Reinhard Döhl | Von der ZUSE Z 22 ins WWW oder Ein wenig populäres Kapitel Stuttgarter Literaturgeschichte.

Stuttgardien Poet's Corner | Als Stuttgart Schule machte | Stuttgarter Internetprojekte

1. Stuttgardien Poets' Corner - Stuttgarter Poetenwinkel

Wer sich im Internet nach Stuttgart und Literatur umtut und in eine Suchmaschine z.B. die Begriffe "Stuttgart" und "Poet" eingibt, erhält bei einer Google-Suche als 43. Nachweis:

Stuttgardien Poets' Corner - Stuttgarter Poetenwinkel - ...
Für den Poetenwinkel müssen Sie JavaScript aktivieren. Laden Sie dann die Seite
neu... Stuttgarter Poetenwinkel / Stuttgardien Poets' Corner'le. ...
www.stuttgart.de/stadtbuecherei/poetscorner/ - 7k - Im Archiv - Ähnliche Seiten
Dieser Stuttgarter Poetenwinkel ist das Ergebnis einer der eher seltenen Stuttgarter DichterStammTischRunden, in der wieder einmal das kulturelle Kurzzeitgedächtnis der Stadt beklagt aber auch der Brief eines exilierten Stuttgarters verlesen wurde, der wenigstens aus der Ferne den kulturellen Kontakt nicht ganz verlieren wollte. Er hatte beispielhaft darauf gewiesen, daß Wilhelm Raabe noch in der Braunschweiger Zeit Kontakt zu seinen Stuttgarter Freunden gehalten habe.

Die Folge war die Einrichtung eines virtuellen Stuttgarter Poetenwinkels, der dreierlei sein möchte,

Wobei es im Internet leicht fällt, Verbindungen herzustellen zwischen Lebenden und Toten, Einheimischen und Vertriebenen, Reingeschmeckten und Durchgereisten, Freunden und Feinden. Was auf diese despektierlich respektierliche Weise entstehen könnte, ist vielleicht eine unbekannte und unvertraute, mit Sicherheit aber eine durchaus vorzeigbare Seite Stuttgarts.

Wer Irene Ferchls verdienstvollen "Literarischen Wegmarken in der Bücherstadt" gefolgt ist und keinen Hinweis auf Georg Rodolph Weckherlin bekommen hat, der, am Rathausplatz geboren, das barocke höfische Stuttgart in jeder ernst zu nehmenden Literaturgeschichte vertritt, wird im "Poet's Corner'le" durchaus fündig:

Und wenn der dieser Art fündig gewordene Benutzer die "7 Epigrammaten" auswählt, wird er sieben Epigramme lesen können, von denen jedes für sich eine kleine Preziose ist. Mir geht es vor allem um das zweite und dritte Epigramm dieser Auswahl.
Von und zu mir selbs. (2)
Zu rück / fort mit dir hinweg Herrlin /
Dan wan der fuhrman selbs unnd satler den raht geb /
Wird er sein / daß nicht lang der Weckherlin hie leb;
   So zeuch nu wider hin weg kherlin.
Wie viele ihm folgende, in Stuttgart geborene oder lebende Dichter - ich nenne als bekanntere Namen der letzten Zeit stellvertretend Hermann Lenz und Helmut Heißenbüttel - stand auch Georg Rodolph Weckherlin vor der Frage: Stuttgart verlassen, ja oder nein. Er hat bekanntlich und ist nach London gegangen. Was dieses Epigramm darüber hinaus interessant macht, ist seine sprachspielerische, spätere konkrete Buchstabenspiele antizipierende Anlage. Beides hat uns bewogen, dieses Epigramm ins Poet's Cornerle aufzunehmen und dem Besucher des futuristischen leses@alons als einen frühen Beleg für Stuttgarter Sprachspiele kenntlich zu machen.

Im Falle des folgenden Epigramms

Von dem Schwaben Hanß Latzen.
Hanß laufft dear Graita noh ell tritt /
Vnd wills haun: Ischt er nit gscheid gnuog.
Grait will da Hanßa kurtz umb nitt /
Ischt suy nit gescheidar / liebar luog?
ging es uns um einen, wenn nicht den frühesten Druckbeleg einer schwäbischen Dialektdichtung, deren heutige Ausformung vor allem durch Helmut Pfisterer und Peter Schlack selbstverständlich im Poet's Corner'le gebührend vertreten ist aber auch in den Stuttgarter Internet-Projekten noch einmal begegnen wird.

Da Johannes Auer und ich, tatkräftig durch die Sprechergruppe "Wortissimo" unterstützt, das Poets' Corner'le im Oktober1999 bereits vorgestellt haben, muß ich uns nicht wiederholen, sondern lediglich rekapitulieren, daß das Poet's corner'le konzipiert ist als ein work in progress aus Texten aller in Stuttgart geborenen und/oder verstorbenen, kurzfristig oder länger anwesenden aber auch vertriebenen Autoren, als eine offene und variable Anthologie der Stuttgarter Schriftkultur,

Ich verlasse das Poet's corner'le für eine Stippvisite in "Albrechts [unlängst eröffneter] Netz-Galerie". Dieses Exponat will, wie das Bild einer Ausstellung, zunächst erst einmal [beim Scrollen] betrachtet und gelesen werden. Ausgangspunkt war ein wahrscheinlich jedem Stuttgarter geläufiges Plakat, das nach dem großen Waldbruch von 1999 forderte: "Verwenden Sie mehr deutsches Holz!". Und das vier Personen zeigte, die je einen der Buchstaben W A L D in der Hand hatten.

In Analogie zu einem konkreten "Wand"-Text von Kurt Schwitters wurden diese 4 Buchstaben und mit ihnen der Wald aus dem Plakat herausgeschnitten, auf unterschiedliche Weise mit Hilfe des Computers bearbeitet und spielerisch als die Pictura eines Emblems neu zusammengesetzt.

Ein Emblem, beliebte kunstübergreifende Gattung des 15./16. Jahrhunderts, besteht aus einem Lemma, einer Überschrift [im konkreten Fall: "Der Wald. Kein deutsches Requiem"], einer Pictura, einem Bild, das diese Überschrift illustriert [im konkreten Fall als visuellen "WALD"-Text] und einem Gedicht, das diese Pictura ausdeutet [hier im Zitat epigrammatischer Zweizeiler:

Nec frondem in silvis nec aperto mollia prato
Gramina nec pleno flumine cernit aquas
und Man sieht oft, wie Herr Wieland spricht,
den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ersteres ist der "Tristia" Ovids entnommen und würde in Übersetzung lauten: Weder die Blätter im Wald noch auf sonniger Wiese das zarte
Gras noch im strömenden Fluß weiß er das Wasser zu sehn.
Letzteres stammt von Aloys Blumauer [Pseudonym: Auer], der die Urheberschaft der Redensart "den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen" Christoph Martin Wieland zuweist, dessen entsprechender Zweizeiler Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht
sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht
in der Subscriptio ausgepart bleibt.] Auch weitere zwischen Incscriptio, Pictura und Subscriptio vorhandene sichtbare/lesbare kleine Widersprüche (Sprünge) sind durchaus beabsichtigt und möchten den Leser von gedankenlosem Vorbei-Surfen abhalten.

Mein nächstes Beispiel ist die Permutation

ein Text, der, ursprünglich als zweisprachiger Kommentar zu Pinselzeichnungen entstanden, ein umfangreiches "Mallarmé-Projekt" von 1989/1990 abschloß. Was der Druck, der nur eine lineare Version der Permutation bieten konnte, nicht leistete, ist für den Netzleser möglich: ein variables Durchspielen der permutationellen Varianten.

Seit über dreißig Jahren begleitet meinen "Apfel" ein Kurzschluß, der allenfalls den Wurm im Apfel sieht, dabei aber nicht einmal die Bedeutung der zuständigen Redewendung ("da ist der Wurm drin") reflektiert, geschweige denn gegenwärtig hat, daß Äpfel, Wurm und/oder Schlange in der Mythologie in der Regel Verhängnisvolles zur Folge zu haben pflegen: den Trojanischen Krieg z.B., die Vertreibung aus dem Paradies, so der Baum der Erkenntnis überhaupt ein Apfelbaum war, und anderes mehr.
http://auer.netzliteratur.net/worm/applepie.htm

Wenn in "Worm Applepie" der vollgefressene Wurm sich zu seiner ursprünglichen Größe zurückverdaut, karikiert er in der endlosen Wiederholung des Vorgangs unter anderem diesen Kurzschluß. Daß Johannes Auer das andere auch und zustimmend gesehen hat, belegt eine einschlägige Postkarte (mail art), die einen Apfel abbildet mit der Zuschrift: "Drei Stunden später begann der dritte Weltkrieg".

Die bisher gezeigten Beispiele gehören in einen Kontext, den ich als nächstes zu skizzieren habe:

2. Als Stuttgart Schule machte

Als sich im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Als Stuttgart Schule machte" 1994 hier in diesem Hause Wissenschaftler und Künstler zu einem "Symposium Max Bense" zusammenfanden, diente ihr Treffen natürlich der Erinnerung an Max Bense, ging es retrospektiv aber auch um die Hervorbringungen und Besonderheiten der Stuttgarter Gruppe/Schule. Ging es - in Stichworten: Auch das ist in diesem Hause bereits ausführlicher referiert und diskutiert worden [< "Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst. Ein Überblick" (1996) / < "Stuttgarter Gruppe oder Einkreisung einer Legende" (1997)] und muß entsprechend nicht wiederholt werden.
1996 haben Johannes Auer und ich damit begonnen, die Beiträge dieses Bense-Symposiums in Form eines Internet-Readers ins Netz zu stellen und sie dabei schrittweise zu ergänzen, zum Beispiel durch die Aufnahme eines Essays mit Beispielen "Stochastische[r] Texte" des Mathematikers Theo Lutz aus dem Jahre 1959. In diesem Essay, an seinen Beispielen läßt sich nach- und ablesen, was wenigstens für mich damals zu einer Art Weichenstellung wurde, nämlich daß die "ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen eine Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten böten" bei denen es "nicht entscheidend" sei, "was die Maschine" tue, "wichtig [dagegen], wie man die Funktion der Maschine interpretiere".

Die Stuttgarter Gruppe/Schule "interpretierte"wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher [zu Francis Ponge etwa oder zu Hans Arp] herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte; sie "interpretierte"aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, "mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben."

Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Resultat,  das Ergebnis hatte für uns aber den Wert einer Inkunabel "künstlicher Poesie", die Max Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der "natürlichen Poesie" unterschied.

1996 starteten wir aber nicht nur die Edition des Internet-Readers "Als Stuttgart Schule machte", sondern wir begannen infolge dieses Symposiums kurze Zeit später auch, in der Tradition früherer Stuttgarter Experimente (Computertext und -grafik; konkrete und visuelle Poesie) die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben,

Ich habe dies innnerhalb des Internet-Readers "Als Stuttgart Schule machte" in dem Essay "Vom Computertext zur Netzkunst" ausführlicher dargestellt und rekapituliere lediglich ein paar mir im heutigen Zusammenhang wichtige Punkte:

Grundsätzlich unterschieden und unterscheiden wir zwischen

Dabei gingen und gehen wir aus vor allem von visuellen und akustischen Texten nicht nur der konkreten Poesie, wie sie bereits um 1920, insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch auch in Stuttgart erprobt wurden. Diese lassen sich nach unserem Verständnis nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich noch einmal die Permutation "Tod eines Fauns" wie jede Art von Textaleatorik - für diese Möglichkeit der Realisierung geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder -skript. Die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft; die bereits gezeigten Beispiele aus dem Poet's Corner'le deuten sie nur an.

Diese und andere in unseren Augen bereits produktive, mit Stuttgart bzw. der Stuttgarter Gruppe/Schule verbundene Internet-Beiträge entstanden wie unsere größeren Internet-Projekte oft aus aktuellen Anlässen, so zum 50. Todestag Gertrude Steins oder zum 75. Geburtstag und dann überraschenden Tode Helmut Heißenbüttels:

Öffentlich vorgestellt wurden die beiden Projekte als work[s] in progress erstmals am 5. Juli 1996 in der "Alten Schmiede" in Wien anläßlich eines Podiums mit den Grazer Initiatoren des "Taxis"-Projekts, danach auf der CEBIT in Hannover, im Goethe-Institut Osaka und anderen Orts.

Ich beschränke mich heute auf einige grundsätzlichere Anmerkungen. Und die betreffen zunächst das weitverbreitete Vorurteil gegenüber dem Internet als einer inzwischen unübersehbaren und überlasteten Datenautobahn. Ein derart lediglich reproduzierender, schwachsinniger Gebrauch des Internets interessierte uns nicht. Wir wollten im Gegenteil das Internet produktiv nutzen für einen international offenen, ästhetischen Dialog unter Künstlern, die keine Berührungsängste bei der Arbeit mit dem Computer haben. Und hier boten sich 1996 der 50. Todestag Gertrude Steins und der 75. Geburtstag Helmut Heißenbüttels an für den gemeinsamen Bau eines "Epitaphs" bzw. einer "Fastschrift". Anders gesagt: wir wollten aus konkreten Anlässen einen internationalen ästhetischen Dialog provozieren mit einem nur im Internet möglichen spielerischen Verlauf.

Ein Vergleich hilft erklären. Etwa gleichzeitig mit unserer "Fastschrift" setzte Radio Bremen ein "Helmut Heißenbüttel Magazin" ins Netz, das in dieser Form zu großen Teilen wohl auch gesendet wurde. In diesem "Magazin" findet der Internet-Benutzer nacheinander ein Aquarell Heißenbüttels, biobibliographische Daten, die schriftliche [!] Wiedergabe eines Gesprächs, das Hermann Rotermund am 2.3.1984 in Borsfleth mit Heißenbüttel geführt hat, den Text des Hörspiels "Krazykatz Bremenwodu" und schließlich ein "Gedichtgedicht", das der Internet-Leser, wenn er die richtige Software hat, auch hören kann. Das alles ließe sich, bis auf den Ton, genauso gut drucken oder kopieren, was wir aus archivalischen Gründen denn auch getan haben.

Das aber wäre bei der Stuttgarter "Fastschrift" mit Nachruf allenfalls partiell und nur für einzelne Beiträge noch denkbar. Denn die meisten Beiträge sind so miteinander vernetzt, daß der Benutzer die Lesemöglichkeiten des Internets und seiner Schreib- und Lesemaschine, des Computers ausschöpfen und sich clickend, d.h. in Sprüngen und gegen die traditionellen Lesegewohnheiten, durch die verschiedenen Ebenen von "Fastschrift" und "Epilog" hindurchbewegen muß. Die "Fastschrift" mit "Epilog" bilden also nicht mehr die traditionelle Versammlung von Beiträgen anäßlich..., die man, falls überhaupt, Seite für Seite umblätternd, linear liest, sondern sie sind instabil, eher so etwas wie ein Mobile, in dem sich auch Teile einzelner Beiträge lesend und/oder betrachtend miteinander verbinden lassen, z.B.

Als das Entscheidende aber kommt neben den horizontalen und vertikalen Lesemöglichkeiten die grundsätzliche Offenheit dieser Projekte hinzu, die Möglichkeit für dem Benutzer, jederzeit an jeder von ihm gewünschten Stelle mit eigenen Beiträgen in den Dialog produktiv eintreten zu können. So anläßlich des 50. Todestages Gertrude Steins, die als "Mutter der Moderne" auch für die Stuttgarter Gruppe/Schule eine bedeutende Rolle gespielt hat. [< "Gertrude Stein und Stuttgart"] Gertrude Stein haben wir allerdings nicht nur ein virtuelles internationales "Epitaph" im Internet errichtet, sondern dieses zugleich mit einer konkreten Ausstellung, dem "Memorial Gertrude Stein" in der Galerie Buch Julius, verknüpft, dergestalt, daß das "Epitaph" auch Teil des "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des "Epitaphs" setzte.

Diese Verbindungsmöglichkeit von Internet-Präsenz und konkreter Ausstellung haben wir in der Folgezeit wiederholt in unterschiedlicher Form genutzt, zuletzt kommentierend im Rahmen der Konstanzer Veranstaltungsreihe "Text sucht Bild", mit einem selbständigen Ausstellungsteil, oder 1999 im Rahmen der Max Bense gewidmeten Ausstellung "Kunstraum / Sprachraum / Internet" in Uelzen.

3. Stuttgarter Internetprojekte

Wer sich im Internet nach Seiten mit Hypertexten, nach Hyperfiction umsieht, wird wahrscheinlich auch auf diese Seite stoßen

Auf ihr fände er nahezu vollständig Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß auf den diesjährigen "Solothurner Literaturtagen", auf denen die Netzliteratur einen Schwerpunkt bildete, Johannes Auer und ich [< "Text - Bild - Screen // Netztext - Netzkunst"], zusammen mit der gebürtigen Stuttgarterin Susanne Berkenheger diese Literatursparte vertreten haben [< Pressespiegel], auch wenn in den Stuttgarter Zeitungen darüber nichts zu lesen war. Susanne Berkenheger übrigens mit einem Projekt, das sie vor Jahr und Tag an dieser Stelle bereits durchgespielt hatte.

Mit der Vorstellung von vier auf der Seite der Stuttgarter Internet-Projekte verzeichneten Netztexten möchte ich meinen Überblick abschließen. Ich beginne mit "AVANTGARDEZ VOUS", den von Klaus Schneider angezettelten

einem Textunternehmen zu e-mail-Bedingungen, einem Schreib-Experiment, bei dem der Grundtext des Autors, in zwei
getrennten Linien, sukzessive von anderen Autoren bearbeitet, ergänzt oder dekonstruiert wurde: als doppelter Kettenbrief gewissermaßen zu den Kommunikationsbedingungen des Internets.

Die Eingangsseite läßt das Procedere ablesen. Ein Text Klaus Thalers [d.i. Klaus F. Schneiders] wurde in entgegengesetzte Himmelsrichtungen verschickt, nach Westen an Martina Kieninger in Uruguay, nach Osten an Reinhard Döhl, der damals eine Gastprofessur in Jerusalem innehatte. Von Martina Kieninger und Reinhard Döhl aus gingen die Antworten, jetzt ohne vorgeschriebene Himmelsrichtung, weiter an frei wählbare Adressaten, im Fall Martina Kieningers an Bastian Böttcher, in meinem Fall an Susanne Berkenheger, deren weitergeleitete Textfassungen allerdings bisher ohne Antwort geblieben sind. Ein Beleg auch dafür, daß nicht alle Projekte sich auch wirklich abschließen lassen.

Ich erwähne im Vorbeigehen, daß Martina Kieninger und Bastian Böttcher ebenfalls in den letzten Jahren im Stuttgart Station gemacht haben, und hebe als das für mich Entscheidende dieser "Kettenmails aus der Badewanne" hervor, daß in ihrem Fall der Dialog zwischen einem Ausgangstext und einem Leser/Autor stattfindet, der mit einem eigenen, fortgeschriebenen Text auf die Vorlage reagiert und seine Version des Textes jetzt einem weiteren Leser/Autor zur Reaktion und Redaktion überläßt, der mit einem eigenen, fortgeschriebenen Text auf die Vorlage reagiert und seine Version des Textes jetzt undsoweiter.

Wobei es sicher auch Sinn macht, hier an den Briefroman und seine Spielformen zurückzudenken, in deren Tradition sich diese Kettenmails ja ebenfalls lesen ließen, wie überhaupt das Netz die Chance einer neuen Briefkultur böte, wenn die Teilnehmer nur wollten. Ansätze sind - wie ich hier unlängst im Rahmen der Ausstellung "Korrespondenzen - 1000 Jahre, 100 Briefe" vorgetragen habe [< "Von Briefen und andern schriftlichen Lustbarkeiten"]- durchaus vorhanden.

Meine nächsten Beispiele gehören zu dem unter tatkräftiger Stuttgarter Mithilfe entstandenen offenen TanGo-Projekt Martina Kieningers

und stellen zugleich drei unterschiedliche Möglichkeiten der Nutzer- bzw. Leseraktivierung, eines Autor-Leserdialogs vor. Dabei steht das das ich hier aus technischen Gründen nicht durchspielen kann, stellvertretend für weitere Stuttgarter Textspiel-Experimente. Denn sowohl haben wir Texte zum Verändern in Echtzeit bereitgestellt.

Zum TanGo-Projekt standen dabei drei Basistexte zur Auswahl,

So blieb als Textvorgabe schließlich ein einfaches Mesostichon: Tanga oder Paris
Anfang
November
Gehen die Uhren nach
Oder Tango
Paris das
Reimt sich wie
Orte und Treibsand
Südlich der Milchstraße
Paris meine Liebe
Einmal noch - c'est
Kif-kif - noch einmal
Tango im Tanga.
Dieses Gedicht ist von Frank Amos so programmiert worden, daß der Internet-Nutzer Zeile für Zeile ändern kann, aber auch so, daß wir nicht nur die Namen der Mitschreiber und oft auch ihre Adressen erhalten, sondern daß die Textzustände dokumentiert bleiben und abgerufen werden können. Ich zeige den letzten Textstand, zitiere aber als Beispiel einen der meiner Meinung nach spannendsten Textzustände vom 28.4.1998, einmal als reinen Text, ein zweites Mal mit Nennung seiner realen oder in seinem Fall (meist) fiktiven Autoren: hab sonne im herzen
und vollmond überm bärensee.
mehr wäre dazu nicht zu sagen
am horizont erscheint
verführerisch der morgenstern
tango im tanga
keine hoffnung auf donnerstag
freitags fisch
die schwänze sind auch nicht mehr
was sie leipzigeinundleipzig mal waren
überhaupt zählen rücklage und rückschritt
eher zu den fußnoten im brehm
und zum kleinen einmaleins
konsperativ [sic, R.D.] im ursprung
wie sonne im herzen
aber sie dreht sich doch
und das bei diesen temperaturen

#

hab sonne im herzen [caesar flaischlen]
und vollmond überm bärensee. [fred wiesen]
mehr wäre dazu nicht zu sagen [helmut heißenbüttel]
am horizont erscheint [derselbe]
verführerisch der morgenstern [die heiligen drei könige]
tango im tanga [melusine]
keine hoffnung auf donnerstag [freitag]
freitags fisch [melusine]
die schwänze sind auch nicht mehr [lichtenberg]
was sie leipzigeinundleipzig mal waren [sächsischer biederkopf]
überhaupt zählen rücklage und rückschritt [der pfuinanzminister]
eher zu den fußnoten im brehm [günter eich]
und zum kleinen einmaleins [hilbert]
konsperativ im ursprung [detlef biehn]
wie sonne im herzen [caesar flaischlen]
aber sie dreht sich doch [doris ernst]
und das bei diesen temperaturen [wetterfrosch].

Daß der vorgegebene Text im Laufe der Zeit im positiven wie mehr im negativen Sinne den Anspruch wechseln würde, war uns bewußt. Spannend blieb, was die Veränderungen ablesen ließen. Ich fasse einige unserer Beobachtungen zusammen. Trotz solcher Ausnahmen haben uns die Erfahrungen mit diesen "Textspielen" das anfängliche Vertrauen in eine kollaborative Autorschaft fürs erste gründlich ausgetrieben, so daß wir heute, ähnlich übrigens wie Susanne Berkenheger, vom "gesteuerten Leser" ausgehen, überzeugt davon, daß es im Willen des im Internet veröffentlichenden Autors liegt, wie weit er dem Leser bei der Lektüre freie Hand geben will, was die Frage nach der vielbeschworenen "Interaktivität", die wir lieber "Dialog" nennen würden, einschließt.

Keinerlei Eingriffsmöglichkeiten in den Text zugestanden haben wir dem Leser z.B. beim

Die Produktion des Pietistentangos, wie das ganze "TanGo"-Projekt war von einer mailart-Aktion begleitet, die anläßlich der Projektvorstellung im Dezember 1998 im Goethe-Institut in Montevideo dokumentiert wurde. In meinem Fall enthielten die Karten an Johannes Auer alle möglichen sinnvollen Buchstabenkombinationen des Worts "Pietisten": z.B. "ist, piste, pisten, stein, steine, niest, nest, pest, pein, pst, psi, sein, ein, nie, ei, niete" undsofort. Diese Buchstabenkombinationen treten in der Realisation in 6 Spielfeldern, die den 6 Silben des Wortes "Pi-e-tis-ten-tan-go" entsprechen, zu wechselnden zufälligen Konstellationen zusammen, und zwar in einem Rhythmus, der dem "Schritt, Schritt, Wiegeschritt" des Tango entspricht.

Gleichzeitig sind die 6 zwischen Schwarz und Weiß wechselnden Spielfelder besetzt mit den Wörtern "urbs" (2mal), "niger", "umbra", "umbrae" und "vitae", die von oben nach unten gelesen folgende Kombinationen ergeben:

Wenn man so will, laufen beim "Pietistentango" also zwei Texte gegeneinander, die sich kommentieren, die sich aber auch, wenn man versucht, lediglich den Vorgang auf dem Bildschirm wirken zu lassen, unambitioniert als kinetische Kunst auffassen lassen, da der "Pietistentango" in seiner Konzeption zwischen Text und Bild angelegt ist und folglich an beidem teil hat. In Buchform ist er überhaupt nicht mehr denkbar. Daß er dennoch jetzt zusammen mit anderen Stuttgarter Internet-Projekten auf einer CD-ROM im Zürcher update-Verlag erschienen ist, spricht in meinem Verständnis genau so wenig dagegen, daß es sich hier um einen genuinen "Netztext", um "Netzkunst" handelt, wie ein auf Bildträgern aufgezeichneter Film, ein auf Tonträgern aufgezeichnetes Hörspiel gegen Film und Hörspiel sprechen. Ich füge auf Grund einer Diskussion der letzten Woche hinzu, daß es wahrscheinlich nicht allzu schwer wäre, dem "Pietistentango" Zugänge für einen aktiven Leser einzuprogrammieren, womit er sich dann auch mit anderen Schritten tanzen ließe, als Johannes Auer und ich vorgegeben haben. Wobei uns aber - wie schon gesagt - die Erfahrung mit den "Textspielen" gewarnt hat, daß es hier schnell zu Qualitätsprüngen kommen würde, in der Regel nach unten.

Mit "Textspielen" haben wir in Stuttgart aber auch in anderer Form experimentiert, darunter - und analog zu populären Computerspielen - mit Spielen, die sich nur reproduktiv spielen lassen. Für sie nenne ich das in der Tradition japanischer Kettengedichte konzipierte

Hinter diesem Schachbrett verbergen sich acht Texte, die sich aus jeweils acht Vierzeilern zusammensetzen, die von jeweils zwei Autor(inn)en gemeinsam (je zwei Zeilen umschichtig) in ihren Nationalsprachen geschrieben wurden: deutsch (Carmen Kotarski / Reinhard Döhl) / englisch (Sibyll Beth / William Jackdaw) / französisch (Ilse und Pierre Garnier) / japanisch (Hiroo Kamimura / Syun Suzuki) / russisch (Wjatscheslaw Kuprijanow / Alexandr Nitzberg) / schwäbisch (Helmut Pfisterer / Peter Schlack) / tschechisch (Bohumila Grögerová / Josef Hiršal) und türkisch (Aras Ören / Yüksel Pazarkaya).

Als Themenvorgabe und in der Reihenfolge unbedingt zu beachten waren: Morgen/Frühling, Tod, Mittag/Sommer, Liebe, Nachmittag/Herbst, Leben, Abend/Winter und eine Art Quintessenz. Die sich aus je zwei Zweizeilern zusammensetzenden Vierzeiler (wie insgesamt die Vierzeilerketten) sollten so lakonisch wie möglich und zugleich so poetisch wie nötig (= Poesie des Lakonismus) formuliert werden. Die fertigen Vierzeilerketten wurden von den Spielleitern/Regisseuren für das Internet aufbereitet zu einem Spiel, in dem der Leser sich mit Hilfe der bereitgestellten Figuren - Dame, Turm, Läufer, Springer - und ihren Zugmöglichkeiten (horizontal/vertikal/ diagonal/im Rösselsprung) kombinatorisch hindurchlesen kann: Poemchess.

Erwähnen möchte ich noch zwei weitere Möglichkeiten. Der Spieler könnte auch die Figurenkonstellationen berühmter Endspiele nachstellen und so ein reales Schachspiel in einen international virtuellen Text übersetzen

Er kann aber auch einfach nur additiv sich die einzelnen Ketten, z.B. die schwäbische Kette separieren:

An dr Amsel uffwacha
weil se mir onders Hemmad sengd
oder mit amma mädle
dui wo dr onter d'Haut ghòt

Oogschdorba dood sei dirfa
on da driebernei vor Freid läbich werda
tiaf Luft hola schnaufa
on de mit amma Schreiner òfreinda

An Boom voller Bläddla -
älle ihre Gschichdla zuahöra
vom Grea - vom Gelb - vom Rot
vom Braun - vom Komposcht

Wenn ausam Häusle kommsch
on nemme zrigg kaasch
Wenn da a Plätzle fendasch
wo da nemma raus willsch

An Dag wia vrgilbts Blatt
bass uff.......beim Blättra
weil dr s Joahr nomal
soo viel uffzähld

Nòhgucka zuahorcha nòhlanga mitschwätza
d Gosch samt de Fenger vrbrenna
sich selber fenda
on sich selber vrgessa

D Stonda strecka
Farb sammla fir d Nacht
Meeh aalanga
wie gucka könna

S isch oefach älles
alles.......oefach
au wenn ällas nooh so
seine zwoe Seida hod

Von der Intention her ging es uns aber vorrangig um den virtuellen internationalen Dialog, einen multilingualen offenen Text, den der LeserAlsSchachspieler im spielerischen Verschneiden von 8 Autordialogen variabel herstellt. Daß dieses Unternehmen Marcel Duchamp gewidmet ist, versteht sich beinahe von selbst.

Dienten das "Poemchess" und die offenen "Textspiele" dazu, Texte mit Hilfe der Benutzer zu verändern und variabel zu halten, zielt mein letztes Beispiel aus dem "TanGo-Projekt" auf Text-Zerstörung und Infragestellung des Autors: Johannes Auers

Gegeben ist erstens ein permutationeller Text:
keine faxen mit tango ist ernst kein tango ist ernst mit faxen keine faxen ist tango mit ernst mit tango ist ernst ohne faxen mit ernst sind faxen ohne tango mit tango ist faxen ohne ernst mit faxen ist ernst [...].
Gegeben ist zweitens die Möglichkeit, mit martialischem Gestus schrittweise einzelne Wörter aus diesem Text herauszuschießen, zunächst "faxen", dann - ich fasse zwei Schritte zusammen - die Wörter "ohne" und "mit", dann - ich fasse wieder zwei Schritte zusammen - die Wörter "kein(e)" und "ist/sind",dann "ernst" und als letztes "tango", bis schließlich der ganze Text abgeschossen ist, mit der Möglichkeit freilich, ihn danach neu zu laden.

Was Johannes Auer dem bildschirmaktiven Leser demonstrieren will, was der Leser bei seinem Tun erkennen soll, ist, wenn ich es recht verstehe, dasselbe, was ich mit dem "Verschwinden des Tangos im Internet"wollte, einmal die Demontage eines Artefakts und zugleich die Demonstration seiner Unzerstörbarkeit. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, daß auch Kunst sterben darf und zugleich wieder aufersteht. Frieder Rusmann fordert dies sogar als ihr Grundrecht [< "Für den natürlichen Tod des Kunstwerks"]

Das läßt sich in Kürze nicht weiter ausführen. Ich verweise stattdessen auf eine uns wichtige Parallele aus der Kunstgeschichte, den Moment nämlich,

Arps Purgierungsaktion, Duchamps ready made zielen dabei nur vordergründig auf das Portrait Leonardo da Vincis, die Laokoongruppe, im Grunde haben sie deren Rezeption, eine sich an ihr orientierende Kunstauffassung und -produktion im Visier.

Entsprechend fordert "Kill the Poem" den Leser nicht nur zu ikonoklastischer Tat auf, sondern bietet ihm die Möglichkeit, seine Tat zumindestens äußerlich ungeschehen zu machen. Er sollte aber auch anregt werden, seine spontane Bereitschaft zu inkonoklastischem Tun zu reflektieren. Wobei interpretatorisch nicht unwichtig ist, daß hier kein literaturgeschichtlich sanktionierter Text, kein zur Anbetung aufbereitetes Kunstwerk zum Abschuß bereitgestellt ist, sondern ein Text in der Tradition des konkret permutationellen Gedichts mit geringer Autorpräsenz.

Ich möchte mit diesem Abschuß meinen kleinen Exkurs durch ein vor Ort weniger bekanntes Kapitel Stuttgarter Literaturgeschichte beenden. Mehr habe ich Stuttgart dazu auch nicht zu sagen. "In cyberspace", lautet ein inzwischen geflügeltes Wort Benjamin Whooley's, "In cyberspace everyone is an author, which means no one is an author: the distinction from the reader disappears. Exit author..."

[11.7.2001, Wilhelmspalais / Mörike-Kabinett]