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Reinhard Döhl | Anatomie des Torsos

Was Ulrich Zeh seit Jahren beharrlich zeichnet, mit Bleistift und farbig, sind - will man thematisch zuordnen - Sportbilder, genauer: Bilder bestimmter sportlicher Disziplinen. Diese Bilder zeigen menschliche Körper in sportlichen Aktionen, halten typische Phasen sportlicher Bewegungsabläufe fest, fixieren Momente höchster Anstrengung und Konzentration bevorzugt beim Weit-, Hoch- und Stabhochsprung, beim Wechsel des Staffelholzes oder Überqueren der Hürden.

Aber diese Bilder zeigen den menschlichen Körper selten als Ganzes, und wenn, fast gesichtslos und entindividualisiert gegenüber einer wiederholt zugeordneten Grimasse von Publikum oder Funktionär.

Meist dominiert jedoch der Torso, werden Wade, Oberschenkel und Knie bevorzugt, ist der Körper auf das an der jeweiligen sportlichen Disziplin anatomisch gesehen wesentlich Beteiligte reduziert: die verkrampfte Muskulatur, die bis zum Zerreißen gespannten Sehnen, den Stau des Knies. Zeh geht - und das unterscheidet seine Zeichnungen wesentlich von den Sportbildern Genkingers - von der fotografischen Vorlage aus, von der korrekt skizzierten Kontur des Aktes.

Erst der Zeichnungsvorgang löst dann die Anatomie des sportlichen Bewegungsablaufes heraus, kann sie gelegentlich sogar bis an die Grenze der Karikatur übersteigern. Der Torso erscheint durch die Schraffur verkrampft, ein unnatürliches Fleischrot auf den Farbzeichnungen (in Korrespondenz zu daneben bevorzugten Grün und Blau) stellt die schöne Anatomie in Frage.

An Stelle des griechischen Augenblicks des menschlichen Körpers tritt das torsoartige Monstrum, der dressierte, chemisch gedüngte Homunkulus, in früheren Zeichnungen Zehs bezeichnenderweise eingesperrt in den Käfig der Perspektive, in einen perspektivischen Käfig. Die Spiegelung der beiden Staffelläufer auf der ersten Serigrafie dieser Mappe deutet die Undurchdringlichkeit solcher Käfigwände an.

Hier läßt sich vielleicht am leichtesten die kritische Intention Zehs erkennen: Im Einsperren des Torsos in den perspektivischen Käfig, in der Gegenüberstellung von Torso des Sportlers und Fratze des Funktionärs oder des Publikums, im Sichtbarmachen des Widerspruchs der angeblich schönsten Nebensache der Welt und der wirklichen Rolle des Leistungssports in der heutigen Gesellschaft.

Es bedarf nicht erst der biographischen Daten, um zu sehen, daß Zeh mit seinen Zeichnungen - auch hier ganz anders als Genkinger - eigene Irritationen zu formulieren versucht, daß er versucht, Formeln zu finden für das Unmenschliche der angeblich schönsten Nebensache der Welt, indem er als Künstler diesen augenscheinlichen Widerspruch zu seiner Hauptsache gemacht hat.

[Vorwort zur Mappe "edition 3. ulrich zeh" / Präsentation  in der Edition Camus, Stuttgart  15.1.1971. Nachdruck in: Ulrich Zeh. Stadt&Landschaft weiß. Hrsg. von R.D. Leutenbach: HSW Verlag 1985; ferner in: Ulrich Zeh. Sport Bilder. Hrsg. von R.D. Waldshut: Galerie am Wall 1986]