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Reinhard Döhl | Victor Vasarelys Serigrafien

Es gibt Künstler, die, wenn sie hören, daß wo was Mode wird, sofort hinter her sind. Das sind Künstler, die immer auf dem Laufenden und dabei sind, weil sie dabei gewesen sein wollen. Das ist ihre Masche. Die kann man abziehen. Und dann gibt es Künstler, die, wenn sie hören, daß wo was Mode wird, ruhig weitermachen. Das sind Künstler, die dabei bleiben und bei etwas dabei sind, das man als ihre Methode bezeichnen könnte. Ihre Methode ist in etwa ihr handwerkliches Programm. Zu diesen Künstlern rechnen wir Victor Vasarely. Und als sein Programm würden wir die Konstruktion unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der Reinheit bezeichnen.

Das Programm der Konstruktion ist nicht Vasarelys Erfindung oder sein geistiges Eigentum. Im Gegenteil begegnen wir ihm cum grano salis seit den Fragmenten der Schlegel-Novalis wiederholt in der Literatur und in der Kunst-seit-dem-Futurismus etwa bei Malewitsch, Lissizky, Sophie Taauber, Max Bill und anderen. Mit diesen Namen ist zugleich ein Rahmen abgesteckt, in den sich eine Gruppe von Künstlern einpassen läßt, die eine gemeinsame Tendenz haben. Tendenz bedeutet (laut Fremdwörterduden): Streben nach bestimmtem Zweck, Absicht; Hang, Neigung, Strömung; Zug, Richtung, Entwicklungslinie. Man kann Victor Vasarelys Arbeiten also innerhalb einer allgemeinen Entwicklungslinie in Richtung auf die reine Konstruktion sehen.

Auf einer Entwickungslinie gibt es Vorgänger und Nachfolger undsoweiter. lnnerhalb des abgesteckten Rahmens wäre Victor Vasarely also ein Nachfolger. Ein Nachfolger verhält sich zu seinem Vorgänger entweder blindlings, dann ist er ein Extremist, oder konsequent, dann verfolgt er seinen eigenen Weg und Zweck.
Victor Vasarely ist ein konsequenter Nachfolger. Er ist das, indem er die Tendenz in Richtung des Prinzips der Reinheit der Konstruktion soweit verschärft, daß man zum Beispiel bei seinen Serigrafien fragen könnte, ob diese Serigrafien nicht beliebig reproduzierbar seien von einem Irgendjemand, der die Technik hat und die Kontruktionsformel kennt. Daß diese Frage umso leichter zu stellen ist, je berechenbarer d.h. festgegelegter Farbe und Form sind, liegt auf der Hand und hieße - wollten wir uns damit aufhalten - das Rößle nach Stuttgart bzw. die lnformationsästhetik ins Bense-Kolloquium tragen. Immerhin deutet die Tatsache, daß man sich die Frage nach der Wiederholbarkeit stellen könnte, an, daß ein konsequentes Programm der Konstruktion den bisherigen Begriff des Originals gewissermaßen sinnlos und unsinnig erscheinen läßt. Was pur konstruiert ist, ist reproduzierbar. Was reproduzierbar ist, ist kein Original mehr, das die Chance hat, als einmalig schön bezeichnet zu werden, - sondern ein Muster, ein Modell. Die zunehmende Absicht der Konstruktion vermindert also den Wertbegriff des Originals. An seine Stelle tritt die Erfindung des Modells oder Musters. Victor Vasarely ist so ein Erfinder von Mustern und Modellen. Er beschränkt sich auf wenige, in ihren Verhältnissen genau festgelegte Farben (zum Beispiel schwach oder extrem nuancierte Gegensatzfarben. Er braucht die Farben nicht als Ausdruck unkontrollierbarer Stimmungen und Gefühle (was manchmal gerne mit Inhalt verwechselt wird), sondern als farbige Flächen und Linien. Er reduziert seine Bildinhalte auf kalkulierte geometrische Formen, Figuren und Linien, die farbig sind. Die unter dem Gesichtspunkt der Reinheit so konstruierten Muster oder Modelle dürfen um ihrer ästhetischen Botschaft willen die vorstellbare Grenze der Reinheit nicht erreichen. Aber sie sind immer auf dem Wege zu dieser Grenze. Victor Vasarely benutzt Bekanntes, um ästhetische Gebilde zu erzeugen Aber er unterzieht das Bekannte der Störung, der Deformation, der Verstellung. Er blufft also die Erwartung und gelegentlich blufft er die Erwartung mit visuellen Tricks. Dann berührt sich die Absicht der Konstruktion mit Überlegungen einer kinetischen Kunst. Immer aber tritt auf den Arbeiten Vasarelys etwas Unerwartetes ein und hinzu.

Helmut Heißenbüttel hat einmal gesagt, daß Leute gebe, die, wenn sie etwas sähen, sich immer gleich etwas dabei denken müßten. Man könnte auch sagen, daß es Leute gibt, die immer genau wissen, was ihnen bevorsteht und was sie erwartet. Das sind Leute, die, wenn sie sich qegenüber einem Kunstwerk befinden, genau wissen, was sie erwartet. Wenn das von Ihnen Erwartete aber nicht eintritt, obwohl sie Bekanntes zu erkennen glauben. fühlen sie sich veräppelt. Das kommt davon, daß diese Leute nur sehen können, was sie zu sehen erwarten. Und wenn diese Leute in eine Ausstellung namens Vasarely gehen, erwarten sie, daß das, was sie in dieser Ausstellung sehen, ihre Vasarelys sind, die sie erwartet haben.

Es gibt eine andere Möglichkeit, die jedoch weniger verbreitet scheint und darin besteht, daß man in eine Ausstellung geht, in der z.B. eine Anzahl Serigrafien hängen, die ein gewisser Vasarely gemacht hat, von dem man möglicherweise weiß, daß er in Budapest studiert hat. daß er gern Twist tanzt undsoweiter. Man kann das, was man möglicherweise weiß, aber vergessen und sich die Serigrafien ansehen, um zu sehen, was ein gewisser Victor Vasarely da in einem historischen Zusammenhang und innerhalb einer Tendenz gemacht hat. Nur, wem man nicht erwartet, etwas Bestimmtes auf diesen Serigrafien zu sehen, ist man in der Lage zu sehen, was auf ihnen drauf ist und wie es sich mit dem verhält, was da drauf ist. Dann tritt man in ein Verhältnis zur jeweiligen Serigrafie und kann beginnen, sich ein Urteil über sie zu bilden und - über ihren Hersteller, weil die Serigrafie ja auch zeigt, was an ihm als ihrem Hersteller dran ist. So wie sie schließlich vice versa ihrem Betrachter  verrät, was an ihm als ihrem Betrachter dran ist. Kunst ist, wenn sie ehrlich gemacht wird, ein urteilender Vorgang in wechselnde Richtungen. Das Betrachten sollte es auch sein. Kunstwerke seien - hat es Max Bill vorgeschlagen - Gegenstände zum geistigen Gebrauch. Die Serigrafien Victor Vasarelys sind fraglos solche Gegenstände.

[Buchhandlung Niedlich Stuttgart, 17.1.1964. Druck in:  Kritisches Jahrbuch 1, Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich o.J. [1966], S. 26; ferner in: außerdem. Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? München, Bern, Wien: Scherz 1967, S. 114-116]

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