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Reinhard Döhl | Zeichen für Zeichen. Zu Gerda Biers Plastiken und Objekten

Was Gerda Biers künstlerische Entwicklung auszeichnet, ist Konstanz und Konsequenz. Das beginnt bereits damit, daß sich die Künstlerin länger als üblich für ihre Ausbildung Zeit ließ, bis sie mit dreißig Jahren zum erstenmal ausstellt. Wenn mehrere ihrer frühen Arbeiten den Titel Frucht tragen, ließe sich dies auch auf den künstlerischen Reifeprozeß übertragen. Die Konstanz und Konsequenz künstlerischer Entwicklung läßt sich zweitens und vor allem dem Werk selbst seit 1973 ablesen einem Werk, das ohne Sprünge und Brüche sich Schritt für Schritt fortsetzt. Ausgehend von vegetativen organischen Bronzen bis zu den Holzplastiken der 8Oer Jahre, oft in Verbindung mit Eisen. Ausgehend von glatten, geschliffenen, polierten Oberflächen zur narbigen schrundigen, von Gebrauch und Verwitterung geprägten Oberflächenstruktur des Holzes, ehemals hölzerner Gebrauchsgegenstände. Auf die haptische Qualität ihrer Arbeiten hat Gerda Bier selbst verwiesen, als sie eine frühe Bronze "Handschmeichler" nannte. Und in der Tat kann neben dem Auge auch die Hand, wenn der Betrachter will, eine Entwicklung nachvollziehen, derer Ergebnis den Ausgangspunkt scheinbar umkehrt.

Entscheidend für die künstlerische Biographie Gerda Biers wurde ihr Entschluß Ende der 70er Jahre, die Kleinplastiken in einem künstlichen Rahmen zu plazieren, in einen Kunstraum zu stellen. Ich meine die Werkphase der Objektkästen, in die sie zunächst ihre Kleinplastiken (Vegetative Form, 1978) einfügte, in denen sie bald experimentierend auch andere Materialien zusammenstellte. War Gips für die frühen Bronzen der formal notwendige Umweg, ist er jetzt neben dem Mörtel allenfalls noch Bindemittel, Bildträger für Steine, Ziegel, Eisenblech, Holz. Immer deutlicher gewinnt dabei das Holz als Material Selbständigkeit bis schließlich künstlicher Rahmen und Kunstraum überflüssig werden, verlassen werden können. Als selbständiges Holzrelief, als "Wandbrett" einerseits, als stehende Figur andererseits gewinnen die Holzplastiken eine thematische Breite, von der noch zu sprechen sein wird.

Gerda Bier hat diesen Schritt aus den Objektkästen heraus wieder in den freien Raum als Rückkehr zur Plastik bezeichnet. Und sie hat damit - bezogen auf das Problem Plastik und Umraum - fraglos recht. Dennoch möchte ich etwas anders formulieren und von den Objektkästen als einer Durchgangsphase zu einer neuen Auffassung von Plastik sprechen. Zum einen, weil es rein äußerlich Gerda Bier jetzt möglich wird, größere Formate zu bewältigen, wobei sich die plastische Masse in die Vertikale verschlankt. Zum anderen begründet sich die neue Auffassung von Plastik auch inhaltlich.

Um dies deutlich zu machen, muß ich ein wenig ausholen. Diejenigen von Ihnen, die 1986 die Schwitters-Retrospektive in Hannover, 1987 die Arp-Reprospektiven in Stuttgart, Straßburg oder Zürich gesehen haben, werden sich möglicherweise an Arbeiten erinnern, Holzreliefs, die Schwitters zum Beispiel ",Der breite Schnurchel", Arp zum Beispiel und nicht weniger witzig "Das Bündel eines Schiffbrüchigen" oder lakonisch "Bündel eines Da" genannt haben. Diese witzigen Auslegungen dessen, was die Reliefs angeblich zeigen, sind aus der damaligen Zeit zu verstehen als provokative Adresse an den Betrachter, der auch angesichts dieser Arbeiten noch nach konventionellen Inhalten gründelte. In Wirklichkeit ging es aber vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen, wahnsinnig gewordenen Zeit um die sinnliche Qualität der gefundenen Materialien, um die ästhetische Erfahrung des Alterns und des Verfalls. Jedes der verwendeten Materialien hatte seine eigene Geschichte, brachte diese in das Relief und damit in einen neuen übergreifenden Kontext ein, ohne daß der Betrachter diese Geschichten konkret hätte entschlüsseln können. Von Meditationstafeln hat Arp in ähnlichem Zusammenhang gesprochen, von Mandalas, Wegweisern, die in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen sollten, während die weniger anspruchsvolle Kunstgeschichte von Gedenktafeln spricht, die in unverständlicher Sprache von vergessenen Schicksalen erzählen. (Willy Rotzler, zit. Fath). Genau dieses scheint auch die entscheidende Erfahrung Gerda Biers zu sein, die sie 1982 zu einer kurzen Notiz zusammengefaßt hat. Was sie anrege, sagt sie dort, seien die Spuren, welche Abnützung und Zeit auf dem Holz hinterlassen haben. Was sie wolle, sei, diese Mitteilungen und Geschichten des alten Holzes aufzunehmen und an den Betrachter weiter[zugeben] in veränderter Form.

In veränderter Form sagt dabei deutlich, daß es Gerda Bier, wie übrigens schon Arp und Schwittens, nicht um das surrealistische Objet trouvé geht. Wer Gerda Biers Plastiken und Objekte, wer Gerda Biers Objektkunst für Objets trouvés hält, verfehlt sie. Denn entscheidend ist, was Gerda mit ihren Fundstücken macht, wie sie diese zu einem Ganzen zusammenfügt.

Hier kommt nun eine weitere Konstante des Werkes ins Spiel: das Zusammensetzen von Teilen, nicht additiv, sondern konstitutiv, wobei das Ergebnis dann allemal mehr ist als die Summe seiner Teile. Diese Arbeitsweise des Zusammensetzens ist für Gerda Biers Arbeit von Anfang an charakteristisch. So setzen sich bereits die vegetativen Formen der frühen Bronzen aus geformten Einzelteilen zusammen. Für die Objektkästen ist die Technik des Zusammensetzens eine Bedingung sine qua non. Und die ihnen folgenden Arbeiten, die Exponate der heutigen Ausstellung sind nicht nur durch Verbindungsteile, Zapfen und Dübel gefügt, sie zeigen vielmehr dem Auge, daß und wie sie gefügt sind. Nicht nur das für die "Gebundenen Figuren" verwandte Eisenblech, auch Dübel, Zapfen, Verbindungsstück haben, wie die Flickstellen, ästhetische Funktion, Aussagewert. Es ist keinesfalls zu viel behauptet, daß Gerda Bier für ihre zusammengesetzten Figuren, Plastiken und Objekte noch die Mittel des Zusammensetzens von ihrer nur technischen Aufgabe entbindet, um sie auch ästhetisch funktionabel zu machen.

Aufregend ist dabei, für mich jedenfalls, ein scheinbar thematischer Wechsel. Was Gerda Bier in den 70er Jahren zunächst zusammenfügte, waren künstlerisch geformte Teile. Und sie waren zusammengefügt zu Arbeiten, die so bezeichnende Titel wie "Frucht" oder "Vegetative Form" erhielten und Curt Heigl von der Kunsthalle Nürnberg an Früchte mit Kernen, Fruchtbarkeit und Weiblichkeit erinnerten und teils an antike Fruchtbarkeitssymbolik gemahnten. Genauso gut hätte er auch von Archetypen sprechen, einen Teil dieser Arbeiten sogar als weibliche Gegenstücke zum Lingharn auffassen können.

Nach der Durchgangsphase der Objektkästen sind es statt den geformten Teile dagegen gefundene Formen, die bei ihrer Zusammenfügung das Ergebnis wesentlich mitbestimmen. Gemahnte die zusammengesetzte "Frucht" an antike Fruchtbarkeitssyrnbolik, also an das Werden, gemahnen die neuen Arbeiten schon von dem verwendeten Material her an Vergehen. Die sinnliche Erfahrung von Zeit, Vergänglichkeit, Verfall werden dabei über das Material und seine Gestaltung weitergegeben. Direkt, wenn das Ergebnis das Feldkreuz, den Bildstock oder die Stele und ihre ursprüngliche Bedeutung und Funktion herbeiassoziiert. Aber indirekt auch in den Türmen, den "Schmalen", "Spitzen" oder "Hängenden Figuren", Figurenpaaren oder Ensembles. Der Typus der "Gebundenen Figur" macht dies selbst dem Laien einsichtig. Denn einerseits assoziiert er das Einbinden des Toten bei seiner Mumifizierung. Andererseits - die Sprache hat so ihre Mehrdeutigkeiten - ist eine gebundene Figur eine Figur, die in etwas eingebunden ist, zum Beispiel in den Kreislauf von Werden und Vergehen.

Schließlich verlieren auch die sogenannten "Wandbretter" schnell ihre vermeintliche Unschuld, wenn man sie als Vorstufe für das wertet, was sie entwicklungsgeschichtlich anzielen: das Totenbrett, wie es zum Beispiel die Tradition des Bayerischen Waldes kennt: Bretter, auf denen der Tote aufgebahrt war, und die nach der Beerdigung bearbeitet, bemalt, beschriftet wurden, um dann an markanten Stellen bis zu ihrem Verfall als ein Memento mori aufgestellt zu werden.

Nun könnte der Eindruck entstehen, in Gerda Biers künstlerischer Entwicklung habe ein Paradigmenwechsel von Werden zum Vergehen stattgefunden. Das aber will mir durchaus so nicht scheinen, denn gerade in der letztjährigen Entwicklung der Figur deutet sich ein Wiederaufnehmen des Ausgangspunktes auf anderer Ebene an. Zur stehenden Figur mit ihrer senkrechten Hauptbewegung mit ausschließlich horizontalen Zäsuren tritt nämlich in jüngster Zeit die liegende Figur mit entsprechend vertikalen Zäsuren. Und definiert man diese Figur von ihrem Erscheinungsbild als weiblich, ließe sich leicht der Bogen zurückschlagen zum Ausgangspunkt.
Gleichzeitig gewinnt die Künstlerin mit ihren liegenden Figuren formal eine neue Dimension. Wie die Totenbretter zunächst ihre Funktion in der Vertikalen haben, als letzter Ruheplatz des Toten, um dann in der Horizontalen ihren ästhetischen Sinn zu gewinnen als Mahnmal, so lassen sich die liegenden Figuren Gerda Biers nicht nur horizontal sondern auch vertikal präsentieren, was ihnen, wie ein konkretes Experiment zeigen kann, einen anderen Sinn, eine andere Botschaft gibt. Gerda Biers Arbeiten sind in einem wörtlichen Sinne mehrdeutig geworden. Sie verweisen nicht mehr nur entweder auf Werden oder auf Vergehen. Vergehen schließt Werden mit ein und umgekehrt.

Ich möchte zum Schluß noch vor einem möglichen Mißverständnis warnen. Wie zitiert, gemahnten die frühen Plastiken der Künstierin Curt Heigl teils an antike Fruchtbarkeitssymbolik. Klaus Bodemeyer hat für die Formerfindung der stehenden Figuren festgehalten, daß ihre harte Achsialität die Körper-Raum-Beziehung früher kultischer Plastiken wieder aufnehme. Ja er hat sogar von der Archaischen Ausdrucksqualität der Plastiken gesprochen. Nimmt man die zahlreicheren "Kreuzfiguren", die "Feldzeichen", "Stelen" und "Bildstöcke" hinzu, könnte der Eindruck entstehen, Gerda Bier versuche mit ihrer Arbeit etwas zu restaurieren, was seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion längst verloren hat. Aber das wäre ein Mißverständnis. Es geht nicht um die Wiederbelebung von etwas Vergangenem. Würde man einen Bildstock Gerda Biers neben einen erhaltenen traditionellen Bildstock stellen, ein Feldzeichen der Künstlerin neben ein von der Zeit angenagtes, Stele neben Stele oder gar ein künftiges Totenbrett einer der wenigen noch erhaltenen Totenbrett-Zeilen des Bayerischen Waldes einfügen, wäre mit den Händen greifbar, daß es Gerda Bier nicht um eine konkrete sondern um eine abstrakte, nicht um eine religiöse sondern uni eine ästhetische Botschaft geht.

Das Werden und Vergehen, die "Krankheit zum.Tode" ist eine Bedingung des menschlichen wie allen Lebens Der Mensch hat im Laufe seiner Zeit diese Erfahrung in die verschiedenartigsten mythischen, religiösen oder philosophischen Bilder gekleidet, ihnen unterschiedlichsten bildnerischen, plastischen und architektonischen Ausdruck gegeben. Heute, wo an die Stelle der Religion die Ästhetik getreten ist, scheinen Hinweise auf den Sinn hinter dem Sinn nur mehr mit ästhetischen Mitteln möglich. Goethe, hat dies Hans Arp einmal für die Dichtung präzisiert, habe den Leser poetisch belehrt daß der Mensch sterben und werden müsse (übrigens in genau dieser Reihenfolge, R.D.). Kandinsky hingegen stelle den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum. Wir erleben in diesen Gedichten den Kreislauf, das Werden und Vergehen, die Verwandlungen dieser Welt. Die Gedichte Kandinskys enthüllen die Nichtigkeit der Erscheinung und der Vernunft.

Das ließe sich, denke ich, leicht auf die Arbeiten insgesamt Gerda Biers, auf die Exponate dieser Ausstellung übertragen. Auch sie wollen nicht lehrhaft, nicht didaktisch sein, keine religiöse oder ideologische Botschaft und schon gar nicht verkünden. Sie wollen, wie alle Sprache der Kunst, ästhetisch gelesen werden. Die gefüllten Objektkästen haben ihre Entsprechung in den ausgesparten Nischen der nachfolgenden Plastiken.

Was den Objektkasten füllte, umrahmt jetzt die leere Nische. Der Inhalt kann zum Rahmen, der Rahmen zum Inhalt werden. Auch dies ein Wechselspiel, wie fast alles in Gerda Biers künstlerischen Produktion. Daß sie dabei die für unsere Wegwerfgesellschaft (und wir werfen ja nicht nur Dinge sondern auch Inhalte auf den Sperrmüll) - daß sie dabei die für unsere Wegwerfgesellschaft charakteristischen Abfälle nimmt, daß sie Holz und Eisen als Materialien wählt und zu Gebilden formt, die an Bildstöcke, Feldzeichen, Stelen gemahnen, nicht sind, das ist - wenn man so will - ihre durchaus aktuelle Sprache in einer zunehmend sinnentleerteren Welt. Eine Sprache, deren Grammatik und Syntax das Zusammenfügen heterogener Elemente des Abfalls ist. Indem diese Elemente aber - Deichsel, Joch, Dielenbrett, Gebälk, Metallbeschlag etc. - ihre ursprünglichen Funktion entzogen werden, verkehrt sich Funktion in Sinn, wird einer Gesellschaft, in der fast nurmehr das Funktionieren zählt, mit ästhetischen Mitteln die Frage nach ihrer geistigen Legitimation gestellt. Dabei macht die formale Anspielung des Feldzeichens, des Bildstocks, der Stele auch insofern Sinn, weil zu der Zeit, in der das von Gerda Bier verwandte rustikale Strandgut (Johannes Haider) noch funktionierte, auch Feldzeichen und Bildstock, Stele und Totenbrett noch kulturelle Gebrauchsgegenstände waren und nicht vom Denkmalamt kartographierte, in Heimatmuseen begaffte Relikte uriger Volkskunst.

[Kunstverein Ellwangen, 15.4.1988]