Im Zusammenhang mit seinen Bemühungen, die Kunst und Dichtung Brasiliens vorzustellen, hatte das Studium Generale der Technischen Hochschule im Februar zu fünf Vorträgen über moderne brasilianische Literatur eingeladen. Was diese Vorträge für die zahlreichen Zuhörer so interessant machte, war neben der Fülle des Unbekannten vor allem die erfrischend unorthodoxe Art, in der der vom Außenministerium (Itamaraty) Brasiliens zum Lektor für brasilianische Literatur ernannte Haroldo de Campos seine literaturhistorischen Exkurse vortrug. Das lag zum Teil sicher daran, daß der 1929 in Sao Paulo geborene und 1952 zum Dr. jur. promovierte Haroldo de Campos eigentlich Dichter ist. Doch hat er ebenso als Theoretiker und Essayist sich einen Namen gemacht und schreibt heute für führende brasilianische Tageszeitungen kritische Essays, vor allem über die moderne Literatur und ihre Probleme, zum Beispiel über Themen wie "Kurt Schwitters und die Freude am Gegenstand", "Max Benses neue Ästhetik" oder "Übersetzung als Kritik und Schöpfung". Als Dichter ist er Mitbegründer und Mitglied der Noigandres-Gruppe in Sao Paulo und Mitherausgeber der führenden brasilianischen Literaturzeitschrift "Invencao". Seit 1949 veröffentlichte er in schmalen Bändchen, in Anthologien und Zeitschriften seine literarischen Arbeiten, darunter als die wohl wichtigsten "Auto do Possesso" (Mysterienspiel eines vom Teufel Besessenen) 1949, "O Amago do omega" (Das Zentrum des Omega 1956, konkrete Gedichte (ohne Titel) 1958, "Servidao de passagem" (Vorübergehende Leibeigenschaft) 1962, "Topologia do medo (Topologie der Furcht) 1963 und "Alea I" (Würfel I) 1964. Diese Bücher zeigen deutlich die außerordentliche Sensibilität des Dichters gegenüber der Sprache.
Die fünf Vorträge Haroldo de Campos, über die moderne brasilianische Literatur zeigten (den zahlreichen, interessierten Zuhörern) nun sehr schön, daß auch in Brasilien fast gleichzeitig mit der europäischen Entwicklung der Anschluß an eine moderne Weltliteratur erreicht wurde. Als Beginn dieser Entwicklung gilt dabei das Jahr 1922, in dem in Sao Paulo unter der Leitung von Oswald und Mario de Andrade eine "Woche für moderne Kunst" stattfand. 1928 begründete Oswald de Andrade dann das "Antropophagic Mouvement" und gab damit endgültig das Signal für die brasilianischen Dichter, die Errungenschaften fremder Literaturen zu "essen" und "entsprechend dem schöpferischen Geist Brasiliens umzuformen" und fortzuführen. Bei Oswald de Andrade finden sich auch die ersten sprachlichen Experimente. Und die Entwicklung führt dann konsequent über Autoren wie Guimaraes Rosa (geb. 1908) und Joao Cabral de Melo Neto (geb. 1920) zu den Autoren der Noigandres-Gruppe: zu Haroldo de Campos, Augusto de Campos, Decio Pignatari, Ronaldo Azeredo und Jose Lino Grünewald, Pedro Xisto und Edgard Braga. Ihre Dichtung aber, die "konkrete Poesie" ist "rational und sensibel, eine neue allgemeine Sprache, einem neuen Land wie Brasilien entsprechend, wo es zum Beispiel möglich ist, ohne den Zwang einer vorbelasteten Tradition eine neue Hauptstadt zu bauen, ganz und gar entworfen aus neuen Vorstellungen von Architektur!"
Stuttgarter Leben. Tagebuch einer Stadt, Jg 39, März 1964, H. 3, S. 23.