Künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten von Hyperfiction und Hypermedia

Reinhard Döhl | Voraussetzungen || Johannes Auer |  7 Thesen zur Netzkunst

Reinhard Döhl | Voraussetzungen

Voraussetzungen (1)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden für die Künste entscheidende Weichen gestellt durch

Und man sollte diese Voraussetzungen mitbedenken, wenn man über die Genese der elektronischen Medien und ihrer Künste sprechen will.

Voraussetzungen (2)
Bei Entwicklung der Künste in 20. Jahrhundert spielen die elektronischen Medien ihre Rolle in einer Doppelfunktion als Aufzeichnungs- bzw. Übermittlungssysteme (reproduktiv) ebenso wie (produktiv) bei Fortschreibung traditioneller und der Genese neuer 'Gattungen', z.B. des Films, des Hörspiels, des Hypertextes.

Dabei ist es nach der historischen Abfolge Mündlichkeit / Schriftlichkeit, heute zu einem Nebeneinander von Mündlichkeit (Rundfunk/akustische Kunst) und Schriftlichkeit (Internet/Netzkunst) gekommen.

Die Hervorbringungen dieser neuen Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben in der CD ein gemeinsames Medium gefunden. Die These, eine solche Aufzeichnungsmöglichkeit spräche gegen die Originalität eines richtig verstanden nur im und durch das Netz relevanten Netztextes / relevanter Netzkunst [u.a. Florian Cramer], schüttet das Kind vor dem Bade aus.

Der Hypertext ist nicht die einzige Möglichkeit produktiver Internetnutzung, wohl aber die noch dominierende literarische Gattung. Solche Hypertexte ohne Bild, Ton, Animation (im Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction) zeichnen sich durch eine häufig recht komplexe, oft nicht-lineare Struktur aus, auf deren Grenzen u.a. von Bernd Wingert ("Aufmerksamkeitsverschiebung") und Johannes Auer hingewiesen wurde

Auf der anderen Seite sind unseren Stuttgarter Experimenten für multimediale scriptgesteuerte Netzwerke mit gleichen oder aussagebestimmt wechselnden Anteilen an Text, Bild, Ton, Animation durch die noch bestehenden technischen Beschränktheiten deutlich Grenzen gesetzt.

Netztext / Netzkunst in ihrer ans Medium gebundenen Form sind eine Fortschreibung von Computertext / Computerkunst. Letztere entstanden, als man sich einigte, daß es bei den programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen nicht entscheidend sei, was die Maschine tue, entscheidend dagegen, wie man die Funktion der Maschine interpretiere [Theo Lutz]. Dieser Schritt einer Uminterpretation erfolgte, als Ende der 50er Jahre in Stuttgart das Verfahren der Herstellung von Wortindices umgekehrt und der Computer angewiesen wurde, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben. Experimente, die sich Ende der 60er Jahre in ihren Möglichkeiten erschöpften.

Sie hatten ihre Entprechung in der Etablierung und Diskussion einer konkret-visuellen Poesie und Kunst, die ebenfalls Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre mit den großen (Wander)Ausstellungen in Zürich, Amsterdam und Stuttgart museal wurden.

Heute scheint die Netzliteratur und -kunst diese beiden Ansätze auf einer neuen Basis zusammenführen und weiterentwickeln zu können.

Ich muß hier einschränken, daß Netztext/Netzkunst kein Spezifikum des Internets sind. Vernetzte Literatur hat es vor dem Netz gegeben und sie kann außerhalb des Netzes existieren

Wir haben deshalb in Stuttgart auch versucht, auf der Basis von e-mails Internettexte zu entwickeln, vernetzte Autoren-Projekte aufzubauen, oder die Spielregeln des Schachspiels für das Netz produktiv zu machen.
Bei diesen Versuchen Alles ist möglich. Alles ist erlaubt
Wenn nach der ersten Aufgeregtheit der 'Gründerjahre', z.B. in den projizierten Thesen zur heutigen Gesprächsrunde, von nicht erfüllten Hoffnungen gesprochen wird, geschieht dies voreilig, wird vergessen, daß es sich beim Internet und seiner Schreib- und Lesemaschine um ein Medium in statu nascendi handelt, das sich eigene Gattungen zu seinen Bedingungen erst einmal entwickeln will. Zwischen welchen Positionen dies geschehen kann, versuche ich mit Blick auf das ältere akustische Medium Rundfunk anzudeuten.

Helmut Heißenbüttel hat in seinem berühmten "Horoskop des Hörspiels" 1968 mit der bis dato gültigen Auffassung des Hörspiels als Literatur aufgeräumt. Und er hat dabei an ein völlig frei disponierbares Hörspiel zwischen Auseinandersetzung, Kritik, Tabuverletzung, Schock usw. als purem Inhalt auf der einen und an Laut- und Geräuschpoesie auf der anderen Seite gedacht, eine Poesie, die ja ebenso wie vernetzte Texte oder konkret-visuelle Poesie ihre Geschichte zunächst außerhalb des Mediums schrieb.

Was, übersetze ich Heißenbüttels abschließende These, an Möglichkeiten des Internettextes heute zeig- und lesbar gemacht wird, bestimmt, was es - darauf aufbauend - künftig an Möglichkeiten überhaupt geben kann. Denn es kann nur das geben, was zeig- und lesbar gemacht werden kann. In dem Spannungsfeld zwischen purem Informationsfluß auf der einen und Hyperfiktion, animiertem und/oder animierbarem interagierendem und/oder interagiertem Text - zwischen Schrift und Bild in Bewegung also - ist dabei experimentell alles möglich, ist versuchsweise alles erlaubt.

Johannes Auer |  7 Thesen zur Netzkunst

Lassen sie mich statt eines Statements 7 Thesen vortragen. Sieben, weil das eine übliche, eingeführte  und magische Zahl ist - die 7 Geislein und 7 Tage.

Ich beschäftige mich seit 1996 theoretisch und praktisch mit Netzliteratur, Hyperfiction und  Hypermedia. Meine Thesen waren und sind (also) auch Arbeitshypothesen. Ergebnisorientiert werde  ich zu jeder These ein richtig oder falsch ausgeben oder in Programmiersprache ausgedrückt ein true  or false. Zwischentöne, das Unentscheidbare findet sich im Unpräzisen und Ungefähren, das durch  Widersprüche entsteht.

These 1
Im Internet ist jeder Leser gleichzeitig Autor, da er über die Links, die er anklickt, die Textgestalt bestimmt oder anders ausgedrückt, er collagiert oder kombiniert beim Lesen seinen Text, stellt sich  beim Lesen seinen Text her.

Diese These ist falsch, da das Konzept des Wreaders (also des Lesers (reader), der gleichzeitig Autor  (writer) ist, nur als Ideologie funktioniert. Denn (und ich beziehe mich hier auf Überlegungen von Uwe  Wirth) genau in dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur, bzw. auf eine interne Kohärenz  verzichten (die von einem Autor/Autorenkollektiv vorbedacht ist), um sich ganz den Entscheidungen  des Lesers zu öffnen, werden sie inhalts- und sinnlos. D.h. in einem fiktionalen Text muß die  Entscheidungsmöglichkeit es Lesers immer durch die Regisseure oder Autoren beschränkt werden.

These 2
Dennoch ist das traditionelle Konzept des Autors, der ein "Werk" erschafft, allein durch die  technischen Bedingungen und medialen Möglichkeiten des Internets in Frage gestellt. Die Tendenz  zum Dialog der Künste und Künstler im 20 Jahrhundert, die Reinhard Döhl konstatiert, findet im  Internet ihre konsequente Fortführung.

Diese These ist richtig. Als Konsequenz eines multimedialen Mediums, das sehr gute Computer- und -  im Idealfall -       Programmierkenntnisse voraussetzt, könnte zwar letztlich der "uomo universale", das  technisch versierte filmende, malende, schreibende Universal- und Orginalgenie stehen, ein nun  wirklich überholtes Konzept - oder: es entstehen Kooperationen zwischen Programmierern,  Schriftstellern und Künstlern - kurz: kollaborative Kunstwerke.
 

These 3
Der Hyperlink ist das A und O der Netzliteratur.

Diese These ist falsch. Der Link ist zwar aktuell das strukturelle und ästhetisches Mittel zur  Gestaltung von fiktionalen Texten im Internet. Künftig sind auch andere Möglichkeiten denkbar. Die Computer-Maus, die wie ein Wahrheitsdetektor emotionale Zustände des Benutzers erkennen kann, ist  schon in Arbeit. Akustisch oder optisch gesteuerte Interfaces ebenfalls. Wenn also Interaktivität ein  Grundmerkmal der neuen medialen Kunstform ist, so findet diese Interaktivität ihre Beschränkung vor  allem im Interface. Kommt die Emo-Maus sind beispielsweise fiktionale Texte denkbar, die auf die  emotionalen Zustände des Lesers reagieren.

These 4
Netzliteratur darf nur im Netz möglich, also nicht verlustfrei auf einem lokalen Datenträger speicherbar  sein.

Diese These ist falsch. Üblicherweise wird unterschieden zwischen elektronischem Text, digitalem Text und Netzliteratur. Dabei wäre das Merkmal des elektronischen Textes, dass er das Internet nur  als neue Distributionsform nutzt, im übrigen traditioneller, druckbarer Fließtext bleibt. Digitaler Text wäre Literatur, die den Computer genuin ästhetisch nutzt, allerdings auf lokale Datenträger speicherbar  ist (wie beispielsweise die ganze amerikanische Hyperfiction um Michael Joyce). Wahre Netzliteratur  wäre gekennzeichnet durch das Computernetz als ästhetische Bedingung und einzige  Existenzmöglichkeit. Letzteres ist mir zu puristisch. Ich denke auch digitale Literatur kann Netzliteratur sein. Entweder dadurch, dass sie z.B. Möglichkeiten von Browsersoftware ästhetisch nutzt, also von Komponenten der Bildschirmoberfläche, durch die sich in der Regel das Internet für uns visualisiert (ich denke hier an Susanne Berkenhegers Hilfe! oder Olia Lialinas "My Boyfriend came back from the war"). Oder auch dann wird digitale Literatur zur Netzliteratur für mich, wenn sie, beispielsweise während des  Entstehungsprozesses zu den Bedingungen des Internets kommuniziert, also beispielsweise per E-mail kollaborativ erarbeitet wurde oder als "work in progress" in einer Mailingliste oder auf einer Webpage veröffentlicht, sich der Diskussion stellte. Last but not least kann auch durch den
Rezeptionsprozess digitale Literatur zu Netzliteratur werden.

These 5
Das, was wir als ästhetisches Produkt auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, hat, wenn es  Netzkunst ist, zwei weitere Ebenen, eine technische (Programmierung) und eine soziale (Interaktion  der Nutzer).

Das ist absolut richtig und diese These stammt von Reinhold Grether der diese drei Ebenen Desk, Tech, Soz benannt hat. Dabei können diese Ebenen jeweils ein verschiedenes Gewicht einnehmen. Mit dem letztweihnachtlichen etoy/etoys Konflikt, bei dem eine Internetfirma gegen eine Künstlergruppe vorzugehen versuchte und durch "den Toywar" einer Straf-Performance der Netz-Community die Hälfte ihres milliardenschweren Börsenwertes einbüßte, dieser Toywar, gerade beim Prix Ars Electronica mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet, dieser Toywar hat aufs eindrucksvollste die Bedeutung der Soz-Ebene bestätigt. Dass Reinhold Grether diesen Toywar im Rückgriff auf Beuys als soziale Plastik bezeichnete, führt weiter zur nächsten These.

These 6
Internetkunst reaktiviert alte Avantgardekonzepte.

Erstaunlich aber wahr. Ein gutes, altes Avantgardekonzept ist die Selbstreferentialität. Also die Untersuchung der Mittel der Kunstproduktion und ihre Reflexion. So rückte im Impressionismus die Farbe ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung, der Kubismus thematisierte die Bildoberfläche oder Nam June Paik untersuchte alles, was man mit dem Videomonitor nicht machen
sollte etc...  Im Netz visualisiert Lisa Jevbratt mit großem Programmieraufwand die technischen Infrastruktur des Internets. Netzkunstduo Jodi wurde von seinem Provider vor die Tür gesetzt, weil es mit einem Javascript die Surfsoftware der virtuellen Besucher zum Tanzen brachte. Es gibt als Kunstprojekt einen Webshredder, der auf Wunsch jede wohlgeordnete Website durch den virtuellen Fleischwolf dreht und auch der Assoziationsblaster, Gewinner beim letztjährigen Ettlinger Literaturwettbewerb, zeichnet sich durch "Materialprüfung" aus, wie Tilmann Baumgärtel das ironisch nennt, beim Assoziationblaster wird die assoziative Verknüpfung des Hyperlinks zum Thema.

These 7
Netzliteratur ist lesbar.

Ja natürlich! Allerdings unter der Voraussetzung, dass mit dem genuinen Material des Netzes gearbeitet wird als Ausdrucksmittel für Inhalte. Selbstreferentielle Ironiespiele (Beispiel: der Assoziationsblaster) erschöpfen sich meines Erachtens ebenso schnell, wie bloße Illustrierungen von postmoderner Theorie. Kurz: die Notwendigkeit der Kongruenz von Inhalt und Form gilt auch im Internet. Und als gutes Beispiele für eine so gewonnene Lesbarkeit möchte ich abschließend nochmals auf Susanne Berkenhegers Hilfe! verweisen, das gerade durch die Kongruenz von Inhalt und Form überzeugt. Michael Charlier hat in seiner Laudatio zum Ettlinger Literaturwettbewerb sehr richtig hervorgehoben, dass der Bildschirm der Lebensraum von "Hilfe!" ist und dass die Windows und Rahmen vor unseren Augen zu Personen werden, die miteinander reden und jeweils ihre eigene Geschichte erzählen.

© 2000 Reinhard Döhl/Johannes Auer