Möglichkeiten, Umfang und Wurzeln experimenteller Literatur Kunst und Musik im 20. Jahrhundert
Reinhard Döhl | Exkurs über Aleatorik

Stéphane Mallarmés "Coup de Dés", die Zufallsoperationen John Cage's, von denen im folgenden Kapitel zu reden sein wird, wie überhaupt Rolle, Funktion und Bedeutung des Zufalls in den Künsten des 20. Jahrhunderts legen es nahe, einen längeren (historischen) Exkurs über Aleatorik einzuschieben.

Ursprünglich ist Aleatorik (lat. alea = Würfel; aleator = Würfelspieler) Bezeichnung eines musikalischen Kompositionsprinzips, in der Absicht, den Einfluß der Komponisten auf das Musikstück so weit als möglich zu reduzieren, d.h. weitgehend nicht-intentionale Werke zu schaffen.

Versucht wurde dies auf zwei Wegen: einerseits, indem die Partitur dem Interpreten nur Auswahlmöglichkeiten bereitstellte, und dieser dann das zu spielende Musikstück ganz nach Belieben neu zusammensetzen, quasi erwürfeln konnte; andererseits, indem aus einer vorgegebenen Menge von notwendigen Vorentscheidungen, die eine Komposition ausmachen - wie z.B. Tonhöhe, Tondauer, Gesamtlänge, Klangfarbe, Motivwiederholung, -variation u.ä. - nach bestimmten Regeln ein neues Stück exakt komponiert, besser: errechnet wurde. Ab einem gewissen Stand der Technik konnte diese regelgeleitete Kompositionstechnik natürlich von Computern samt den notorischen Zufallsgeneratoren übernommen werden.

Der Zufall als ästhetisches Prinzip - sei es auf Seiten der Interpreten oder der Komponisten - gab dieser Richtung also den Namen. Doch wird der Begriff inzwischen auch auf die Literatur übertragen und in der Literaturwissenschaft verwendet [vgl. meine einschlägigen Artikel in Metzlers Literatur Lexikon und in Moderne Literatur in Grundbegriffen]. Diese Übertragung von einem Medium ins andere erscheint um so schlüssiger, als z.B. John Cage - einer der Hauptvertreter musikalischer Aleatorik - Vortragstexte mit einer ähnlichen Methode erzeugt hat, die er auch bei seinen Kompositionen benutzte.

Die in der Musik angewandten aleatorischen Wege zum Erzeugen nicht intentionaler Kunstwerke finden sich entsprechend auch in der literarischen Aleatorik wieder, beim improvisierten automatischen und/oder beim maschinell erzeugten, kombinatorischen Text.

Beim improvisierten automatischen Text wird die traditionelle Vorstellung, der Dichter schreibe aus einer inneren Schau, aus Inspiration, aus dem Un- und Unterbewßten (göttlicher) Eingebung - zur Methode. Der Text wird quasi anonym und automatisch/unabsichtlich niedergeschrieben, etwa in frei improvisierten automatischen Texten (= écriture automatique), Zufallscollagen von Buchstaben, Worten, Sätzen oder ganzen Textpassagen.

Beim maschinell (oder analog) erzeugten Text wird die Forderung, ein Text müsse sich lehrbaren und nachvollziehbaren poetologischen Gesetzen fügen, werden traditionelle Verfahren des Schreibens ersetzt durch maschinell-kombinatorische Textgenerierung. Würfel-, Zufalls- und Computertexte - sogenannte stochastische Texte - sind hierher zu rechnen, ebenso aber auch von Autoren nach den strengen formalen Regeln erzeugte Texte.

Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien bis zurück in den Manierismus und den Barock auf, wo er in Harsdörffers "Frauen-Zimmer Gesprächsspiel[en]" (1641-49) beim Wörterzuwurf zum Beispiel gesellschaftliches Spiel ist. Wie hier ist vor allem seit dem 18. Jahrhundert, in dem die Aleatorik an Bedeutung gewinnt, zu ihrer Bewertung stets die Funktion mitzubefragen. [Vgl. auch ein entsprechendes Hörerspiel-Experiment Walter Benjamins, auf das ich hier über den Hinweis hinaus nicht näher eingehen kann.]

Satirisch auf Wissenschafts-Rationalismus des 18. Jahrhunderts zielt Swift in der Beschreibung einer Maschine, die mit ihrer zufälligen Textproduktion die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen [...] verbessern soll ("Gullivers Reisen" III, 5; 1726). Gulliver ist auf seiner dritten Reise von der schwebenden Insel Laputa auf das Festland Balnibari entlassen worden und erhält dort die Erlaubnis, die große Akademie der Hauptstadt Lagado zu besichtigen.

Der erste Professor, den ich sah, befand sich in einem großen Zimmer und war von vierzig Schülern umgeben. Nach der gewöhnlichen Begrüßung bemerkte er, daß ich ernstlich einen Rahmen betrachtete, welcher den größten Teil des Zimmers in Länge und Breite ausfüllte, und sagte: ich wunder mich vielleicht, daß er sich mit einem Projekt beschäftige, die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen zu verbessern. Die Welt werde aber bald die Nützlichkeit dieses Verfahrens bemerken. Er schmeichle sich mit dem Gedanken, daß eine höhere und edlere Idee noch nie aus dem Gehirn eines Menschen entsprungen sei. Er jeder wisse, wie viel Mühe die gewöhnliche Erlernung der Künste und Wissenschaften erfordere; er sei überzeugt, durch seine Erfindung werde die ungebildetste Person bei mäßigen Kosten und bei nur einiger körperlicher Anstrengung Bücher über Philosophie, Poesie, Staatskunst, Gesetze, Mathematik und Theologie ohne die geringste Hilfe von Geist oder Studium schreiben können. Er führte mich an einen Rahmen, wo alle seine Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen war zwanzig Quadratfuß groß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand aus einzelnen Holzstücken von der Dicke eines Würfels, von denen jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch dünne Drähte miteinander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jeder Fläche mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren alle Worte der Landessprache, und zwar in den verschiedenen Modis, in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne lle Ordnung aufgeschrieben: Der Professor bat mich achtzugeben, da er nun seine Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen Befehl einen eisernen Griffel zur Hand, von denen vierzig am Rande des Rahmens befestigt waren. Durch eine plötzliche Umdrehung wurde dann die ganze Anordnung der Wörter verändert. Alsdann befahl er sechsunddreißig der jungen Leute, die verschiedenen Zeilen langsam zu lesen, und wann sie drei oder vier Wörter ausgefunden hatten, die einen Satz bilden konnten, diktierten sie dieselben den vier anderen, welche sie niederschrieben. Diese Arbeit wurde drei- oder viermal wiederholt. Die Maschine war aber so eingerichtet, daß die Wörter bei jeder Umdrehung einen neuen Platz einnahmen, sobald der Holzwürfel sich von oben nach unten drehte.

Sechs Stunden mußten die Schüler täglich bei dieser Arbeit zubringen. Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise mit Bruchstücken von Sätzen gefüllt waren und die er zusammenstellen wollte. Aus diesem reichen Material werde er der Welt ein vollständiges System aller Wissenschaften und Künste geben, ein Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen könne, wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wolle, um fünfhundert solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer veranlassen würde, die verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinsamen zu vereinigen.

Er gab mir die Versicherung, diese Erfindung habe schon von Jugend auf alle seine Gedanken in Anspruch genommen; er habe seinen Rahmen so eingerichtet, daß er den ganzen Sprachreichtum umfasse, und sogar das allgemeine Verhältnis berechnet, welches in Büchern hinsichtlich der Anzahl von Partikeln, Haupt- und Zeitwörtern und anderen Satzteilen stattfinde.

Der Swift-Leser Lichtenberg interessierte sich erklärlicherweise in seinen die Experimentalphysik betreffenden Notaten der "Sudelhefte" mehr für die Ausschaltung des Zufalls, verwendet den Würfel ausschließlich für Versuche.

In "Heft L", jedoch weist er dem Zufall auch für Entdeckungen in der Naturlehre und beim Verfertigen von Meisterwerken eine produktive Rolle zu:

[L II, 806]: Wenn man nach gewissen Regeln erfinden lernen könnte, wie z.Ex. die sogenannte Loci topici sind, oder wenn die Vernunft sich selbst in den Gang setzen könnet so wäre die[s] gerade eine solche Entdeckung als die Tiere zu vergrößern, oder Sträuche zu Größe von Einbäumen auszudehnen. Es scheint, als wenn allen Entdeckungen eine Art von Zufall zum Grund läge selbst denen, die man durch Anstrengung gemacht zu haben glaubt. Das bereits Erfundene in die beste Ordnung zu bringen, allein die Haupt-Erfindungs-Sprünge scheinen so wenig das Werk der Willkür zu sein als die Bewegung des Herzens. - Ebenso kömmt es mir vor, als wenn die Verbesserung durch räsonierende Vernunft, bloß leichte Veränderungen wären; wir machen neue Species, aber Genera können wir nicht schaffen. Versuche müssen daher angestellt werden in der Naturlehre, und die Zeit abgewartet, in den großen Begebenheiten. Ich verstehe mich.

Hierher gehört was ich an einem andern Ort gesagt habe, daß man nicht sagen sollte: ich denke, sondern es denkt so wie man sagt es blitzt.

[L II, 866]: Ich glaube nicht daß durch Kalkül je eine große Entdeckung in der Naturlehre gemacht worden ist. Das ist auch sein Gegenstand nicht. Sondern sobald der Zufall oder der praktische Blick etwas entdeckt haben, so gibt Mathematik die besten Umstände an, sie zeigt, wenn sich die Sache im ganzen so verhält, welches die beste Form und Einrichtung sei. - Weiter nichts. (Medit.)

[L I, 186]: Es könnte vielleicht ein Aufsatz für Herrn Reinhard werden: zu bitten, daß doch große Männer ihre Art zu studieren bekannt machten; eigentlich die Art, wie sie ihre Meisterwerke verfertigt haben. Der Anfang dieser Werke war sicherlich nicht der Anfang des Schreibens. Es wäre möglich, daß von einem großen Werke der Anfang das wäre was zuletzt geschrieben worden ist. Der Anfang wird sicherer gemacht, wo man sich vorher schon der Güte der Mitte und des Endes bewußt ist. Man fand in Sternen's (Lorenz) Nachlaß eine Menge flüchtiger Bemerkungen, sie wurden sogar trivial genannt, aber das waren Einfälle, die ihren Wert erst durch die Stelle erhielten. Hier werden Farben gerieben, hätte Sterne auf den Titel seiner Kollektaneen setzen müssen. - Man verliert ja durch diese Vorbereitung nicht die Kraft nun bei der wirklichen Komposition noch immer hinzu zu erfinden, oder das anzubringen, was auch alsdann noch der Zufall gibt. Bei Butlern fand man eben das. Johnson, selbst ein Mann dieser Art, aber freilich, wie man aus seinen aufgezeichneten Unterredungen merkt, ein großer Erfinder aus dem Stegreif, sagt dabei: such is the labour of those who write for immortality. Wie mag z.B. der Telemach entstanden sein? S. oben Hume p.10.

Ebenfalls auf Swift, aber in politischer Intension reagiert Abbé Balthazard in "L'isle des philosophes [...]", Chartres 1790. Vor der Küste Amerikas, nicht weit von der Bären- und der Glücksinsel mit ihren häufigen Erdbeben, liegt die Zufallsinsel, auf der alles dem Zufall überlassen zu sein scheint. Die Natur befindet sich noch im kindlichen Zustand des Experimentierens und gebiert alle möglichen Ungeheuer. Die Menschen werden mit Hufen anstelle von Händen geboren. Man hält sie für nicht klüger als Pferde und läßt sie auf den Feldern grasen. Pferde dagegen kommen mit menschlichen Händen auf die Welt und haben Werkstätten und Schneiderateliers eingerichtet. Sie können auch Musikinstrumente spielen, da der Zufall ihnen die Glieder verliehen hat, die in anderen Ländern die menschliche Überlegenheit garantieren.

Ein Forst im Süden der Insel ist von einer neuen Tierart bewohnt, deren Körper eine Zufallskombination von Organen darstellen - zwei oder acht Finger, einen senkrechten Mund, Augen am Hinterkopf, alles bunt durcheinander. Alle Tiere vermehren sich mit unberechenbarer Geschwindigkeit. In manchen Jahren gibt es zu viele Krokodile, dann wieder einen Mangel an Haustieren. Man glaubt allerdings, daß der Zufall schließlich zu einer vollkommenen Welt führen wird, in der alle Tiere sprechen können; als Vorbereitung bringen Lehrer unter Verwendung der Zeichensprache den Tieren bereits das Lesen und Schreiben bei. Besuchern wird ein Spiel gefallen, bei dem mehrere achtseitige Würfel, mit Buchstaben auf jeder Seite, in einen Würfelbecher gelegt, geschüttelt und geworfen werden. Gewinner ist, wer durch Zufall die größte Anzahl an Wörtern und Sätzen bildet. 1789 fiel der Würfelbecher durch ein Erdbeben um; die Buchstaben auf den Würfeln bildeten die Ansprache Ludwigs XVI. an die Generalstände. [Zit. nach Alberto Manguel, Gianni Guadalupi: "Von Atlantis bis Utopia". Veränderte u. erweiterte deutschsprachige Ausgabe, München 1981].

Den Übergang von Poesie zu Prosa und falscher Gelehrsamkeit ironisiert Friedrichs und Philines Wechsellesen einer Bibliothek gegen einander, und immer nur stellenweise in "Wilhelm Meisters Lehrjahre" (VIII, 6; 1796):

Sagen Sie mir nur, fragte Wilhelm, wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehrsamkeit her? Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu, die Sie angenommen haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen.

Auf die lustigste Weise, sagte Friedrich, bin ich gelehrt undzwar sehr gelehrt worden. Philine ist nun bei mir, wir haben einem Pachter das alte Schloß eines Rittergutes abgemietet, worin wir wie zwei Kobolde aufs lustigste leben. Dort haben wir eine zwar kompendiöse, aber doch ausgesuchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine Bibel in Folio, Gottfrieds Chronik, zwei Bände Theatrum Europaeum, die Acerra Philologica, Gryphii Schriften und noch einige minder wichtige Bücher. Nun hatten wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten, manchmal Langeweile, wir wollten lesen, und ehe wir's uns versahen, ward unsere lange Weile noch länger. Endlich hatte Philinen den herrlichen Einfall, die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen; wir setzten uns gegen einander und lasen gegen einander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! wir glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo man für unschicklich hält, irgend eine Materie zu lange fortsetzen, oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen; wir glaubten in lebhafter Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zum Wort kommen läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage und werden dadurch nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber verwundern. Schon finden wir nichts Neues mehr unter der Sonne, zu allem bietet uns unsere Wissenschaft einen Beleg an. Wir variieren diese Art, uns zu unterrichten, auf gar vielerlei Weise. Manchmal lesen wir nach einer alten verdorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten ausgelaufen ist. Schnell dreht sie das andere herum und fängt aus einem Buche zu lesen an, und kaum ist wieder der Sand im untern Glase, so beginnt das andere schon wieder seinen Spruch, und so studieren wir wirklich auf wahrhaft akademische Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben und unsere Studien äußerst mannigfaltig sind.

Diese Tollheit begreife ich wohl, sagte Wilhelm, wenn einmal so ein lustiges Paar beisammen ist; wie aber das lockere Paar solange beisammen bleiben kann, das ist mir nicht so bald begreiflich.

Sprechen als Würfelwurf formuliert erstmalig der Narr in Tiecks "Die verkehrte Welt" (III,5; 1800): Ich schüttle die Worte zwischen den Zähnen herum und werfe sie dann dreist und gleich gültig wie Würfel heraus. Glauben Sie mir, es gerät dem Menschen selten, alle Sechse zu werfen.

Während Tiecks Narr auch vom kauderwelschen Leben spricht, das er führe, ist Novalis, wie bereits in der ersten Vorlesung zitiert, überzeugt, daß die ganze Poesie [...] auf tätiger Ideenassoziation, auf selbsttätiger, absichtlicher idealischer Zufallsproduktion beruhe, gilt Jean Paul gar als ein Meister in der Kunst des Ideenwürfelns.

Gegenüber dieser komplexen Auffassung verkommt A. im 19. Jahrhundert wieder zum lediglich literarischen Spiel mit allenfalls punktuell satirischer Zielrichtung, z. B. in den von G. N. Bärmann verfaßten Büchern "Die Kunst, ernste und scherzhafte Glückwunschgedichte durch den Würfel zu verfertigen" (1825), oder "Neunhundert neun und neunzig und noch etliche Almanachs-Lustspiele durch den Würfel" (1829, Reprint 1972). Schließlich verflacht A. zu z. T. noch heute angeboteten Gesellschaftsspielen der Art "Wer würfelt Worte" ohne jeden literarischen Anspruch.

Eine neue Gewichtung erfährt, wie ich im letzten Kapitel dargestellt habe, die A. in Mallarmés "Un Coup de Dés jamais n'abolira le Hasard" (1897, endgültige Fassung 1914). Mallarmés "Konstellation" stellt über die Quintessenz hinaus, daß das Denken den Zufall nie besiegen werde, entscheidende Weichen für die bildende Kunst (Aufnahme von Schrift und Buchstabenspuren ins Bild, spez. in die Collage), verarbeitet zum erstenmal die graphischen Spannungen der Reklame ins Schriftbild (Benjamin, "Einbahnstraße", "Vereidigter Bücherrevisor", 1928), beeinflußt Apollinaires "Ideogrammes lyriques" (1914), die späteren "Calligrammes", die "parole in libertà" (1913) Marinettis, die Simultantexte der Dadaisten (seit 1916) und die Écriture automatique der Surrealisten, der folgenlos schon 1896 Gertrude Steins und Leo M. Solomons Experiment eines "Spontaneous Automatic Writing" vorausgegangen war. Bedeutend wurde dabei nicht nur für die Surrealisten der heute zumeist unvollständig in der Übersetzung von Max Ernst zitierte Schönheitspreis eines jungen Engländers durch Lautreamont: Il est beau comme le retractilite des serres des oiseaux rapaces [...] et surtout, comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d'une machine a coudre et d'un parapluie!

Vollständig in der Übersetzung von Ré Soupault: Er ist schön wie die Einziehbarkeit der Raubvogelkrallen; oder auch wie die Unschlüssigkeit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile der hinteren Genicksgegend; oder vielmehr wie jene perpetuelle Rattenfalle, die von dem gefangenen Tier selbst immer von neuem gespannt, allein und unaufhörlich Nagetiere fangen kann und die sogar unter Stroh versteckt arbeitet; und vor allem wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch! ["Les Chants de Maldoror", VI; 1869].

Obwohl es nicht hierher gehört, verweise ich wenigstens darauf, daß man diese Stelle erinnern muß, wenn später in André Bretons "Nadja" von konvulsivischer Schönheit die Rede sein wird.

Als das eigentliche Zentralerlebnis des Dada hat Hans Richter rückblickend die Entdeckung des Zufalls hervorgehoben. Der Dadaismus habe das Gesetz des Zufalls aus der bildenden Kunst auf die Literatur übertragen in der Form mehr oder weniger assoziativer Sprechweise, in welcher [...] Klänge und Formverbindungen zu Sprüngen verhalfen, die scheinbar Unzusammenhängendes plötzlich im Zusammenhang aufleuchten ließen ("Dada - Kunst und Antikunst", 1964). Diese dadaistische Zufallsproduktion fächert von schwer leserlich geschriebenen Manuskripten, die den Setzer zum Mitautor machten, über Zeitungscollagen, Arps "Arpaden", um 1917; Tzaras "Dada manifeste sur l'amour faible et l'amour amer VIII: Pour faire un poème dadaiste", 1920, zu einer nahezu mystischen Qualifizierung des Zufalls bei Arp oder Ball, mit deutlichen Rückverbindungen in die Sprachmystik.

Obwohl Mallarmés "Un Coup de Dés" lange Zeit ausschließlich für die Geschichte der visuellen Poesie, u.a. noch von Gomringer für seine "konstellationen" (1953 ff.) reklamiert wurde, hatte Mallarmés "Vorwort", wie gezeigt, gleichermaßen auf die Musik verwiesen: Anzufügen wäre, daß aus dieser bis zum äußersten geschriebenen Anwendung des Denkens mit Zurücknahmen, Ausweitungen, Ausbrüchen, oder aus dem Schriftbild für den, der laut lesen will, eine Partitur hervorgeht. Und Paul Pörtners "Alea" hatte belegt, daß auch dieser Hinweis Mallarmés inzwischen beim Wort genommen wurde, wie überhaupt der offene Text jetzt für das Hörspiel wichtig wird. Hatte Stockhausen Anfang der 60er Jahre in der A. für die Instrumentalmusik eine Überlebenschance vermutet, galt um 1970 zahlreichen Hörspielautoren (u.a. Heissenbüttel) der offene Text, eine offene Hörspielform als wesentlicher Neuansatz einer verkrusteten Gattung, wobei fraglos Ecos "Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee" (1962) mitanregend gewirkt hat.

Mit Wiederaufnahme experimenteller Schreibweisen Ende der fünfziger Jahre gewinnt auch der Würfeftext erneut an Bedeutung, z. B. in Ferdinand Kriwets "Gewürfelten Texten" (1959) oder wenn Tim Ulrichs einem Würfel statt der Augen die sechs Buchstaben w-ü-r-f-e-l tautologisch appliziert (1964). Zufallstexte lassen sich mit André Thomkins Wortmaschine "Dogmat-Mot" (1966) erstellen. [Was uns in den 60er Jahren einmal zu einer spielerischen nächtelangen Hommage à Jonathan Swift angeregt hat].

Bereits 1960 hatten Brion Gysin, William Burroughs, Sinclair Beiles und Gregory Corso u.a. in "Minutes to go" mit der Cut-up-Methode (engl. to cut up = zerlegen) die Technik des Cross-Reading (engl. = Querlesen) wieder aufgenommen, eines ursprünglich halbliterarischen witzigen Gesellschaftsspiels, bei dem ein in zwei oder mehreren Kolumnen geschriebener Text nicht kolumnenweise, sondern quer über die Kolumnengrenzen hinweg gelesen wurde. Literarisiert wurde dieses spielerische, teils unsinnige Textmontieren bzw. -collagieren durch Caleb Whithefoord ["New Foundling Hospital for Wit". New Edition. London 1784, Bd II, S. 235 ff.], von dem gerne zitiert wird: This day his Majesty will go in state to / sixteen notorious common prostitutes.

In Deutschland versuchte Georg Christoph Lichtenberg eine "Nachahmung der englischen Cross-readings", beließ es aber bei diesem einen Versuch, um sich anderen unsinnigen Sprachspielen zuzuwenden.

[G II, 144] Nachahmung der englischen Cross-readings*
*Man muß sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin sowohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art, usw. anzutreffen sind: der Druck jeder Zeite sei in zwei oder mehrere Kolumnen geteilt, und man lese die Seiten quer durch, aus einer Kolumne in die andere.

Gestern disputierte unter dem Vorsitz des Herrn Leibmedicus - Ein Hengstfüllen mit einem weißen Pleß vor dem Kopf.
Eine Jungfer von gutem Herkommen wünscht als Kammermädchen anzukommen - Hinten steht die Jahreszahl 1719.
Es wird eine Köchin gesucht, die mit Backwerk umzugehen weiß -Zu zwei Personen eingerichtet, nebst etwas Kellerraum.
Ein junger starker Kerl, der schon als Reitkecht gedient - Vertreibt Vapeurs und Mutterzufälle in kurzer Zeit.
Heute wurde Frau N...von Zwillingen entbunden - Wer auf zehne pränumeriert, kriegt eines umsonst.
Dem Förster zu W... ist gestern ein junges Rind von der Weise entlaufen - Um künftigen Sonntag seine Antrittspredigt zu halten.
Neulich gab der Churfürst dem Capitel ein splendides Diner - Drei Personen wurden gerettet, die übrigen ersoffen.
Die drei Damen, deren gestern Erwähnung geschehen - Können immer eine Stunde vor der Auktion besichtigt werden.
Am 13. dieses schlug der Blitz in die hiesige Kreuzkirche - Und setzte Tages drauf seine Reise weiter fort.
Die Vermählung des Grafen v. P... ist glücklich vollzogen worden - Er hat aber Gottlob! nicht gezündet.
Den 12ten starb ein Mann in seinem 104ten Jahre - Und bekam in der Taufe den Namen Friderica Sophia.
Die neue Galanteriewarenkrämerin am Markte verkauft - Schnupfen, Kopfweh und andere Zufälle.

Darüber hinaus haben die Cross-readings eigentlich keine eigene literarische Tradition ausgebildet. Sie finden jedoch in der Tradition der Zitatcollagen, der Cento-Dichtung eine Entsprechung, mit dem entscheidenden Unterschied, daß diese in der Regel ausschließlich einem, nämlich dem literarischen Bereich zugehören, und entweder, jedoch selten, als Hommage, oder und vor allem in satirischer Absicht eingesetzt werden, während die Cross-readings die unterschiedlichen Bestandteile einer Zeitung unsinnig aufmischen.

Erst die sogenannten Cut-up-Autoren berufen sich wieder auf die Technik des Cross-Reading [u.a. Carl Weisner]. Die Cut-up-method [zu cut-up = zerlegen] bezeichnet eine Kompüositionsmethode, die um 1960 von dem amerikanischen Maler Brion Gysin zusammen mit dem amerikanischen Autor William Burroughs experimentell entwickelt wurde. Den Begriff prägte Gysin. Burroughs hat viele seiner Texte, die aus Zeitungs-cross-readings hervorgingen, wieder im Zeitungsformat veröffentlicht. Ende der 50er Jahre gingen Burroughs und Gysin dann dazu über, Textseiten in vier Teile zu zerschneiden und die Teile neu zu arrangieren, oder eine Seite in der Mitte zu falten, über eine andere Seite zu legen, und das Ganze dann als intakte Seite zu lesen. [Eine Textseite (von mir selbst oder von einem anderen) wird in der Mitte der Länge nach gefaltet und auf eine andere Textseite gelegt. Die beiden Texthälften werden ineinander 'gefaltet', d.h. der neue Text entsteht, indem man halb über die eine Texthälfte und halb über die andere liest. (Burroughs)]. Veröffentlicht wurden Texte dieser Art, die aus cut-up und fold-in-Experimenten mit Auszügen aus Zeitungen, Zeitschriften, Rimbaud-Gedichten, Shakespeare-Sonetten, Briefen, eigenen Texten etc. bestanden, in "Minutes to go", [1960, Gysin zusammen mit Burroughs, Beiles und Corso] und "The exterminator", [1960, Gysin zusammen mit Burroughs].

Erste Schauplätze dieser Verfahren von Textherstellung waren Tanger und Paris, wobei sich das künstlerische Experiment unter Drogeneinfluß und die surrealistischen Versuche, einen Geisteszustand herbeizuführen, welcher der echten geistigen Erkrankung ich nichts nachstand [Duplessis], gewissermaßen verbanden. Entsprechend sollten Texte dieser Art bzw. ihre Herstellung in erster Linie zur Erzielung einer traum- und rauschähnlichen Bewußtseinserweiterung, einer nobody experience führen.

Es gibt nur noch eins, notiert Burroughs in seinem Cut-up Roman "The naked Lunch" [1959], Es gibt nur noch eins, worüber der Schriftsteller schreiben kann: was seine Sinne im Augenblick des Schreibens registrieren. [...] Ich bin ein Instrument, das Sinneseindrücke registriert. [...] Nur sofern es mir gelingt, gewisse Bereiche des Wahrnehmungsprozesses direkt aufzuzeichnen, mag ich eine begrenzte Funktion haben.

Da sich das elektronische Zeitalter wesentlich in seinen neuen Medien präsentiert, werden in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, in denen Marshal MacLuhans "The Medium is the Message" zum Schlagwort wurde - nicht unumstritten, vgl. das anspielungsreiche "The Medium is the Massage" oder Heißenbüttels Essay "Das Medium ist die Masche", 1968 -

Da sich das elektronische Zeitalter wesentlich in seinen neuen Medien präsentiert, werden in der zweiten Hälfte der 60er Jahre auch Versuche angestellt, die cut-up-Methode und die fold-in-Technik mit Hilfe von Tonband und Film zu variieren und auszuweiten, wobei Burroughs mit Gysin, Ian Sommerville und dem Deutschen Carl Weissner zusammenarbeitetet. In "The Invisible Generation" hat Burroughs über diese Versuche berichtet und das Hören als den primären Wahrnehmungsvorgang erklärt.

Was wir hören diktiert uns zu einem erheblichen Grad das, was wir sehen. [...] Angenommen wir haben auf dem Bildschirm eine Szene vom Picadilly Circus in London. Leute rennen nach einem Bus usw. wir unterlegen eine Bandaufnahme mit dem Geräusch knatternder Maschinengewehre und schon sind wir mitten in den Straßenkämpfen von Petrograd, 1917.

Derart auf das Hören als primärem Wahrnehmungsvorgang fixiert, nimmt es nicht Wunder, wenn das Tonbandgerät in den Überlegungen und Experimenten der cut up-Autoren eine jetzt besondere Rolle spielt, von Burroughs gar als ein nach außen verlagerter Teil des menschlichen Nervensystems bezeichnet wird, überzeugt, daß man aus Tonbandexperimenten mehr darüber erfahre, wie das Bewußtsein arbeite (und wie man eigene und die Reaktionen anderer beinflussen könne), als wenn man 20 Jahre in der Lotus-Position sitze oder seine Zeit auf der Couch eines Psychiaters verplempere. Burroughs "Soft Machine" [1961, dt. 1971] wäre unter anderem hier als ein Ergebnis zu nennen.

Einen Satz auf Tonband sprechen, beschreibt Burroughs die Tonbandexperimente aus dem Sommer 1966, Einen Satz auf Tonband sprechen, das Band mit erhöhter Geschwindigkeit abspielen und versuchen, die akzelerierte Stimme nachzuahmen [...] die Aufnahme rückwärts abspielen und versuchen nachzusprechen [...] d.h. lernen, einen gesprochenen Satz wieder zu 'ent/sagen' [...]. Oder auf einem Vierspurgerät, bei dem zwischen 2 Spuren hin&hergeschaltet werden kann, wird Textmaterial auf zwei Spuren aufgenommen [...] zwischen den Spuren wird in immer kürzeren Intervallen alterniert [...] es ergeben sich an vielen Stellen 'neue' Worte, d.h. Worte, die auf keiner der beiden Einzelspuren enthalten sind. Solche Experimente tragen dazu bei, Vorstellungsklischees und zwanghaft sich einstellende Assoziationen zu durchbrechen und im Bewußtsein - auf nicht-chemischem Wege, d.h. ohne Anwendung von Drogen - neue Durchblicke und Verbindungen zu provozieren.

In der Literatur sollten diese "Tape recorder mutations", die cut-ups und fold-ins zu neuen Ausdrucksformen und ihrem Verständnis führen. Jede "Technik" der Textherstellung, war Carl Weissner 1969 überzeugt, kann nur dann einen Sinn haben, wenn sie systematisch darauf hinarbeitet, die von einem überholten Medium [dem Buch? R.D.] installierte und unbesehen hingenommene Zeilenstruktur des "Bildschirms in unserem Kopf" (Gysin) in Frage zu stellen und auf ihre Veränderung oder Zerstörung zu drängen. Das Engagement der cut-up-Autoren besteht darin, zur Aufhellung der neuen Bewußtseinslagen des elektronischen Zeitalters beizutragen und die massiven Zwangsmechanismen einer offiziellen 'Information' & Literatur in Frage zu stellen, deren Kontrollfunktion darauf beruht, den Leser/Hörer auf ein starres vorherbestimmtes System von Verstehen & Handeln zu fixieren, das seine Narkotisierung und Manipulation ermöglicht.

Oder mit den Worten Burroughs: Cut word lines... shift linguals... vibrate tourists... free doorways... Word falling... Photo falling... Breakthrou in Grey Room... [den fixierten Sinn der Sätze zerschneiden... Lautverschiebungen herbeiführen... gedankenlose Touristen des Worts einer Vibrationsmassage unterziehen... Ein und Ausfahrten freihalten... DAS WORT fällt... und mit ihm DAS BILD dessen, was es bezeichnet... Durchbruch im grauen Raum...]

Das aber sind Gedanken, formuliert eine Opposition, die von einer Überlegung Günter Eichs aus dem Jahre 1959 soweit nicht entfernt ist, seiner Befürchtung nämlich, daß das, was wir als Sprachlenkung wahrnehmen können, möglicherweise erst der Anfang sei. Die Perfektion, sagt es Eich in seiner viel zu wenig beachteten Büchner-Preis-Rede, deutet sich [an] in dem Satz [...]: 'Der Mensch ist eine Nachricht.' [...] Der Satz, der von dem Kybernetiker Norbert Wiener stammt, ist nicht bildlich gemeint und bedeutet jedenfalls eins: Es muß eine praktikable Sprache geschaffen werden, in die der gesamte Mensch übersetzt und dadurch mitteilbar gemacht werden kann. An dieser praktikablen Sprache wird gearbeitet, Stichwort: Sprache als Information. Information wird heute noch definiert als die Mitteilung von Tatbeständen.

Mein Mißtrauen ist groß, und ich vermute, daß die Wissenschaft eines Tages, wie es heißt, realistisch denkt und zu den Tatbeständen auch das rechnet, was sein soll: Was wir zu denken haben, zu glauben, zu hassen und zu lieben. Die [...] geläufige Verbindung von Reaktion und technischem Fortschritt, die Liaison von Stahlhelm und Physik sind günstige Ausgangsstellungen dafür.

Um aber nicht nur über cut-up-Autoren gesprochen zu haben, möchte ich wenigstens aus einem cut-up-Text zitieren. Er stammt von Jürgen Ploog, einem zweiten hier einschlägigen deutschsprachigen Autor, und ist "Übergeschnappte Koordinaten" überschrieben.:am Fenster (Kinn in die Hand gestützt) las Max K Schlagzeilen / Second-hand-Interview alter Mikrozeilen auf Titelseiten... der 2. Plan... ABC-Waffen für jeden Spezialisten! riefen die Experten für latente Reflexe... Sicherheitsfaktoren?... Wetter? 1000 kontrollierte Menschen erdachten Zusammenbruch... fatal accidents im Mitteleuropa des XX. Jahrhunderts, remember?... New York 2. Hälfte der Krise [//] Zusammenbruch einfacher Angst - 'wir haben ganz einfach die Vorschriften heruntergedreht'... K merkte daß sich zwischen Scheibe und senkrechter Strebe feiner brauner Staub am Fenstersims & Kiki angesammelt hatte... nebenan aufgekratzt mit ganz heller Stimme V-Männer besoffen... "eh Capitano!" rief der Typ... "Sie OK. Boss?..." ihre Geschichte geht also weiter... "Natürlich alte Hollywoodfilme... bin doch einigermaßen... erinnere mich an ihn" [//] hell... könnte einen Schluck Wasser... nicht Straßen benutzen... "große", erklärte der Dolmetscher "man kann" schnippte mit den Fingern... "Hotels Häuser alles pfft!" "Ausweise" sagte der mickrige Bulle nachts plötzlich überm Land jenseits des Meeres... ungeheure Stille... (Musik irgendwo)... Krach nebenan Stimmen Rauch & Zigaretten... Blue-Grass-Schwanz aufgerichtet... Tür knallt... Gerassel hilfloser Arme durch einen Riss in der Tür... reinschieben... Max sah alles schäumte über blaue Schein-werfer... Schnaps & Selterswasser schlabberte über rechtwinklige Dächer... vom Fenster aus konnte er nicht eine einzige Maschine des U-boot Stützpunktes erkennen... Tage gerieten aus den Fugen ... Ohne Koordinaten starten? Flugplanlinien übergeschnappter Experten undeutlich auf der Landebahn [...].

Seit 1959 bilden schließlich auch noch die Computertexte eine eigene Gruppe innerhalb der Aleatorik, nachdem Programmierer das Verfahren zur Herstellung von Wortindices praktisch umkehrten und der Computer angewiesen wurde, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben (Stickel 1966). Auch die Bezeichnungen dieser Texte als "Stochastische Texte" (Lutz), "Monte-Carlo-Texte", "Autopoeme" (Stickel) verweisen auf ihre Zugehörigkeit zur Aleatorik. Vor allem an der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart wurde im Umfeld der Stuttgarter Gruppe/Schule mit solchen "künstliche Poesie" genannten Texten, dann auch mit computergenerierter Grafik experimentiert, wurden die Hervorbringungen z.T. kontrovers und heftig diskutiert. Neben Annäherungen an die Konkrete Literatur in Stuttgart, dann bei den Amerikanern Sutcliffe, Adrian, Morgan, Tenney und Alison Knowles mit in der Regel kurzen Texten steht bisher als Einzelfall das 1280 Seiten umfassende "Volksbuch" (1978) des Österreichers Heidulf Gerngross, der Passagen aus der Bibel und zahllose zeitgenössische Quellen nach einem eigenen Programm mit Hilfe des Computers zusammencollagiert und dabei die Möglichkeiten der Kombinatorik ungewöhnlich extensiv durchgespielt hat.

Sprachwelten, nennt ein Kommentar das Ergebnis, aus Lautverschiebungen. Erinnerungs-, Verdichtungs-, Wiederholungsrhythmen, eine neue Metrik! Worte sind Personen und sprechen: imaginäres Theater. Mechanische Dichtungen, visuelle Veränderungen, das Raumalphabet, ein einziges Zeichen aus verschiedenen Richtungen gesehen ersetzt alle Buchstaben; Symbole erscheinen. Man spürt die Umstülpung und sieht und hört darstellende Kunst, Sprache, Musik, technisch mit Hilfe des Computers erreicht (jedes Wort und jedes Zeichen wurde datenmäßig erfaßt!). Globalansprüche an eine absolut neue Sprachordnung.

Ich schließe den Exkurs mit einem Zitat aus dem 7. Kapitel "waerme DER" des 11. Buches "VERTRAUEN der, volksbuch LIEBE" dieses "Volksbuchs":

paphos, wo sie IHN jungphraeulichkeit / recht im meere erneuerte / geschmeichelt war-geschehn / - du IHN im im im so / ihre zusehn es so geht / es SO geht es so sang / geht es diesem geht / ende VOLKSBUCH drang / - volksbuch zu so geht

es geschaehs diesem / diesem SCHON was er kann diesem war coras stymme. ych bewunderte YHRE tapferkeit bis jetzt hatte sie das laut so geht ES diesem diesem diesem ende zu. das immer keinen das IMMER wieder = den neuen anfang den neuen gezweifelt doss! OLLES wieder ihr gehoerte es wor fuer sie, volksbuch volksbuch VOLKSBUCH wundervoll reich zu sein zum nun konnte neuen anfang DEN neuen anfang zeichnet zam nan kannta naaan anfang, das \ NAAN zam, nan kannta naaan anfang dan naaan zam nan, KANNTA naaan anfang dan naaan da get es dem erstenmal EBTGEGEN das diesen neuen; anfang zeichnet e di fernmessunge vornahm DAS ende echo blieb volksbuch aus die instrumente zeigten keine FUSIONSREAKTOREN = als neuen anfang erfhoffte das war ein versagen DAS war ein versagen ist nicht zeichnet, leicht auch wenn DAFUER ten einsatz ter flugbodentruppe ueberlebten, sie wohnten so glueckstatt AUGSBURG und; darmstadt ein solches auch wenn dafuer sehr geeignet IN konstruktion das ist nicht ohne apfel psst volksbuch atempause KEINE nachtwind = ohne durch den garten - strich der ATEM des patienten ging flach an der armen und auf PSST atempause keine atempause aber ein mensch [...]

Literaturhinweise
M. Bense: Natürliche und künstliche Poesie. In: Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden. Köln 1962.
Ders.: Die Gedichte der Maschine der Maschine der Gedichte. In: Die Realität der Literatur. Köln 1971.
R. Döhl: "Von der ZUSE Z 22 ins WWW". Druck ohne Anm. in: Doris Rosenstein, Anja Kreutz: Begegnungen. Facetten eines Jahrhunderts. Siegen 1997.
H. Richter: Der Zufall I, Der Zufall II, Der Zufall und der Anti-Zufall. In ders.: Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964
K. Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Zitat-Collagen als poetische und satirische Technik. Stuttgart 1971]
G. Stickel: Computer-Dichtung. In: Der Deutschunterricht 18 (1966) H. 2
C. Weissner (Hrsg.): Cut up. Darmstadt 1969