Reinhard Döhl | Programmierung des Schönen

Mit der "Programmierung des Schönen", einer Texttheorie als viertem Band seiner Ästhetica, hat Max Bense den - so wollen wir zunächst sagen - Entwurf einer Theorie einer möglichen Ästhetik vorläufig abgeschlossen. Sie wendet sich gegen jene pseudowissenschaftlichen Spekulationen bisher vorhandener Ästhetiken. Mit der unglücklichen Trennung zwischen exakter und geisteswissenschaftlicher Betrachtensweise wird in der vorliegenden Texttheorie Schluß gemacht, indem sie die Methode des "Messens" zugrunde legt. Sie setzt ihre Untersuchung an: beim Material: also beim Text: also beim Satz, beim Wort, beim Zeichen. Der notwendige Weg eines solchen ästhetischen Unternehmens ist der Weg vom Material zur Bedeutung.

In einem der wesentlichen Abschnitte des Buches heißt es:

"Der Begriff Text reicht auch ästhetisch weiter als der Begriff Literatur. Natürlich ist Literatur immer Text und Text nicht immer Literatur, aber Text liegt tiefer im Horizont des Machens als Literatur, er verwischt nicht so leicht die Spur der Herstellung, und genau auf diesem Umstand beruht seine Funktion der Erweiterung des Begriffs Literatur.

Text bezieht immer Literatur ein, reflektiert beständig auf Literatur und was auf Text zutrifft, wird auf Literatur zutreffen: in diesem Ausmaß kann der Begriff Literatur am Begriff des Textes erwogen werden und ein Phänomen an einer Realität gespiegelt.

Was gemacht werden soll, ist Literatur; was gemacht wird, ist Text. Daß auch hier das ästhetische Moment im artistischen eingeschlossen ist, und die Kunst nur ein wahrscheinlicher Zustand ist, wenn das Machen den Zufall streift, grenzt das Handwerk gegen die Schöpfung ab.

Die artistische Funktion kann gehandhabt werden, die ästhetische nicht; sie bleibt jener überlassen."

Textstatistik

Eine so gedachte Theorie muß den Weg vom Material zur Bedeutung gehen, ohne das eine vor dem anderen aus dem Auge zu lassen, sie muß aber auch dem Material vor der Bedeutung den Vorrang zusprechen. Unter Material ist dabei all das zu
verstehen, was zur Herstellung eines Textes aufgewandt wird: die Buchstaben, die Silben, die Wörter, die Reihe von Wörtern, der Satz. So ist notwendig die Textstatistik erstes Teilgebiet der Texttheorie.

Die Textstatistik gibt indem sie die Bedeutung der einzelnen Wörter eines Textes außer Acht läßt, Verfahrensweisen an, einen Text statistisch zu beschreiben. Die Aussage: "Der Satzbau bei einem Dichter A und einem anderen Dichter B ist ähnlich oder ist nicht ähnlich", wie sie in der Germanistik vorkommt, kann zwar richtig sein, ist aber in jedem Fall ungenau. Die Aussage: "Die mittlere
Satzlänge bei einem Dichter A und einem anderen Dichter B ist so und so groß" dagegen ist genau. Die Textstatistik beschreibt einen Text eindeutig und exakt, indem man die mittlere Silbenzahl, die Entropie, die Texttemperatur etc. mißt. Bei der graphischen Darstellung zeigte sich z. B., daß es ein ausgesprochenes Goethe-Feld gibt, in das Georg Jünger und Hans Carossa noch deutlich hineinfallen.

Betrachten wir zunächst die Bestimmung der mittleren Silbenzahl. Die Schnittzahl der mittleren Siibenzahl pro Wort zwischen dem, was wir gemeinhin Poesie und Prosa nennen, wurde mit 1,82 Silben ermittelt. Die Angabe der mittleren Silbenzahl eines Textes macht deutlich, wohin der Text tendiert. Ein weiteres Statistisches Verfahren dient der Ermittlung der Entropie (Entropie: thermodynamischer Begriff aus der Physik; Maß für die Wahrscheinlichkeit der Verteilung von Partikeln innerhalb eines Systems). Interessant ist nun die Einführung dieses Begriffes in der Ästhetik. Wir zitieren hier noch einmal Max Bense.

Entropie

"Sucht man nun einen Gegenprozeß zu diesem so beschriebenen physikalischen Prozeß mit seiner Richtung auf den wahrscheinlicheren Zustand der gleichmäßigen Verteilung, die als Unordnung interpretierbar ist, so stößt man auf den ästhetischen Prozeß. Denn es ist klar, daß in dem Maße wie physikalische Vorgänge auf Mischungä aus sind, die das Kennzeichen der 'Unordnung' aufweist, sich äthetische Vorgänge gerade als 'Entmlschungen', als 'Gliederungen' darstellen, die als 'Anordnung' deutbar sind. In diesem Sinne zielt der ästhetische Prozeß nicht wie der physikalische auf einen wahrscheinlichen, sondern auf einen unwahrscheinlichen Zustand. Er lebt von der Überraschung, er wird bestimmt durch das Maß an Ursprünglichkeit, Unwahrscheinlichem, Anordnung, das er zu realisieren vermag."

Für die Entropie gibt es zwischen Prosa und Poesie eine Schnittzahl von 0,57.

Textlogik

Erinnert man sich daran, daß Max Bense davon sprach, daß das ästhetische Moment im artistischen eingeschlossen, das Kunstwerk ein wahrscheinlicher Zustand der Verteilungen sei, so erklärt sich hieraus ohne Schwierigkeit ein wesentlicher Hauptsatz dieser Theorie: Der ästhetische Zustand des Textmaterials hat immer nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Allerdings kann das nicht alleiniger Inhalt einer Texttheorie sein, wie denn auch nicht jede statistische Beschreibung eines Textes auch seine ästhetische Beschreibung ist. Das Wort ist nicht nur Material, es ist im wesentlichen Zeichen, es hat eine Bedeutung. An dieser Stelle geht die Textstatistik in die Textsemantik (= Textlogik) über. Ein ergänzender und fortführender Hauptsatz lautet: Damit ästhetische Kommunikation überhaupt eintritt, muß die Komplexität der Information größer 1 sein; das aber heißt: ein Text muß interpretierbar sein. Soweit die Erläuterungen zu Max Benses Texttheorie.

Im letzten Abschnitt seines Buches führt Bense Textstatistik, Textlogik, Textphänomenologie und Textästhetik als die vier großen Teilgebiete seiner Theorie an. Er weist darauf hin, daß man Textlogik und Textphänomenologie auch abspalten kann als Literaturmetaphysik, die die unmittelbare Grundlagenforschung für die traditionelle interpretierende Literaturwissenschaft und -kritik ist; daß man Textstatistik und Textästhetik zusammenfassen kann zur informationellen Theorie der Texte oder, wie Max Bense sagt: zur "Kommunikationstheorie der Texte".

Hier wird deutlich: Texttheorie ist ohne Informationstheorie und Kommunikationstheorie nicht möglich. Max Bense distanziert sich also entschieden von einer nur inhaltlichen semantischen Literaturbeschreibung und setzt dagegen eine statistische informationelle Erforschung der ästhetischen Zustände von Texten. Die Texttheorie hat wie jede Theorie heute Realisationscharakter. Sie hat wie jede Theorie die Chance ihrer Verifikation oder Falsifikation.

[forum academicum, Jg 12, H. 5, Juli 1961, S. 16]