Reinhard Döhl | Das Geheimnis solcher Häuser
- zu Alfred Andersch's Roman: Die Rote. Olten und Freiburg i.Br.: Walter Verlag

Eine Frau - Franziska - verläßt den Mann, mit dem sie verheiratet ist, und dessen Freund, mit dem sie es hat. Sie flieht ohne Geld und sie flieht in die Freiheit. Ihr Ziel ist Venedig. Es ist Winter. Der Roman spielt in Italien. Der Autor heißt Alfred Andersch. - Soweit so gut, und mit einigen Figuren, wie sie ja auch auftreten, wäre das ganze ein zeitgenössischer Unterhaltungsroman, der das Klischee, in dem sich die Figuren bewegen, der die Klischeefiguren bewußt benutzt: den Gestapomann, den ehemaligen Leutnant der Royal Air Force und Spion in Deutschland, den Pater, den alten Fischer und auch einen Cellisten, der seinen revolutionären Erinnerungen nachhängt und der Franziska - als sie ihn um Hilfe angeht - Arbeit in einer Seifenfabrik verschafft und bei seiner Familie die Möglichkeit, in bescheidenen Verhältnissen zwar, aber in Freiheit ihr Kind zur Welt zu bringen. Ihr Mann hatte das letzte Mal "nicht aufgepaßt", und damit den endgültigen Anstoß zu dieser Flucht nach Venedig gegeben.

Ich nehme vorweg: "Die Rote" ist kein "zeitkritischer", "neorealistischer" oder "neoveristischer" Unterhaltungsroman. Der Autor benutzt zwar Umgangsdeutsch, voller Fehler, wollte man es am Duden messen. Aber er spricht es unter anderem. Er kann genau so gut mit der Sprache umgehen als in ihr erzählen. Grundsätzliches Stilmerkmal ist das ständige Umschlagen von mitgeteiltem Geschehen in Reflexion über das Geschehen: die Gedanken Franziskas z.B. (Hier wäre kritisch anzumerken, daß der Kursivdruck ein überflüssiges grafisches Hilfsmittel ist, weil die Sprachschichten an sich funktionieren).

Der Roman besteht aus fünf Teilen, zunächst parallel montiertem Geschehen ("Franziska, Nachmittag. Fabio, Spätnachmittag"), Reflexionen Franziskas, einem Hintergrund und den sprachlich bemerkenswerten, kurzen Passagen am Ende jedes Teiles und überleitend zum nächsten: "Der alte Pietro, Ende der Nacht" (wovon noch zu sprechen sein wird). Ähnlich wie schon in "Sansibar oder der letzte Grund" werden auch hier scheinbar nicht aufeinander bezogenes Geschehen und die Figuren zielgerichtet durcheinander geschnitten (Fabio; Franziska). Dabei funktioniert der alte Pietro als eine wirklich kontrapunktische Figur mit seinen Gedankenfetzen, die die vier ersten Teile: "Freitag, Samstag, Sonntag, Montag" abschließen; kontrapunktisch funktioniert auch die Sprache.

Diese Absicht wird schon mit dem Motto gegeben: "Der moderne Komponist schreibt seine Werke, indem er sie auf der Wahrheit aufbaut" (Monteverdi, 1605). Was in den Pietro-Passagen vorliegt, ist ein mit der Sprache gemachter Text: Atomsätze (die die Eigenschaft haben, wahr oder falsch sein zu können), Iteration, gestörter Text, Zufallskombinationen; das Ganze aber gebaut analog zum realen Zufall der Gedanken. Es ist von der Kritik gebeckmessert worden (Robert Neumann in die "Zeit", 28.10.60), dies sei Beckett, Ionesco, werauchimmer. Doch zeigt eine nähere Betrachtung, daß diese kurzen Passagen neben semantischer Information mehr berechenbare ästhetische Information enthalten als die puren Handlungsabläufe. Gegensätzlich zu Herrn Neumanns Meinung erhebt sich vielmehr die Frage, ob nicht ein Konzentrieren der Handlung zu Gunsten der mit Sprache hergestellten Passagen der ästhetischen Schönheit des Textes und seiner literarischen Qualität besser angestanden hätte.

Fraglos im Horizont des Machens liegen auch jene Stellen des Romans, in denen gesprochen oder im Konversationstil gedacht wird, fehlerhaft, wie es dem Vorwurf entspricht. Das dies nicht auf ein sprachliches Unvermögen des Autors zurückzuführen ist (wie Herr Neumann meint), wird spätestens dort klar, wo die "Sprache im Zustand der Konversation" just diesen Zustand verläßt und zur Beschreibung aufgewendet wird.

Innerhalb einer dergestalt hergestellten Textrealität, die nicht mit Abbild der Wirklichkeit zu verwechseln ist, weil sie zunächst mit Wirklichkeit nichts zu tun hat, wodurch sich ein Großteil der Kritik und ihre Formeln wie "Neoverismus" und "Neorealismus" von selbst erledigen - innerhalb dieser Textrealität treten die Figuren auf, bewegen sich durch die Winterlandschaft Venedigs,(eine Landschaft des Textes), vor der Zeit zerbrochen und stark dort, wo sie zerbrachen. Die einfachen Sätze und Wörter der Gedankenketten des alten Pietro unterlegen als Kontrapunkt die Möglichkeit einer einfachen Freiheit. Und so versteht sich der letzte, kürzeste Teil des Romans, "Das Geheimnis solcher Häuser", gemessen an der bisherigen Vermischung der Sprachschichten, in seiner schlichten Berichtform als Monolog einer freigewordenen Franziska. Wenn das Thema die Flucht aus dem Klischee (der Handlung, der Sprache) ist, dann ist dieser letzte Monolog ein Monolog in Freiheit: "Ich war ganz zufrieden. Von Zeit zu Zeit würde ich Fabio sehen. Mein Kind würde es gut haben, bei Fabios Leuten. Wie die alte Frau Crepaz, begann ich, das Zimmer mit meinen Augen auszumessen".

Dieser Roman ist so gesehen auch zeitkritisch, eine glückliche Synthese zwischen tendenziös-kritischer und ästhetisch-artistischer Literatur. Rückblickend auf die Andersche Entwickluug nach "Sansibar oder der letzte Grund" ist hier eine Folgerichtigkeit dieser Entwicklung anzumerken, die manchem anderen Autor zu wünschen wäre.

notizen, Jg 5, Nr 30, Dezember 1960/ Januar 1961, S. 26