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Reinhard Döhl | Von Stadt & Landschaften sowie der schönsten Nebensache der Welt

Akademie und Universität | Auseinandersetzung mit dem Werk anderer Künstler | Künstlerfreunde | Munch, Beckmann, Bacon, Friedrich | Fantasy | Überwindung des 68er-Syndroms | Studienblätter und Studien | Härtsfelder Skizzenbüchlein und Weiße Bilder | Sportbilder

Akademie und Universität

Ulrich Zehs Ausbildung als Maler und Zeichner beginnt im Sommersemester 1965 auf der Freien Kunstschule Stuttgart, wird fortgesetzt im Winter- und Sommersemester 1965/1966 auf der Kunstakademie Karlsruhe und - nach dem dortigen Rausschmiß - seit dem Sommersemester 1966 an der Kunstakademie Stuttgart. Sie endet mit dem Staatsexamen als Kunsterzieher 1970/1971. Das wären Daten einer eher durchschnittlichen Ausbildung, wie sie häufiger in Katalogen erscheinen und eigentlich gar nichts besagen.

Auch die Namen der Lehrer, denen Zeh in dieser Zeit begegnet, Klumbies, Klemm (Karlsruhe), Yelin, Gollwitzer, Bachmayer, Haegele, Winkler, Fegers (Akademie), Sumowski, Zahlten (Universität Stuttgart), haben noch auf den zweiten Blick mit der Entwicklung Zehs zum Künstler wenig zu tun, mit einer Werkgenese, die so eigenständig verlief, wie die Ausbildung in ihr fast spurenlos blieb.

Gewiß: Aktzeichnen hat Zeh bei Gollwitzer, Radieren bei Winkler gelernt. Aber seine Arbeiten erfuhren, was manchen Umweg erspart hätte, an der Akademie nie eine vernünftige Korrektur. Der eigenwillige Ansatz, die besondere Begabung blieben unerkannt. Im Gegenteil: man verübelte Zeh das inhaltliche Interesse an

Edvard Munch, half ihm nicht, die formal-inhaltlichen Anregungen Francis Bacons, die mythologischen Gleichnisse Max Beckmanns eigenständig zu verarbeiten und umzusetzen, ließ ihn mit dem, was ihn wirklich berührte, allein.

Ohne Unterstützung durch seine Lehrer, ja in Opposition zu ihnen, war Zehs Ausbildung positiv lediglich dort, wo er bei Yelin den Freiraum zur Stabilisierung fand, oder in dem anekdotischen Erlebnis eines umgeworfenen Eimers mit auslaufendem, frisch angerührtem Gips, der Klemm den tadelnden Hinweis entlockte: "Warum rufen Sie mich nicht? Sehen Sie denn nicht, was sich
da tut?"

Auseinandersetzung mit dem Werk anderer Künstler

Was Zehs künstlerische Entwicklung stattdessen konturierte, war seine eigene, zunächst oft unreflektierte Auseinandersetzung mit dem Oeuvre oder einzelnen Arbeiten anderer Künstler, wobei neben den schon genannten Edvard Munch, Max Beckmann, Francis Bacon vor allem Caspar David Friedrich zu nennen wäre, der schon den Schüler Zeh fasziniert hatte, auf den der Student - bezeichnend genug - in einer kunsthistorischen Vorlesung Sumowskis wieder aufmerksam wurde.

Man könnte das bisher vorliegende Werk Zehs durchaus nach diesen Auseinandersetzungen ordnen, zum Beispiel eine Bacon-Phase in der ersten Hälfte der 70er Jahre von der dialogischen Auseinandersetzung mit Caspar David Friedrich unterscheiden, wobei jeweils weitere Anregungen hineinspielen, die Grenzen sich nicht immer scharf ziehen lassen. Formal werden diese weiteren Anregungen sichtbar in einer gelegentlich diffusen Farbigkeit, die auf William Turner verweist, inhaltlich und indirekt, wenn sich Zeh in einer seiner seltenen Selbstäußerungen, im Katalog zum Zyklus "Irgendwo liegt Kythera" auf Antoine Watteaus "Einschiffung nach Kythera" bezieht, ein Bild, auf das der Student wiederum in einer kunsthistorischen Veranstaltung Sumowskis aufmerksam wurde, zu der er selbst das Referat "Kunst als Utopie" beisteuerte.

In dieser Fülle von Anregungen und Auseinandersetzungen, von denen im einzelnen noch zu sprechen sein wird, kann die Produktion eines Künstlers auch ex negativo bedeutend werden, wenn zum Beispiel der ehemalige Leistungssportler Zeh seine ersten selbständigen Zeichnungen und Drucke in Opposition zu den Sportbildern Fritz Genkingers entwickelt, mit dem er andererseits den Einfluß Francis Bacons gemeinsam hat.

Künstlerfreunde

Neben dieser langfristigen Auseinandersetzung mit dem Werk, mit einzelnen Arbeiten anderer Künstler, die so umfassend ist, daß man im Falle Zehs statt von einer akademischen besser von einer autodidaktischen Ausbildung sprechen sollte, gewinnen schließlich noch zwei persönliche Begegnungen größeren Einfluß.

Das ist zunächst die Begegnung und Freundschaft mit dem Maler Wolfgang Ehehalt, die trotz oder vielmehr wegen des unterschiedlichen Temperaments der beiden Künstler, trotz unterschiedlicher Kunstauffassung bei allerdings vergleichbarer Intention seit der Stuttgarter Akademiezeit datiert und wiederholt zu gemeinsamen Ausstellungen (zuletzt 1985 in Hechingen), aber auch reizvoller Zusammenarbeit führte (vgl. die Mappen "landschaften (kein schönes land in dieser zeit)", 1974; "Zehehalt 2 - Protokoll Salmela - 61° 26' nB / 28° 8' öL", 1979).

Dann zählt hierher die Begegnung mit Günther C. Kirchberger, die 1968 genau in das Jahr fällt, aus dem sich die ersten eigenständigen Entwürfe Zehs erhalten haben. Erst in Folge dieser Begegnung hat Zeh in zahlreichen Gesprächen die Korrekturen, die zeichnerischen und malerischen Grundanregungen bekommen, die ihm seine akademischen Lehrer versagten.

Munch, Beckmann, Bacon, Friedrich

Soweit mir bekannt, haben sich die Autoren, die bisher über Zeh schrieben, außer der Namensnennung von Caspar David Friedrich, von William Turner und Francis Bacon, auf diese eigentlichen Lehrer Zehs, auf die Frage, was Zeh denn von ihnen gelernt habe, nie eingelassen. Das sei deshalb in Stichworten hier zum ersten Mal versucht.

Zehs expressiven Anfängen kam fraglos Edvard Munch, wenn dies auch bei einem in Süddeutschland geborenen Künstler zunächst überrascht, entgegen. Munchs Wirkung überrascht nicht, bringt man Zehs häufige Finnlandreisen, den Niederschlag, den skandinavische Landschaft in seinem Werk gefunden hat (u.a. "Protokoll Salmela", "Fluchtpunkt Niinisaari", "Irgendwo liegt Kythera"), in Anschlag. Eher oberflächlich ließen sich zum berühmten "Schrei" Edvard Munchs in den sprachlosen Gesichtern Zehs mit ihren herausgeschnittenen Mündern Entsprechungen finden. Wichtiger ist aber wohl Munchs Eigenart, seine Arbeiten in immer neuen Ansätzen bis zu dem Punkt zu treiben, wo das kompositorische Gerüst festliegt, um dann weiter in Variationen der Farbgebung dem kompositorisch einmal Festgelegten neue Ausdruckswerte abzugewinnen. Zehs Neigung zu zyklischem Arbeiten, das wiederholte Aufgreifen bestimmter Motive und ihrer Zuordnung auch über größere zeitliche Abstände hinweg sind hier sicher vergleichbar, aber auch, daß Zeh neuerdings seine Bilder als "malerisch offen" versteht, da man bei ihnen nicht mehr wie in früheren Zyklen sagen könne, die Arbeit sei abgeschlossen, das Bild fertig. Auch Munchs Diktum, "Ich male nicht, was ich sehe, sondern was ich sah", ließe sich bedingt für Zeh geltend machen.

Im Falle Max Beckmanns sind es, wie gesagt, vor allem die mythologischen Gleichnisse, die für Zeh anregend wurden. Nicht so, daß man konkrete Spuren von ihnen in den Zeichnungen und Bildern Zehs wieder auffinden knnte, wohl aber in Zustimmung der Auffassung Beckmanns, den Gegenwartsbezug des Bildes allgemeingültig machen zu müssen, im scheinbar unzeitgemäßen Bildgegenstand eine überzeitliche Aktualität gewinnen zu können. Das Ikaros-Thema, die Laokoon-Zeichnungen, Blätter des Kythera-Zyklus wären in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen, aber auch noch der zitierte "Diskuswerfer", der Zehs frühen Sportzeichnungen (und -drucken) eine weitere Bedeutungsschicht gewinnt.

Für Zehs künstlerische Entwicklung von größerem Einfluß war das Werk Francis Bacons, dem Kunst erklärtermaßen "mehr eine Methode" ist, "Gefühlsräume aufzutun als Gegenstände abzubilden", eine Einstellung, die das Diktum Munchs, nicht zu malen, was er sehe, sondern was er sah, ergänzt und darüber hinaus an eine Aufforderung Caspar David Friedrichs erinnert, das "leibliche Auge" zu schließen, "damit Du mit dem geistigen Auge zuerst sehest das Bild. Dann fördere zutage, was Du im Dunklen gesehen, daß es zurückwirke auf andere, von außen und von innen".

Daß ein Bild (ja sogar die Abbildung in einer Zeitung oder Illustrierten) Vorlage eines Bildes, einer Zeichnung sein können, hat Zeh möglicherweise von Francis Bacon gelernt. Vor allem aber haben die in einem Gerüst von Linien, von Käfigen oder Mauern eingefangenen Menschen Zehs in Arbeiten Bacons ihr Vorbild, ist das Thema der Unfreiheit ihnen von Francis Bacon vorformuliert. Und noch bei Zehs späteren Menschen vor oder in einer Landschaft sollte man nicht nur an Caspar David Friedrich denken, sondern auch an Bacons "Gestalt in einer Landschaft", deren Grauen erregende Kriegsthematik zu den architektonisch zerstörten Landschaften Zehs einen eigentümlichen Kontrapunkt setzt. Auch an Bacons "van Gogh in einer Landschaft" ließe sich denken. Überhaupt weist das Werk Bacons über die direkten Anregungen hinaus weitere zeitgenössische Parallelen auf, lassen sich zum Beispiel die mit van Gogh korrespondierenden Bilder aufschlußreich Ulrich Zehs "Hommage à Caspar David Friedrich" vergleichen.

Über die Dialog-Funktion Caspar David Friedrichs wird an anderer Stelle einiges angemerkt (vgl. Hommage à Caspar David Friedrich?), auf die Bedeutung von Antoine Watteaus "Einschiffung nach Kythere" bereits hingewiesen, so daß abschließend nur noch von William Turner zu sprechen bleibt, der schon für Günther C. Kirchberger Bedeutung gewann. Vor allem Turners diffuse Farbigkeit, ein dadurch mögliches Verschwimmenlassen der Kontur waren geeignet, Zeh über die sich auflösende, verschwimmende Farbigkeit der Baconschen Bilder zunächst zeichnerisch, dann auch malerisch hinauszuführen. Das wurde zum ersten Mal deutlich in den 25 Zeichnungen "frei nach" John Ronald Reuel Tolkiens "The Lord of the Rings" bzw. den Serigrafien "Im Schatten von Mordor". Das wird für die folgenden Nebel-Zeichnungen, für die Schnee-Bilder der letzten Jahre sogar bestimmend.

Fantasy

Zehs 25 Zeichnungen "frei nach" "The Lord of the Rings", die Serigrafien "Im Schatten von Mordor" signalisieren aber nicht nur mit ihrer schon an Turner geschulten Farbigkeit einen entscheidenden Schritt ins Malerische, sie stellen auch für ein zweites Problem der Werkgenese endgültig die Weiche. Zehs

autodidaktische Entwicklung verdankt nicht nur der Kunstgeschichte wesentliche Impulse, sie war noch einer weiteren Kunstart verpflichtet. Von Anfang an am Gegenstand interessiert, standen den Zeichnungen, Siebdrucken und Radierungen über lange Zeit auch literarische Inhalte Modell, so daß die Ergebnisse oft

eher einer Pictura retorica als einer Poesia tacens glichen (falls diese alte, zudem unüblich gemeinte Unterscheidung hier überhaupt erlaubt ist). Der Versuch, die literarischen Einflüsse thematisch zu ordnen, ergibt einen Fächer von der Science Fiction- über die Horror- zur Fantasy-Literatur, läßt das vorrangige Interesse an einer Literatur erkennen, in der Alltägliches bis Banales ins Makabre, ins Schreckliche, aber auch ins Fantastische, ins Märchenhafte überführt wird. Für solche Überführungen lassen sich in den frühen

und mittleren Arbeiten Zehs hinreichend Beispiele finden. Noch die 25 Zeichnungen "frei nach" "The Lord of the Rings", die Serigrafien "Im Schatten von Mordor" ließen sich als eine solche Überführung und zugleich Illustration von Literatur subsumieren. Aber mindestens die Hälfte dieser Zeichnungen/Serigrafien könnte auch - und das deutet ihren besonderen Stellenwert in der Werkentwicklung an - für sich alleine stehen. Es täte ihrer Qualität als Zeichnung/Serigrafie keinen Abbruch, hätte der Betrachter die drei Bände Tolkiens nicht gelesen. Im Gegenteil: eine Kenntnis der Geschichte, des Punktes, auf den der jeweilige Titel die Zeichnung bringt, engt nur ihren ästhetischen Freiraum ein, der in einzelnen Arbeiten bereits auf den Dialog mit Caspar David Friedrich (sogar zitierend in "Abschied von Mittelerde"), aber auch schon auf jene Arbeiten vorausweist, die Zeh Jahre später unter dem Titel "Das schweigende Land" zusammenfassen wird (z.B. "In den Wetterbergen", "Rohan").

Überwindung des 68er-Syndroms

Zeh hat in den letzten Jahren mehrfach davon gesprochen, daß er in den neueren Arbeiten sein 68er-Syndrom überwunden habe. Abgesehen davon, daß dieses Syndrom nicht Zehs Syndrom allein war, wird die Diagnose unter diesem Stichwort neben einer gelegentlich gesellschaftskritischen Überfrachtung der frühen und mittleren Arbeiten allgemein eine gedankliche Überfrachtung zusammenfassen und dabei berücksichtigen, daß die Zehs Entwicklung konturierende Auseinandersetzung mit seinen eigentlichen Lehrern eben auch eine gedankliche Auseinandersetzung war.

Beispiele gesellschaftskritischer Überfrachtung finden sich in den Zyklen der Sportzeichnungen und -drucke, der "Mauermenschen" und vor allem der "Denkmäler", Beispiele kunstgeschichtlicher Überfrachtung in unverarbeiteten Bacon-Allusionen, in dem Caspar David Friedrich gewidmeten Zyklus, Beispiele literarischer Überfrachtung in den Illustrationen einschließlich einiger Zeichnungen/Serigrafien zu "The Lord of the Rings" / "lm Schatten von Mordor". Und noch für den Zyklus "Irgendwo liegt Kythera" ließe sich allgemein von Gedankenillustrationen sprechen.

Aber von Anfang an gibt es neben solchen Gedankenillustrationen Arbeiten, die zeichnerisch, drucktechnisch, malerisch 'gelöst' sind, Bestand haben. Im Zyklus der "Mauermenschen" zum Beispiel neben den mit erhobener rechter Faust, Parolen grölend an einer Mauer vorbeimarschierenden 'Skinheads' den Kopf einer alten Frau, deren Gesichtsfurchen Zeh als Mauerfugen interpretiert hat, ein Frauenkopf übrigens, der noch einmal, ohne diese Interpretation, im Zyklus der "Isolationen" ("Bildnis einer alten Dame") begegnet: Tema con variazioni. Auf andere Beispiele eines solchen Nebeneinander von Gedankenillustration und 'gelöster' Zeichnung ("The Lord of the Rings" / "lm Schatten von Mordor", "Hommage à Caspar David Friedrich", "Irgendwo liegt Kythera") sei wenigstens verwiesen.

Verständlich wird diese Unausgeglichenheit der Zyklen aus der künstlerischen Entwicklung Zehs, aus der Rastlosigkeit und Ungeduld, mit denen er auf ästhetische Entscheidungen drängte. Doch läßt sich dies auch anders sehen, wenn man den jeweiligen Zyklus berücksichtigt, dem sie zugehören. Ein Grundzug der Zehschen Arbeiten ist seit den "Entwürfen" von 1968 ihre Dialektik, deren technische Entsprechung die Montage, also das Zusammenfügen heterogener Elemente, seien dies ästhetisches Zitat und zitierte Realität in der "Hommage à Caspar David Friedrich", zitierter Mythos und politische Wirklichkeit in den "Denkmälern" (spez. "Laokoon"), Landschaftsentwurf und Landschaftszerstörung in den "Gestörten Idyllen", geschlossener Raum und Freiheit der Phantasie ("Mauermenschen", "Isolationen"). In allen Fällen bedingt das eine das andere, wird das eine durch das andere erfahrbar (gemacht), wird - in der Addition der Arbeiten zum Zyklus - das Feld der Erfahrungen noch in Nuancen beschreitbar bis an die Grenze zwischen ästhetischer und gedanklicher Erfahrung und über sie hinaus.

Studienblätter und Studien

Drei Zyklen machen Mitte der 70er Jahre deutlich, wie sehr Zeh sich bemüht, vor dieser Grenze zu bleiben: die dialogische Auseinandersetzung mit dem Landschaftsmaler Caspar David Friedrich, die Zeichnungen "frei nach" "The Lord of the Rings" und eine größere Menge "Studienblätter" bzw. "Studien" seit 1975. Von ihnen wird man ausgehen müssen, will man die letzten drei Entwicklungsschritte Zehs, die "Gestörten Idyllen" (1977-1981) mit ihrer Lösung in den "Wasserzeichen" (seit 1984), den "Weißen Bildern" (seit 1981) und schließlich die Wiederaufnahme eines alten Themas in den "Sportbildern" (seit 1984) in ihrer Konsequenz verstehen.

So sehr die Zeichnungen "frei nach" "The Lord of the Rings", die dialogische Auseinandersetzung mit Caspar David Friedrich beachtet wurden (vgl. z.B. Ekkehart Rudolph und Winfried Roesner), so auffällig unbehandelt blieben die "Studienblätter" bzw. "Studien", obwohl ein Katalog von 1977 sechs von 1 bis 6 durchnumerierte Farb- und Bleistiftzeichnungen, drei Serigrafien und eine Aquatinta ausdrücklich als "Studienblätter" zusammenfaßt.

Versteht man eine diesen Arbeiten jeweils integrierte Farbskala als Wasserzeichen der "Studienblätter", wären ihnen noch die Mappen "Nebelstadtnebel" (1977) und "Trabantenstadt" (1978) mit jeweils 4 Serigrafien, die Aquatinta "Herbstnotiz" (1980) sowie weitere Einzelblätter in verschiedenen Techniken zuzurechnen.

In keinem Zyklus des Zehschen Werkes ist ein Entwicklungsschritt so deutlich zu studieren, wie in diesen "Studienblättern" bzw. "Studien". Versammeln die ersten 6 Farb- und Bleistiftzeichnungen (1975) noch jeweils Gesichts-, Tier-, Akt- und Interieurstudien im traditionellen Sinne der Skizze, die in ihrer Addition jeweils zum Bild zusammentreten, sind die ihnen 1976 folgenden Arbeiten zum Beispiel als "Studie über eine neblige Landschaft" oder "Studie über eine neblige Landschaft im Morgenlicht" ausgewiesen, ist in ihnen der Mensch, bisher in wenn auch reduziertester Form immer in Zehs Arbeiten vorhanden, aus dem Bild verschwunden. Gleichzeitig rückt die Stadt, zentrales Thema zahlreicher Arbeiten, in den "Studienblättern" bzw. "Studien" an die Peripherie, wird zum Landschaft begrenzenden Horizont ("Stadtlandschaft" / "Landschaft mit Stadt").

Daß auch im Dialog mit Caspar David Friedrich die Stadt an den Horizont rückt, daß in der "Landschaft mit Halbakt" dieselbe Frauengestalt erscheint wie in den "Studienblättern 5, 6", belegt die Entschiedenheit dieses Entwicklungsschrittes, aber auch seine Ambivalenz. Denn was im Gespräch mit Caspar David Friedrich (aber auch in den Zeichnungen "frei nach" "The Lord of the Rings") gleichsam noch kunst- und entwicklungsgeschichtlich rückblickend geschieht, wendet sich in den "Studienblättern" bzw. "Studien" entschieden nach vorne.

Nicht von ungefähr betonen sie mit ihren integrierten Farbskalen die 'Künstlichkeit' der Zeichnung, verweisen "Studienblatt" oder "Studie" im Titel auf das Atelier als den Ort der Skizze, des Entwurfs, der Erprobung zum Beispiel einer neuen Farbigkeit. Gleichzeitig spiegeln die integrierten Farbskalen durch ihre Verweisfunktion, die künstlichen Bildeinschnitte durch ihre Störfunktion auch formal den inhaltlichen Bruch, der im Übergang von der Menschen- zur Landschaftsskizze ohne Menschen vollzogen wird.

Für mich jedenfalls sind diese "Studienblätter" bzw. "Studien", gerade auch wegen ihres Ateliercharakters, der entschiedene Schritt Zehs von den frühen Arbeiten, die eher inhaltlich bestimmt waren, zu Zeichnungen und bezeichnenderweise zunehmend auch Bildern, die zeichnerisch/malerisch bestimmt sind, in denen zeichnerischelmalerische Probleme gleichberechtigt neben die inhaltliche Aussage treten, wobei die Durchführung das Thema und das Thema die Durchführung bestimmen.

Daß sich ein solcher Schritt nicht von heute au morgen vollziehen ließ, zeigen vor allem die unter der Überschrift "Gestörte Idyllen" zusammengestellten Arbeiten der Jahre 1977-1981. Wie in den "Studienblättern" bzw. "Studien", aus denen sie entwickelt sind, dienen in "Nebelstadtnebel", "Trabantenstadt" und anderen Arbeiten dieser Jahre integrierte Farbskalen, künstliche Einschnitte der

Störung. Fehlen sie, sorgen Landschaft durchschneidende Schnellstraßen, die Silhouette eines Atomkraftwerks dafür, daß beim Betrachter nicht der Eindruck falscher Idyllik, einer Flucht in die Idylle entsteht ("Idyllen", 1978). Wird der Idyllenbruch zu deutlich ("Fluchtpunkt Niinisaari", 1979; "Irgendwo liegt Kythera", 1981), gilt das zu Gedankenillustration Angemerkte, erfolgt fast der Rückfall auf eine inzwischen überwundene Entwicklungsstufe. Zeh mußte deshalb, wollte er diese Gefahr meiden, seine in den "Studienblättern" und "Gestörten Idyllen" gewonnene Position noch einmal bestimmen.

Härtsfelder Skizzenbüchlein und Weiße Bilder

Steht die schon erwähnte Aquatinta "Herbstnotiz" von 1980 mit ihrer vertikal integrierten Farbskala und zwei künstlichen Bildeinschnitten noch deutlich im Umfeld der "Studienblätter" bzw. "Studien", weist die aus gleichem Anlaß entstandene dreifarbige Aquatinta mit Kaltnadel, "Winterlandschaft", bereits auf das "Härtsfelder Skizzenbüchlein" (1981) voraus und ist zugleich über ihre Vorlage, die "Landschaftsstudie 15" (1978) mit den "Studienblättern" verbunden.

Entwicklungsgeschichtlich kann demnach das "Härtsfelder Skizzenbüchlein" durchaus als ein Ergebnis der "Studienblätter" gesehen werden. Zugleich ist es aber "der noch 'naturalistische' Ausgangspunkt und Schlüssel" (Karl Diemer in Stuttgarter Nachrichten, 16.12.1982) für eine Reihe von Zeichnungen und vor allem Bildern, die ein Katalog 1982 unter die Überschrift "Das schweigende Land" gestellt hat. Schweigen meint dabei nicht jene Stille, für die Hans Arp befürchtete, daß von ihr bald nur noch wie von einem Märchen erzählt werden könne. Es meint auch nicht jenes eher meditative Schweigen, das in den 50er Jahren so unterschiedliche Künstler wie Eugen Gomringer, Günter Eich oder John Cage der Hektik entgegenzusetzen versuchten. Das Schweigen der Bilder Zehs ist das frostige Schweigen einer neuen Eiszeit, auf die Künstler und Betrachter sich einzurichten haben. Um dies zu zeigen, bedürfen Zehs "Weiße Bilder" weder des inhaltlichen (Zeichenwelt der technischen Zivilisation) noch des formalen Bruchs (künstliche Bildeinschnitte, Farbraster). Der Maler kann sich auf die Flecken in dieser Schneelandschaft, die Taustellen, Grasspuren, Zaunstümpfe und Wegandeutungen verlassen, die durchaus hinreichen, winterlicher Idyllik den Garaus zu machen. Zugleich gewinnt er im unterbrochenen Weiß, bei dem offen bleibt, ob es der Wind war, Tauwetter oder wieder einsetzender Frost ohne schützenden Schneefall, eine Ambiguität, die den "Gestörten Idyllen" noch nicht eigen war.

Es ist bei der hohen Abstraktion dieser "Weißen Bilder" wie der etwas späteren "Wasserzeichen" gar nicht einmal sicher und wichtig, ob es wirklich Erdscholle und Schneefläche, Binse und Wasserfläche sind, die den Betrachter faszinieren und erschrecken. Als "Schneelandschaft mit Farbfleck" hat Max Bense 1982 diese Bilder Zehs an der Grenze zwischen zitierter Natur und ästhetischer Abstraktion auf die Formel gebracht und von ihren "ästhetischen Zuständen", ihren "Schönheiten" gesprochen. Das aber sind Kriterien für Malerei, nicht für ihre Inhalte.

Sportbilder

Genau an dieser Grenze zwischen zitierter Realität und ihrer ästhetischen Abstraktion kann Zeh es 1984 auch wagen, noch einmal sein erstes Thema, die Sportzeichnungen, wieder aufzugreifen. Damit schließt sich kein Kreis. Vielmehr ist jetzt, da Zeh alles das weglassen kann, was einen Bestandteil ihrer ursprünglichen Dialektik ausmachte (= die Hürde, das Hindernis, den Käfig, in den der Sportler eingesperrt ist) und damit die Baconschen Eierschalen endgültig abstreift, der Weg frei für eine neue Dialektik von abgebildeter Realität (Sport) und der ästhetischen Realität des Bildes. Erst jetzt entstehen in einem eigentlichen Sinne des Wortes "Sportbilder".

[Aus: Ulrich Zeh. Stadt&Landschaft weiß. Hrsg. von R.D.  Leutenbach: HSW Verlag 1985]