Reinhard Döhl | Acht junge Lyriker

Meine Damen und Herren,
wer heute auf Gedichte aus ist, wohlgemerkt Gedichte nicht Texte (und der Lyrikkonsument des Waschzettels ist dies nur angeblich) - wer heute auf Gedichte aus ist, gerät alsbald in eine Art Notstandsgebiet. Er findet keine allgemeingültige Poetik vor. Promo-Äußerungen über Probleme der Lyrik (und was einige Kritiker weltanschaulich dafürhalten) sind pro domo und nicht übertragbar. Landläufige und läufige Vorstellungen nähren gedankenlos noch immer die Vorurteile der symbolischen Redeweise, des sinnig-sinnlichen Sprechens, der subjektiven Empfindung und ihres gestimmten Ausdrucks. Und wenns noch schlimmer kommt: der gemalten Fensterscheibe, der Transparenz. Andererseits gilt heute unbesehen das Vorurteil der beliebigen Austauschbarkelt, der Willkürlichkeit undsoweiter.

In Wirklichkeit handelt es sich aber bei den Gedichten, die uns interessieren, um Redeweisen, die nicht mehr symbolisch aufgeschlüsselt werden können und dem Leser und Kritiker die symbolische Schlüsselgewalt längst entzogen haben. Das hat seine Gründe innerhalb einer Entwicklung vom Glauben an die Verbindlichkeit der dichterischen Aussage zum grundsätzlichen Misstrauen in die Verbindlichkeit des Wortes: innerhalb einer Entwicklung von der Sprache als Mitteilungsvenikel für Inhalte (edel sei der Mensch) Stimmungen (es war als hätte der Himmel) und Gefühle (ich weiß nicht was soll es bedeuten) über die Elimination der‚ Inhalte, Stimmungen und Gefühle zum Bewußtwerden der Sprache als Sprache, als Sprachmaterial, dessen Handhabung von Erzeugung von Textrealitäten dient. Das ist cum grano salis der Weg von einem Maximum an Rede, Informationen ethischer Art, an Inhalten bei einem Minimum an Methode zu einer Rigorosität der Methode, der methodentechnischen Überlegung, die mit einem Minimum an eigener Rede verbunden ist. Das hat schon um die Jahrhundertwende zum makrosprachlichen auf der einen und zum mikrosprachlichen Gedichtmodell auf der anderen Seite geführt. Und wenn man heute von den Möglichkeiten des Gedichts heute sprechen will, könnte man etwa von langen und kurzen Gedichten sprechen, wobei man Gedicht etwa als Muster oder Modell einer neuen Art zu reden bezeichnen könnte, wobei eine neue Art zu reden etwa nicht-symbolische Redeweise bedeuten würde.

Nachdem in dieser Buchhandlung bereits vor einiger Zeit ein langes Gedicht, die „cosmogonie portative“ von Raymond Queneau vorgestellt wurde, soll heute die zweite Möglichkeit, das kurze Gedicht zu Wort kommen. (Das schließt darüber hinaus an die vor einem guten Jahr gehabte Kalenderblättermatine an, in der 7 Kalenderblättermodelle vorgestellt wurden.) Was also im folgenden passiert, ist kein Autorenzirkus aber auch keine Gedichtanthologie. Vielmehr ist jeder der anwesenden Autoren mit so vielen Gedichten beteiligt, daß sein Repertoire, seine Methode und seine Möglichkeiten deutlich werden. Diese Menge der Gedichte eines Autors stellen dabei nun je ein Muster, ein Modell einer neuen Art zu reden vor, wobei alle Muster oder Modelle zusammengenommen im Querschnitt auch zeigen, was es mit dem Gedicht heute auf sich hat, welche methodischen Möglichkeiten heute bestehen. Schließlich meine ich, daß die Gedichte im folgenden deutlich machen, was an Ihnen, an ihrer Methode und an ihren Autoren dran ist.

Leider konnte Anselm Hollo aus London aus technischen Gründen nicht kommen, er schickte statt seiner ein Ungelegenheitsgedicht, das ich vorweg lesen werde. Danach lesen die Autoren in der Reihenfolge Rolf Gunter Dienst, Dietrich Segebrecht, Britta Titel, Heins-Heinrich Lieb, Wolfram Menzel, Ernst Jandl, Dieter G. Eberl.
 

Anselm Hollo
London - Stuttgart
Gruß zum 10. Januar 1964

Acht junge Autoren also
sieben Zwischenräume das sind
sieben Parkplätze also
hat einer kein Auto
das bin ich
aber sonst ganz munter und mobil