und eindringliche Art mit den Naturwissenschaften befaßt. Gar nicht so als Dilettant sich rasch an einem kosmischen Problemchen aufregt. Nein. Er schrieb zum Beispiel eine Arbeit über die Desmediazeen Dänemarks. [...]
GERT: Und du willst sagen, das hätte Beziehungen zu seiner Kunst? Das war vielleicht doch nur ein Jugendgedanke von ihm und später sah er selber ein, daß es für ihn ein Abweg gewesen wäre.
THOM: Meinst du? Stell dir doch einmal vor, was heißt das denn eigentlich: Dichten, und um was handelt es sich, wenn man irgend etwas beschreiben will? Feiner, flüchtiger, noch nie gesagter Dinge will man doch habhaft werden und sie so aufbewahren, daß sie den Schmelz nicht verlieren, den sie trugen, als sie zu uns kamen. Du mußt also eine ganze Heerschar von Worten und Bildern und Vorstellungen haben, denen du gebieten kannst; und du mußt sie zusammenpassen und du mußt sie ändern, sie müssen ganz geschmeidig vor dir sein, und meinst du, du vermöchtest dies, ohne ganz genau zu wissen, woher sie eigentlich kommen und was denn in ihnen steckt? Meinst du, du könntest irgendetwas anfangen mit hergelaufenen Worten, die blaß und matt und müde zu dir kommen?
Sieh dir Jacobsen an: der wohnt in der Heimat aller dieser Worte; unter Dingen, von denen andere nur den Namen wissen, lebt er sein Leben; glaubst du nicht, daß dieser Dinge Namen für ihn nun etwas ganz anderes bedeuten, vielmehr Inhalt und Beziehungen haben? Und zwar handelt es sich um Worte, die für die Beschreibung sehr wichtig sind: um Worte über Gerüche, Farben und Geräusche, über Liebliches und Tierisches; die sind nun bei ihm und können ihm helfen, sooft er etwas Neues, etwas Lebendiges beschreiben will. Er hob sie ja von lauter lebendigen, beweglichen, miteinander spielenden Dingen. Glaubst du noch, daß das ein Abweg war?
GERT: In dem, was du sagst, ist ja sicher Wahres; aber es hat doch immerhin einige Dichter von Ruf gegeben, die keine Ahnung von Naturwissenschaften hatten.
THOM: Keine Ahnung? Ich weiß nicht. Ich will gar nicht verallgemeinern; ich sage ja nur, daß das Spezifische in Jacobsens Kunst mit seinen naturwissenschaftlichen Neigungen ganz sonderbar zusammenhängt. (...) Kannst du dir nicht vorstellen, daß Jacobsen, um das Leben zu begreifen, das ihm in den Menschen so vielfälig und verschlungen entgegentrat, es bis dahin zurückverfolgen mußte, wo es sich ihm in seinen primitivsten Formen zeigte, gewissermaßen nur als ein Schema des Lebens, als eine steile Projektion des Lebens?... Sieh mal, das ganze Chaos von Geschehnissen, das sich aus den Beziehungen der Menschen zueinander ergibt, alle je träumbaren Träume und je erleidbaren Sehnsüchte, das läßt sich doch schließlich alles restlos auf einige ganz wenige Funktionen zurückführen, die eben die Funktionen des Lebens an sich sind und die in jeder Zelle stumm sich abspielen.
Überkommt dich nicht bei diesem Gedanken ein Gefühl, als glättete sich allerhand bis dahin Unruhevolles in dir und als sähest du um allerhand Verworrenes jetzt klare große Umrisse? Ich muß dir gestehen, in mir entsteht immer eine Empfindung von ganz eigentümlichem Gefühlston, wenn ich mir Jacobsen vorstelle, wie er mit einem Mikroskop an der Arbeit ist und eine Zelle studiert: wie das Leben, aufgegipfelt in eines seiner subtilsten Exemplare, in dem das Seelische, das Zerebrale sich aufgefasert hat in seine feinsten und äußersten Vibrationen, sich über ein anderes Leben beugt: dumpf, triebhaft, feucht, alles eng beieinander, und wie doch beide zusammengehören und durch beide die e i n e Welle läuft und wie beide leibsverwandt sind bis in die chemische Zusammensetzung ihrer Säfte.
GERT: Und du meinst, so hätte Jacobsen die Naturwissenschaften betrieben? Von diesem Gesichtspunkt aus?
THOM: O ganz gewiß. Und hier gehört vielleicht auch noch ein Zug her, der gegen Ende bei seinem Niels Lyhne auftritt: ich meine jene Freude an körperlicher Arbeit, jenes Glück an körperlicher Müdigkeit. Ich glaube, eine Stelle heißt so: "Oft konnte man ihn sitzen sehen, wie sein Vater gesessen, an einer Heckentür oder auf einem Grenzstein, in seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den güldenen Weizen oder den ährenschweren Hafer starrend." Bitte, stelle dir das deutlich vor. Da sitzt er nun, Niels, der ausgezogen war. um ein großer Künstler zu werden, der seine Seele hatte durchrütteln lassen von allen Sensationen moderner Kultur und Wissenschaft, da sitzt er nun und fühlt mit Behagen in seinen Gelenken und Muskeln die Müdigkeit, die aus körperlicher Arbeit kommt, und starrt wie mit ausgelöschten Hirnfunktionen auf die rhythmisch wogenden Kornfelder. Es ist wie ein Kreis, der sich schließt: das Resultat millionenjähriger Entwicklung, das Hirntier, das Zerebralgeschöpf, nun wird es zurückgezogen zum Vegetativen, Pflanzlichen, zu allem, das anheimgegeben ist an Tag und Nacht und Glut und Frost; nun sitzt es da, wie nie aufgestört aus der Seligkeit gehirnloser Urahnen, wie heimgekehrt, müde des weiten Wegs, still in der Sonne - eine Raumausfüllung.

Gesänge I

O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.

Ein Algenblatt oder einen Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Mövenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.))

GERT: Aber legst du da nicht Jacobsen vielleicht Empfindungen unter, die er gar nicht gehabt hat? Gegen die er vielleicht sogar sich wehren würde?
THOM: Bitte lies ihn doch noch einmal. Lies seine Briefe, (...), lies sein Tagebuch, das er das Tagebuch eines begabten jungen Mannes nennt, liest Morgens, aber lies vor allem noch einmal Niels Lyhne. Weißt du, sein ganzer Stil ist ja absolut natur wissenschaftlich. Ich meine die Art, wie er die Dinge sieht. Für ihn gibt es nichts Zuständliches; er sieht alles kommen von weither und seinen Weg gehen und über einen Moment dieses Weges sagt er schnell ein Wort. (...) Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem Gefühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen.
GERT: Ja aber, wer sagt, daß er nicht diese Art einfach als ein Gesetz in sich getragen hat? Vielleicht war es einfach sein künstlerischer Instinkt, der ihn so sehen ließ?
THOM: Möglich wäre es. Vielleicht! Aber ich kann dir beweisen, daß es sich so nicht verhält. Ich kann dir zeigen, daß er bewußt diese Art zu schauen und zu schildern als Methode aus den Naturwissenschaften in die Kunst übernommen hat. (...) Vielleicht finde ich den Brief gleich; wenn ich nicht irre, war er an Eduard Brancks, - ja hier steht es (...): "Es ist in den Naturwissenschaften in der letzten Zeit Mode geworden zu sagen, daß zuviel Gewicht auf die Entwicklungsgeschichte gelegt worden sei. Diese Beschuldigung kann nicht mit Recht auf Works of fiction hinausgeschleudert werden. Denn hier ist fast immer bloß von fertigen Zuständen die Rede; selbst wo Versuche ge-macht sind, ist es niemals wirkliche Entwicklung, es ist nur eine gewisse feste Form, die Bogen auf Bogen reich und reicher nuanciert wird, mehr und mehr unterstrichen wird. Es sind nicht Möglichkeiten in ihnen zu allem Möglichen; dadurch gewinnen sie natürlich an Festigkeit, doch nicht an Leben. Die wirkliche Entwicklungsgeschichte (voir venir les choses) ist es, auf die nun Gewicht zu legen ist von jenen, die können, selbst auf die Gefahr hin, daß die Charaktere des Zusammenhangs zu ermangeln scheinen." Also du siehst mit dem Gesetz und dem Instinkt? Ich muß dir offen gestehen, daß mir diese Rede vom Instinkt und Rausch, aus dem der Künstler seine Werke gebiert, immer ein wenig lächerlich vorkam. Meinst du nicht, daß auch sie ganz bitterlich ringen, nicht anders, als wie Jakob rang mit einem fremden starken Mann, bis er ihn segnete? Aber es ist spät und dunkel. Es sind schon alle fort.
GERT: Und das willst du ganz fortlassen, das Intuitive, Spontane, mit einem Wort das Schöpferische, das sich in Werken zu entladen drängt? Diesen kosmischen Unterton willst du ganz leugnen? Einer, den du auch liebst, hat doch gesagt: Dichten heißt die Welt wie einen Mantel um sich schlagen und sich wärmen. Thom, die Welt!
THOM: Du kannst den ganzen Kosmos durch dich fluten fühlen und brauchst doch nur ein Schwätzer zu sein. Ich halte mich an Rodins hartes Wort, daß es überhaupt keine Kunst gibt, sondern nur ein Handwerk. Vielleicht gibst du mir noch einmal recht.

Die Erbmasse
Brandenburg blieb auch weiter meine Heimat: Das Gymnasium absolvierte ich in Frankfurt an der Oder, zum Glück ein humanistisches, studierte dann auf Wunsch meines Vaters Theologie und Philologie zwei Jahre lang entgegen meiner Neigung; endlich konnte ich meinem Wunsch folgen und Medizin studieren. Es war das dadurch möglich, daß es mir gelang, in die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das Militärärztliche Bildungswesen in Berlin aufgenomen zu werden, an der namentlich Söhne von Offizieren und Beamten zu Sanitätsoffizieren herangebildet wurden. Eine vorzügliche Hochschule, alles verdanke ich ihr! Virchov, Helmholtz, Leyden, Behring waren aus ihr hervorgegangen, ihr Geist herrschte dort mehr als der militärische, und die Führung der Anstalt war mustergültig. Ohne den Vater stark zu belasten, wurden für uns all die sehr teuren Kollegs und Kliniken belegt, die die Zivilstudenten hören mußten, dazu bekamen wir die besten Plätze, nämlich vorn, und das ist wichtig bei den naturwissenschaftlichen Fächern, bei denen man sein Wissen mit Hilfe von Experimenten, Demonstrationen, Krankenvorstellungen in sich aufnehmen muß.

Blinddarm

Alles steht weiß und schnittbereit.
Die Messer dampfen. Der Bauch ist gepinselt.
Unter weißen Tüchern etwas, das winselt.

"Herr Geheimrat, es wäre soweit."

Der erste Schnitt. Als schnitte man Brot.
"Klemmen her!" Es spritzt was rot.
Tiefer. Die Muskeln: feucht, funkelnd, frisch.
Steht ein Strauß Rosen auf dem Tisch?

Ist das Eiter, was da spritzt?
Ist der Darm etwa angeritzt?
"Doktor, wenn Sie im Lichte stehn,
kann kein Deibel das Bauchfell sehn.
Narkose, ich kann nicht operieren,
der Mann geht mit seinem Bauch spazieren."

Stille, dumpf feucht. Durch die Leere
klirrt eine zu Boden gefallene Schere.
Und die Schwester mit Engelssinn
hält sterile Tupfer hin.

"Ich kann nichts finden in dem Dreck!"
"Blut wird schwarz. Maske weg!"
"Aber - Herr des Himmels - Bester,
halten Sie bloß die Hacken fester!"

Alles verwachsen. Endlich: erwischt!
"Glüheisen, Schwester!" Es zischt.

Du hattest noch einmal Glück, mein Sohn.
Das Ding stand kurz vor der Perforation.
"Sehn Sie den kleinen grünen Fleck? -
Drei Stunden, dann war der Bauch voll Dreck."

Bauch zu. Haut zu. "Heftpflaster her!
Guten Morgen, die Herrn."
Der Saal wird leer.
Wütend klappert und knirscht mit den Backen
der Tod und schleicht in die Krebsbaracken.

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
Und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Manne groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. - Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. - Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Die Erbmasse
Dazu hatten wir aber noch eine Fülle von besonderen Kursen, Repetitorien, hatten Sammlungen zur Verfügung, Modelle, Bibliothek, bekamen Bücher und Instrumente vom Staat geliefert. Dazu bekamen wir eine Reihe von Vorträgen und Vorlesungen über Philosophie und Kunst und allgemeine Fragen und die gesellschaftliche Bildung des alten Offizierskorps. Für jedes Semester, das man studierte, mußte man ein Jahr lang aktiver Miltärarzt sein. Im übrigens war das Leben dort das vollkommen freier Studenten, wir hatten keine Uniform. Rückblickend scheint mir meine Existenz ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar. Es sammelte sich noch einmal in diesen Jahren die ganze Summme der induktiven Epoche, ihre Methoden, Gesinnungen, ihr Jargon, alles stand in vollster Blüte, es waren die Jahre ihres höchsten Triumphes, ihrer folgenreichsten Resultate, ihrer wahrhaft olympischen Größe. Und eines lehrte sie die Jugend, da sie noch ganz unbestritten herrschte: Kälte des Denkens, Nüchternheit, letzte Schärfe des Begriffs, Bereithalten von Belegen für jedes Urteil, unerbittliche Kritik, Selbstkritik, mit einem Wort die schöpferische Seite des Objektiven.

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