Kunst und Kunstgewerbe | Von Heinz Hirscher zu Kurt Schwitters | Collage, Volkskunst, Trompe-l'oeil | Materialisierung der Trompe-l'oeil-Technik | Einschränkung der Fragestellung | Hans Arp | Hannah Höch | Kurt Schwitters | Affichisten und Décollage | Bedingungen der CollageIch will nicht, daß ein Bild wie etwas aussieht, das es nicht ist, und ich bin der Meinung, daß ein Bild wirklicher ist, wenn es aus Teilen der wirklichen Welt gemacht ist. [Robert Rauschenberg]
"Aspekte der Collage in Deutschland" hatte die Hans-Thoma-Gesellschaft in Reutlingen ein Ausstellungsprojekt überschrieben, mit dem sie auf Deutschland beschränkte partielle Einsichten in die Vielfalt einer künstlerischen Ausdrucksform bieten wollte, die mehr ist als nur ein technisches Verfahren. Als solches hat sie eine lange kunsthandwerkliche und -gewerbliche Tradition, ist sie in zahlreichen Kursen nicht nur der Volkshochschulen im Angebot, gibt es für sie Handreichungen der Art "Collage und Collagieren. Anregungen für Schule und Freizeit", Anregungen, die im gleichen Verlag erschienen sind, in dem auch zwei kunsthistorische Standardwerke zum Thema herausgebracht wurden: Herta Weschers "Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart" und Diana Waldmanns "Collage und Objektkunst vom Kubismus bis heute".
Dieses Nebeneinander von kunstgewerblicher Handreichung und kunsthistorischer Darstellung deutet bereits auf ein erstes Problem hin, vor das sich jeder Interessierte gestellt sieht: die gelegentlich fließenden Grenzen zwischen beidem zu erkennen. Ein Phänomen, das sich unter anderem darin begründet, daß sich seit Beginn dieses Jahrhunderts auch nichtakademische Künstler und Dilettanten des Mediums der Collage bedienen, mit z.T. kunsthistorisch anerkannten Beiträgen, ich verweise z.B. auf das Collagenwerk Jiri Kolar', wie umgekehrt ausgebildeten Künstlern der praktische Umgang mit der Collage zu eher spielerischer Handarbeit gerät, weshalb Eberhard Roters in einem Essay über "Die historische Entwicklung der Collage in der bildenden Kunst" z.B. die schönen [...] aus Buntpapier geklebten Bilder und Buntpapiercollagen von Sonja Delaunay-Terk für seine Überlegungen zum Denkprinzip Collage [...] außer Betracht gelassen hat.
Wer sich ernsthaft mit der Collage beschäftigen will, kommt zweitens nicht um eine Kenntnis ihrer Vorgeschichte herum, muß den radikalen Zugriff der Kubisten auf die Technik der Collage um 1912 zu verstehen suchen nicht nur als einen Wechsel der Malweise, sondern als einen grundsätzlichen Wandel des Bildverständnisses. Er wird die Collage lesen müssen als ein künstlerisches Ausdrucksmedium und Prinzip, dem es nicht mehr um wie auch immer geartete Darstellung von Welt geht, sondern um den Prozeß einer Wirklichkeitsaneignung, der - anders als bei der traditionellen Tafelmalerei - als Prozeß im Ergebnis sichtbar bleibt.
Von Heinz Hirscher zu Kurt Schwitters
Geht man von den Geburtsdaten der Ausstellerinnen und Aussteller aus, sind die ältesten, Kurt Schwitters und Hans Arp, 1887, ist die jüngste, Gabriele Straub, 1945 geboren. Es sind also das Ende der Wilheminischen Zeit, Erster Weltkrieg, die Weimarer Republik mit ihren politischen Spannungen, die Zeit der nationalsozialistischen Kunstdiktatur, Zweiter Weltkrieg und der mühsame Versuch, nach 1945 wieder Anschluß an die internationale Kunstentwicklung zu finden, als Hintergrund mitzubedenken, aber auch, daß die Dresdner Hermann Glöckner und Edmund Kesting nach 1945 ein weiteres Mal gezwungen waren, sich mit ihren Arbeiten gegenüber offiziellen Kunstvorschriften zu behaupten.
Geht man von den Exponaten aus, datieren die ältesten Arbeiten mit den Jahren 1919, 1920 [Kurt Schwitters] und 1925 [Edmund Kesting], während alle anderen Exponate nach 1945 entstanden. Was einmal zeigt, daß und wie sehr z.B. in Falle Hans Arps oder Hannah Höchs, deren erste Collagen noch vor den Zürcher bzw. Berliner Dadajahren entstanden, die Collage eine Werkkonstante bleiben konnte. Was sich aber auch daraus erklärt, daß für andere Künstler die Hinwendung zur Collage in der Werkentwicklung begründet sein kann, so z.B. im Falle Adolf Fleischmanns, der erst 1937 zu collagieren beginnt, bei Werner Höll, dessen Collagenwerk mit 1965 ansetzt, oder bei Fritz Klemm, der sich 1971 von der Malerei ab- und der Zeichnung und Collage zuwendet.
Ähnliches gilt für die Künstler dieser Ausstellung, deren Werk erst nach 1945 einsetzt, für Siegfried Cremer z.B., der zunächst Décollagen sammelte, dann aber seit Ende der 80er Jahre auch ein komplexes eigenes Collagen-Werk geschaffen hat, während für Heinz Hirscher das Materialbild ebenso Wasserzeichen seines ganzen Oeuvres bleibt wie das Prinzip MERZ es für Kurt Schwitters war, wenn auch in beiden Fällen von Collagen in einem engen Sinne nur bedingt gesprochen werden kann.
Für Heinz Hirscher gilt dabei ein wesentlicher, ja konkreter Bezug zu Kurt Schwitters, der in die Nachkriegszeit verweist und zugleich einen wichtigen Aspekt der Collage aufzeigt.
1957/58 widmete Heinz Hirscher dem Gesamtkünstler Kurt Schwitters zum 70. Geburtstag ein Materialbild, das sich heute in der Städtischen Galerie der Stadt Stuttgart befindet und dem ich, bezogen auf die Werkentwicklung Heinz Hirschers, die Qualität einer Schlüsselarbeit beimesse. Wobei es mir über die Anekdote hinaus festhaltenswert scheint, daß Heinz Hirscher seine "Hommage à Schwitters" erstmals 1958 in einer Ausstellung "metalldrucke / collagen / materialbilder" der Baden-Badener "Gesellschaft der Freunde junger Kunst" zeigte, in der auch drei Schwittersche Arbeiten aus der Sammlung Vordemberge-Gildewart zu besichtigen waren.
Zum Verständnis der "Hommmage à Schwitters" ist es nützlich, daran zu erinnern, daß deutsche Museen erstmals 1956 und eher zögerlich begannen, den von den Nationalsozialisten entarteten Künstler Kurt Schwitters zu rehabilitieren. In den 60er Jahren erfolgten lediglich zwei weitere Ausstellungen, so daß, als Heinz Hirscher, Werner Schreib und ich 1967 zum 80sten Geburtstag erneut auf Kurt Schwitters hinwiesen, Heinz Hirscher seinen auch im Druck zugänglichen umfangreichen Radio-Essay, "Der MERZ-Künstler Kurt Schwitters und sein Materialbild", eher resignierend schloß:
Man ist den Materialbildern von Schwitters im eigenen Lande bislang nicht gerecht geworden. Die Linie des bildnerischen Denkens wurde unterbrochen, und Klee wird in Stoffdessins und Vorhangmustern aufgebraucht. Daß dies nicht einzutreten brauchte, dafür waren die MERZ-Bilder von Schwitters die beste Voraussetzung, denn sie zeugten für Einmaligkeit in jedem Exemplar. Sie sind in den Sammlungen des Auslands zu finden und werden in der Genealogie unserer aktuellen Kunstwerke selten erwähnt. Ein paar internationale Aspekte, denen man sich gerne verschließen möchte, werden mit ihrem fernen Vorhandensein belegt. Wo sie aber auftauchen, werden sie als dieselbe Kuriosität angesehen wie damals, als sie außer Landes gingen.
Die MERZkunst Kurt Schwitters', seine Materialbilder sind inzwischen nicht nur rehabilitiert, sondern in ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung auch anerkannt. Kaum beachtet sind dagegen bisher die Anregungen, die eine sich neu orientierende Nachkriegsgeneration dem Werk Kurt Schwitters' verdankt, sind einige auffällige Parallelen, Bezüge, aber auch Unterschiede, die ich stellvertretend mit dem Werk Hirschers belegen möchte.
1986 sieht Heinz Hirscher seine Ausgangssituation so:
Am Anfang ist das Material
bei mir Erinnerung an Vergangenes und taucht in dieser Ruinenwelt, in der
wir uns bewegen mußten, auch auf. Es ist schwer zu schildern, wie
es jemandem geht, dessen ganze Welt restlos vernichtet worden war.
Die Frage nach dem Material
ist die Frage nach dem Kunstwerk überhaupt. Weshalb bringen wir 'Material'
soweit, daß es die meisten Menschen als Nichts betrachten? Heute
kann ich zum Materialbild nur sagen, ich habe meine Welt letztendlich dadurch
wiedergefunden und habe für mich dadurch auch ein Spiel, in dem ich
nicht nur Nebukadnezar sein kann, sondern auch moderner Mensch oder auch
nicht. Aber ich frage mich heute noch: wie konnten die Leute nach diesem
Krieg alle wieder so normal werden, wie konnten sie genauso wieder Bankiers
oder sonstwas sein? Wenn man sich aus diesem zerwürfelten und zerschlissenen
Brett Figuren retten müßte, dann waren das archaische Figuren,
wie Könige und dergleichen.
Benennen die beiden Zitate als vergleichbare Ausgangssituation eine jeweils in Trümmern zerscherbte Nachkriegswelt, signalisiert Heinz Hirschers Hinweis auf Nebukadnezar, die archaischen Figuren zugleich den Unterschied.
Ferner unterscheiden sich die beiden Künstler deutlich im Umgang mit den, in der Behandlung ihrer Materialien. Hier ist Heinz Hirscher schon seit seiner Jugendzeit ein um Systematik bemühter Sammler zunächst von Steinen, Fossilien, Schnecken und Pflanzen, nach dem Kriege von Materialien für Kästen voller synthetischer Insekten, Sommervögel, Verpuppungen [Hans-Magnus Enzensberger], und schließlich von Materialien für seine Materialkunst, von alten Hölzern ebenso wie von Farbtönen, kurz gesagt: pflegt er die schwäbische Tugend des Aufhebens.
Einen weiteren Unterschied sehe ich in dem, was ich die religiös-naive Komponente der Werke nennen möchte. Vorhanden ist sie in beiden Fällen, bei Kurt Schwitters etwa im "Merzbau", speziell in der "Kathedrale des erotischen Elends", bei Heinz Hirscher etwa in einem "Marienschrein" von 1961, einer "Ikone der Chlochards von Notre Dame" aus dem Jahre 1968 einer "Mandala-Ikone" von 1972 oder in der "Ikone von der Farbe des Granatapfels" aus dem Jahre 1990.
Collage, Volkskunst, Trompe-l'oeil
Nimmt man noch den "Traktat" nebst "Auszügen aus einem Briefwechsel mit Peter Gorsen", "Über die Reliquie", aus dem Jahre 1966 hinzu, erschließt sich nicht nur für das Werk Heinz Hirschers zugleich eine weitere entscheidende Quelle, die mit dem Begriff Volkskunst zunächst recht allgemein besetzt werden kann.
Volkskunst umfaßt in diesem Verständnis die Tradition der Ikone ebenso wie die Tradition des Schreins mit allem, was an religiösem Kitsch auf und in ihnen Platz fand. Volkskunst bezeichnet aber auch die naive Kunst. Und die konnte Heinz Hirscher 1968 als Stipendiat der Cité Internationale des Arts in Paris auf den Bildern der berühmten Naiven Séraphine, malender Putzfrau des Kunsthistorikers Wilhelm Uhde, studieren, die Erinnerungsstücke wie Grab- und Brautkränze, Augen, Blätter, Äste, verwelkte Blumen [Susanne Kurman-Lutz] zu eigentümlichen Bildern zusammenfügte.
Fast zehn Jahre lang hat Heinz Hirscher sich auf eine Reise durch die fantastische Welt dieser Séraphine gemacht, bis er die Ergebnisse 1978 in der Stuttgarter Galerie Lutz zu einem "Grabmal für Séraphine", 1979 in der Erlanger Galerie Beck zu einem "Strauß für Séraphine" zusammenfügte: zu einer ästhetischen Welt, in der sich Naiv-Sakrales mit Profanem, Elemente der Volkskunst, des Religiös-Banalen mit Elementen alltäglichen Abfalls vieldeutig zusammenfügten, zu einer ästhetischen Welt, die unsere Wirklichkeit, aus deren Fragmenten sie doch letztlich zusammengesetzt ist, poetisch überhöhte.
In der Geschichte der Collage verweisen die Arbeiten Séraphines zugleich zurück auf Vorstufen, eine Geschichte des Klebebilds, die bereits mit den Kunstäußerungen der Primitivkulturen einsetzte in Bildern aus Federn, Blättern und Blüten, gefärbtem Sand, Bast und anderen natürlichen Materialien, die in den Klebearbeiten der Volkskunst ihre Fortsetzung fand und in exemplarischen Beispielen heute in jedem Heimatmuseum zu besichtigen ist. Hinzu kamen Spitzenarbeiten, Scherenschnitte, kleine Papiermontagen, bei denen alle Bildelemente und Details aus farbigem Papier geschnitten und zusammengeklebt waren. Als Scherenkünstlerin u. Kunstgewerblerin (Dilettantin) charakterisiert der Thieme/Becker z.B. die Amsterdamerin Johanna Koerten [1650-1715], eine zu ihrer Zeit hochgeschätzte und auch hochbezahlte Vertreterin dieses Genres, das gelegentlich sogar als eine Vorstufe jener "Papiers découpés" angesprochen wird, die mit Henri Matisse dann Einzug in die großen Kunstmuseen hielt.
Diese vielfältige Volkskunst wurde aber auch kunsthandwerklich genutzt bei Textilapplikationen oder/und vor allem für Intarsienarbeiten. Tische, auf denen allerlei Gegenstände zu liegen scheinen, ein barocker Spieltisch, auf dem Spielkarten in anderem Material so täuschend imitiert sind, daß der Betrachter den Eindruck gewinnt, der Spieler habe nur für einen Moment den Tisch ver- und seine Karten offen liegen gelassen, gehören durchaus noch in diesen Zusammenhang und ordnen sich als kunsthandwerkliche Variante zugleich jener Tradition der Trompe-l'oeil-Malerei seit dem 16. Jahrhundert, dem Bildtyp des Quodlibet zu, auf dem eine Ansammlung unbedeutender Dinge, Briefe und Kuverts, Visiten- oder Spielkarten, aber auch Stiche, Buch- oder Zeitungsseiten, ganz oder im Ausriß, so dargestellt sind, daß man glaubt, die einzelnen Dinge wegnehmen zu können. Der amerikanische Maler John Haberle [1856-1933] kombiniert schließlich den täuschend echt gemalten Gegenstand mit realen Gegenständen ["Time and Eternity"] und vollzieht damit einen entscheidenden Schritt in die Richtung der kubistischen Collage.
Materialisierung der Trompe-l'oeil-Technik
Wenn über die Collagen Pablo Picassos und Georges Braques gesprochen wird, erwartet man unter anderem die Diskussion von Pablo Picassos "Stilleben mit Rohrstuhlgeflecht" aus dem Mai 1912. Dieses heute im Musée Picasso aufgebahrtes "Stilleben [...]" kam seinerzeit, wie Hélène Seckel keinesfalls übertreibt, einer Sensation gleich, weil hier erstmals und ohne daß der Maler noch irgend ein Zeitgenosse die Konsequenzen für die Kunst des 20. Jahrhunderts auch nur ahnen konnten, ein Gegenstand nicht mehr nur möglichst realistisch, sondern konkret als er selbst wiedergegeben wurde. Wobei die Pointe darin besteht, daß dieser konkrete Gegenstand, die ins Bild eingebrachte Wachstuchdecke, ihrerseits in schönster Trompe-l'oeil-Tradition eine Realie, das Rohrstuhlgeflecht eines Stuhles, vortäuscht, die zitierte Realität sich also wiederum illusionistisch aufhebt oder aber als eine Wirklichkeit, die nur Schein ist, zitiert.
In die Tradition der Trompe-l-oeil-Malerei gehört auch Georges Braques realistisch, mit logischem Schatten gemalter Nagel ["Geige und Palette", 1909], den er 1910 in "Violine mit Krug" noch einmal verwendet, diesmal jedoch, ohne seine Palette daran zu hängen. Dieser in der Literatur inzwischen häufig bemühte Nagel ist von Daniel-Henry Kahnweiler als erste jener realen Einzelheiten benannt worden, in deren Kontext es zu Collage und papier collé gekommen sei. Dieser lange gültigen Auffassung der Vorwegnahme jener eigentlichen Einführung des 'Realen' ist neuerdings von William Rubin, widersprochen worden, der in George Braques Trompe-l'oeil-Nagel allenfalls eine[n] subtile[n] künstlerische[n] Gag sehen will, der auf die Prämissen des kubistischen Stils lenke, indem er anzeige, was genau dieser eben nicht sei. Ich kann mich dem nicht anschließen, möchte es vielmehr mit Daniel-Henry Kahnweilers Einschätzung halten, denn der Schritt von diesem realistisch gemalten Nagel, an den Georges Braque seine Palette hängt, zu jenen konkreten Nadeln, mit denen kurze Zeit später er und Pablo Picasso auf ihren Arbeiten Papiere festheften, probeweise, aber gelegentlich auch, ohne sie anschließend zu kleben, was heißt: ohne die Nadeln zu entfernen, dieser Schritt scheint mir handwerklich ähnlich naheliegend und folgerichtig wie der Schritt von der gemalten Holzimitation [in der Tradition der Trompe-l'oeil-Malerei] zur Verwendung einer Holzmaserung vortäuschenden Tapete [faux bois], wie der Schritt von der Schablonenschrift zur freien Einschrift von Buchstaben, Wortfragmenten oder Wörtern in das Bild und schließlich zum Einkleben kleinerer oder größerer Zeitungsausschnitte oder Notenblätter.
Achtet man einmal genauer auf diese Ablösungen und interpretiert sie als Materialisierung der Trompe-l'oeil-Technik, als Ersetzung von Scheinrealem durch reale Gegenstände, wird im konkreten Fall verständlich, was gemeint ist, wenn die Kunstgeschichte davon spricht, Georges Braque und Pablo Picasso hätten eine vollständige Demontage der Zentralperspektive angestrebt. Seit der Renaissance bot die Malerei ein Theaterbild der Realität [Diana Waldmann], dessen wesentliche Voraussetzung die Zentralperspektive war. Sie war aber, neben einer eindeutig definierten Raumsituation und Beleuchtungsrichtung [Lichtperspektive], auch unerläßliche Voraussetzung für die Trompe-l'oeil-Malerei. Wenn Georges Braque und Pablo Picasso also die Zentralperspektive demontieren wollten, konnte dies nur geschehen, indem sie den Trompe-l'oeil-Nagel durch die reale Stecknadel, die gemalte Holzmaserung durch faux bois, die Ein- und Inschriften durch eingeklebte Zeitungen, die gemalten Noten durch Notenblätter ersetzten usw.. Was heißt, daß in der ästhetischen Diskussion, die die beiden Künstler damals auf ihren Bildern/Collagen führten, diese Demontage der Zentralperspektive praktisch vorexerziert wird, wobei das traditonelle Stilleben, dem die Trompe-l'oeil-Malerei ja am Rande zugerechnet wird, mit auf der Strecke bleiben mußte, weil die genannten Schritte gleichzeitig die traditionell harmonische Beziehung von Gegenstand/Figur und Grund gleichsam flachlegten, so daß die Gegenstände/Figuren jetzt aus der Bildfläche nach vorne zu kommen schienen.
Es sind keine Spitzfindigkeiten, beim Lesen dieser Diskussion in Bildern/Collagen noch auf Kleinigkeiten zu achten, z.B. darauf, daß auf einem von Pablo Picasso der Collage Notenblatt und Gitarre eingeklebten Liedblattfragment die zweite Zeile mit morts beginnt, was außer der angespielten Vanitas-Thematik auch nature morte [= Stilleben] assoziiert.
Auch die häufigeren Hugo-Anspielungen Pablo Picassos, etwa in "Palette, Pinsel und Buch von Victor Hugo", könnten über den Beleg hinaus, daß Pablo Picasso mit Werk und Biographie Victor Hugos vertraut war, als Hintersinn den Verweis auf Hugos Doppelbegabung enthalten, seine bildkünstlerische Experimentierfreude, die ihn z.B. Formen aus schwarzgefärbtem Papier ausschneiden und aufkleben ließ, um sie dann mit dem Pinsel in z.T. schwarzromantische Landschaften zu verwandeln, oder umgekehrt die ausgeschnittenen Formen auf weißen Grund mit weichem Stift überreiben ließ, um dann die Negativformen mit dem Pinsel zu interpretieren, was Pablo Picasso die Anregung zu vergleichbaren Collagen gegeben haben könnte.
Einschränkung der Fragestellung
Ich kann und will bei meiner Skizze historischer Aspekte keinesfalls die Entwicklung der Collage, ihre Vielfalt, ihre sich schnell ausprägenden Spielformen und ihre Geschichte im einzelnen nachzeichnen, z.B. Wechselbeziehungen und Unterschiede zwischen der kubistischen und der Collage des italienischem Futurismus aufzeigen oder Prioritätenstreit fortsetzen, z.B diskutieren, ob die russischen Futuristen Michael Larionov und Natalia Gontscharowa die Collage gleichzeitig mit und unabhängig von den Kubisten erfunden haben oder nicht, wobei Michael Larionov nicht nur von russischer Volkskunst, sondern auch von unbekannten Experimentalstudien Alexander Iwanows angeregt gewesen sein soll [vgl. dazu Eberhard Steneberg]. Ein solches Streiten um Prioritäten ist schon deshalb müßig, weil das fast gleichzeitige und massive Auftreten der Collage in Europa und Amerika [New York], die oft verblüffenden Parallelen der Ergebnisse die kulturgeschichtliche Erfahrung bestätigen, daß gewisse Ausdruckszwänge, die in einer bestimmten Epoche in der Luft liegen, überraschend gleichzeitig Gestalt gewinnen können.
Obwohl über sie ein Bezug zu Edmund Kesting herstellbar wäre, werde ich auch nicht eingehen auf die Collage im Konstruktivismus, da sie sich mit den einschlägigen Arbeiten von El Lissitzky, Robert Michel und Ella Bergmann-Michel, Friedrich Vordemberge-Gildewart und Willi Baumeister, der nach eigenem Bekunden bereits 1911 mit Oskar Schlemmer "Klebebriefe" gewechselt hatte, recht heterogen darstellt. Ich konzentriere mich stattdessen auf Collagen des Zürcher und Berliner Dadaismus, sowie ihre Ausformung in der MERZkunst Kurt Schwitters'.
Es gehört, bedingt durch die Fixierung der Forschung auf das Cabaret Voltaire und seine Programme, zu den weitverbreiteten Vorurteilen, das Schwergewicht des Zürcher Dada habe im literarischen Bereich gelegen. Die literarischen Produktionen [Hugo Balls "Verse ohne Worte", Tristan Tzaras "Manifeste", Hans Arps "wolkenpumpen"], die automatischen Gemeinschaftsdichtungen Hans Arps, Walter Serners und Tristan Tzaras, wie schließlich die typographischen Extravaganzen der Publikationen seien jedoch als Parallele zur bildkünstlerischen Collage zu betrachten [Eberhard Roters]. Ein solches Vorurteil unterschlägt die Rolle der bildenden Kunst in und für die Zürcher Dada-Veranstaltungen, z.B. eine Kandinsky-Ausstellung, überliest, daß Hans Arp und Marcel Janco auf dem ersten Dada-Abend am 14. Juli 1916 "Erläuterungen zu eigenen Bildern" gegeben haben, wobei es sich im Falle Hans Arps um "Papierbilder", also Collagen gehandelt hat, verstellt den Blick auf die hier ebenfalls einschlägigen "Schadographien" Michael Schads oder die collagierten Masken, Objekte und Reliefs Macel Jancos.
Vor allem das Collagenwerk Hans Arps, das bereits 1914 in Paris einsetzt, wo er durch Max Jacob auch bei Pablo Picasso eingeführt wurde, bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Nach statische[n], symmetrische[n] Konstruktionen, Torbögen pathetischer Konstruktion, Pforten ins Reich der Träume [Hans Arp], werden 1915 in Zürich für die Collagen Papiere aller Art und Provenienz, die sich vom kubistischen Fundus kaum unterscheiden, zu abstrakten Kompositionen übereinandergelegt, dann ausgebreitet, womit ohne Frage Hans Arp die Gegenstandslosigkeit in die Geschichte der Collage eingeführt hat, darin bestärkt von Sophie Taeuber, die er im November 1915 in einer Ausstellung kennen lernt, in der auch Klebearbeiten von ihm gezeigt wurden.
Folgende Aspekte sind für Arps Collagen nicht nur der damaligen Zeit wichtig.
1. der Aspekt der zeitweiligen Gemeinschaftsarbeit, die Hans Arp in der Dichtung zusammen mit Walter Serner und Tristan Tzara betrieb, später zusammen mit Max Ernst, mit dem er auch gemeinsam collagierte, zunächst aber und vor allem mit Sophie Taeuber.
Einzeln und gemeinsam, erinnert er sich, stickten, woben, malten, klebten wir geometrische, statische Bilder. Unpersönliche, strenge Bauten aus Flächen und Farben entstanden. Keine Flecken, keine Risse, keine Fasern, keine Ungenauigkeiten sollten die Klarheit unserer Arbeit stören. Für unsere Papierbilder wurde sogar die Schere, mit der wir zuerst diese Arbeiten ausschnitten, verworfen, da sie zu leicht das Persönliche durch die Hand verriet. Wir bedienten uns fortan der Papierschneidemaschine. Wir versuchten uns demütig der 'reinen Wirklichkeit' zu nähern. Es war die Kunst der Stille, die wir übten. Sie wendet sich von der Außenwelt der Stille dem inneren Sein, der inneren Wirklichkeit, der reinen Wirklichkeit zu.
2. Dieses [gemeinsame] Arbeiten und die neuen Materialien sollten dabei das Persönliche bis zur Anonymität zurücknehmen, eine entpersönlichte Kunst schaffen. Entsprechend verweist Hans Arp an anderer Stelle auf das Vorbild der anonymen mittelalterlichen Künstler, firmieren Arp/Serner/Tzara bei ihren Gemeinschaftsdichtungen als "Société anonyme pour l'exploration du vocabulaire dadaiste".
Vergleichbar hatten bereits George Braque und Pablo Picasso in der Zeit der engsten Zusammenarbeit, als Zeichen unpersönlicher Autorschaft [Georges Braque] oft darauf verzichtet, ihre Arbeiten zu signieren. Und auch bei Hannah Höch klingt dies noch an, wenn sie über ihr und Raoul Hausmanns Arbeitsverfahren festhält: Wir nannten diese Technik Photomontage, weil dies unsere Aversion enthielt, den Künstler zu spielen. Wir betrachteten uns als Ingenieure, wir gaben vor, zu konstruieren, unsere Arbeit zu 'montieren' (wie ein Schlosser).
3. Im Unterschied zu Braque/Picasso und Höch/Hausmann sollten Hans Arps und Sophie Taeubers Arbeiten mit Papier [und auch anderen Materialen] aber nicht nur mit einem traditionellen Selbstverständnis des Künstlers, mit der Ichsucht der Ölmalerei, die Hans Arp an anderer Stelle einer überheblichen, anmaßenden Welt zuordnet, brechen, sie wollten zugleich der Kunst - vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen Welt - neue Aufgaben zuweisen: die bestimmte Unbestimmbarkeit, die größte Bestimmtheit.
Anders als Georges Braque und Pablo Picasso ging es Hans Arp [und Sophie Taeuber] also nicht um Integration von Realität ins Kunstwerk, sondern praktisch umgekehrt um die Bewältigung der Realität durch die Kunst. Die Kunst, notierte Hans Arp dies bereits 1915, soll zur Wirklichkeit führen, womit nicht eine objektive Wirklichkeit oder Realität, auch nicht eine subjektive, gedankliche Wirklichkeit, sondern eine mystische Wirklichkeit gemeint sei. Entsprechend charakterisierte er später die Arbeiten der damaligen Zeit sogar als Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser, die in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen sollten.
Diese philosophisch/religiöse Komponente gilt auch für die dann folgenden Collagen Hans Arps, die er nach dem Gesetz des Zufalls ordnet, einem Gesetz, welches alle Gesetze in sich begreife und uns unfaßlich sei wie der Urgrund, aus dem alles Leben steige. Ein Gesetz, das nur unter völliger Hingabe an das Unbewußte erlebt werden könne, das aber in seiner Befolgung reines Leben erschaffe.
Reines Leben, reine Wirklichkeit, mystische Wirklichkeit waren also und blieben die erklärten Ziele [nicht nur] des Arpschen Collagenwerks, in dem nach den streng geometrischen Arbeiten und den Zufalls-Collagen, diese gleichsam fortführend, Arbeiten entstanden, die in einem zweiten Schritt das Gesetz des Zufalls durch Zerreißen wieder aufhoben, um formal und bewußt eine neue Komposition zu schaffen.
Es gehören hierher ferner jene Konfigurationen biomorpher Formen, die Hans Arp aus natürlichen Formen abtrahiert hatte: Bald darauf fand ich entscheidende Formen. In Ascona zeichnete ich mit Pinsel und Tusche abgebrochene Äste, Wurzeln Gräser, Steine, die der See an den Strand gespült hatte. Diese Formen vereinfachte ich und vereinigte ihre Wesen in bewegten Ovalen, Sinnbildern der ewigen Verwandlung und des Werdens der Körper.
Und noch die papiers déchirées, die Collagen aus zerrissenen automatischen Zeichnungen oder die späteren Duo-Zeichnungen Sophie Taeubers und Hans Arps von 1939, deren Abbildungen Hans Arp einige Jahre nach dem Tode Sophie Taeubers zerrissen und collagiert hat, sind in diesem Kontext zu verstehen.
Gaben sich Arp und seine Freunde angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges in Zürich den schönen Künsten hin, auf der Suche nach eine[r] elementare[n] Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine[r] neue[n] Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte, gingen die Berliner Dadaisten, je nach Temperament, in ihrem gesellschaftskritischen Engagement die Wirklichkeit direkt an.
Am radikalsten geschah dies in den Fotomontagen John Heartfields, die in ihrer Ausformung einer operationellen, politischen Gebrauchskunst oft nur als ein Randgebiet der künstlerischen Collage gewertet wurden. Ich werde auf sie hier nicht weiter eingehen, auch nicht auf die Collage-Elemente, die Kombination unterschiedlichster Techniken in der Kunst George Grosz', der z.B. in "Denkt an Onkel August, den unglücklichen Erfinder" [1919] auf der Grundlage eines Gemäldes so unterschiedliche Elemente [Techniken] wie Kohlezeichnung, ausgeschnittene Zeitungsinserate, Fotomontage und sogar angenähte Knöpfe kombinierte, um den Menschen als Abhängige[n] seines Mechanismus zu entlarven [Eberhard Roters].
George Grosz und John Heartfield müssen in diesem Zusammenhang aber wegen eines weiteren Prioritätenstreits wenigstens genannt werden, der um die Erfindung der Fotomontage geführt wurde, obwohl die Erfindung der Fotomontage bereits in der Geschichte der Fotografie erfolgt war in z.B. scherzhaften Ansichtskarten, auf denen Köpfe ausgetauscht bzw. eingeklebt wurden. Zu fragen wäre stattdessen nach der ersten künstlerischen Umsetzung und Nutzung dieser Technik. Und hier sind die Ergebnisse bei George Grosz', John Heartfield auf der einen, bei Hannah Höch und Raoul Hausmann auf der anderen Seite so unterschiedlich, daß diese Frage im augenblicklichen Zusammenhang vernachlässigt werden darf.
Die Selbständigkeit insbesondere des Collagenwerks von Hannah Höch, die lange Zeit im Schatten des Berliner Club Dada, seiner spektakulären Unternehmungen, aber auch im Schatten Raoul Hausmanns gestanden hatte, wird in den letzten Jahren endlich entdeckt. Es ist keine Frage, daß Hannah Höch in vielem auch von den Berliner Künstlerfreunden angeregt wurde. Das ließe sich im Vergleich zu den Collagen und Fotomontagen Raoul Hausmanns wie allgemein der Berliner Dadaisten leicht aufzeigen, etwa im Umgang mit menschlichen Formen, Proportionen und dabei besonders mit dem Kopf als Sitz des Intellekts und der Kreativität, um sich über die Ideen des Nationalismus lustig zu machen [Diana Waldmann]. Man denke etwa an Raoul Hausmanns "Der Kunstkritiker" [1919/20], seinen "Holzkopf" [1919] im Vergleich zu Hannah Höchs "Der Vater" [1920], oder an ihren disproportionierten "Dada-Tanz" [1922], dem durch den eingeklebten Text [Der Höllenüberschuß fällt in die Kasse des Pfarrers Klatt für unschuldige Verbrecherkinder] eine die Bildcollage überschreitende Disharmonie zugeordnet wird.
Aber "Der Vater" und "Dada-Tanz" zeigen zugleich, daß sich Hannah Höch dabei durchaus eine Eigenständigkeit zu wahren gewußt hat, indem sie zwar aufnahm, was sie brauchen konnte, es aber stets auf eigene Weise sich anzuverwandeln verstand. Und es spricht für ihre Werkbreite, daß neben Arbeiten, die im Kontext des Berliner Dada zitiert werden - "Schnitt mit dem Küchenmesser durch die erste Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands" [ca. 1919]; "Meine Haussprüche" [1922].
Andersgeartetes wie die Serie der "5"-Aquarelle entsteht, die eine Vertrautheit mit dem Werk des russischen Futuristen Iwan Puni andeuten, mit dessen Frau Hannah Höch befreundet war, daß sich zahlreiche Hinweise auf den befreundeten Kurt Schwitters, der ihrem Vornamen die heutige Schreibweise gab, ebenso wie speziell auf Hans Arp finden, den Hannah Höch einen der Stillsten nannte und zu de[n] musischten Menschen rechnete, die ihr in ihrem Leben begegnet seien. Die beiden Collagen "Schnurenbild" und "Huldigung an Hans Arp" [beide von 1923/1924] zeigen zugleich, daß es Hannah Höch auch um 'Korrespondenz' ging, wenn sie in der "Huldigung [...]" die Verpackung einer Postsendung Hans Arps an sie einschließlich der Schnüre und Siegellackstempel zum Gegenstand macht. Rechnet man hinzu, daß sie bereits vor ihrer Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Raoul Hausmann mit Klebebildern aus Schablonen oder grafischen Bruchstücken ["Weiße Wolke", 1916; verschollen], aus Spitzen und Schnittmusterbogen [seit 1917] begann, daß sich die Collage in den unterschiedlichsten Ausformungen wie ein roter Faden durch ihr ganzes Oeuvre zieht, wird die Rolle Hannah Höchs in der Geschichte der Collage und ihrer Spielformen erst eigentlich deutlich, bestätigt sich, daß sie den Männern, in deren Schatten sie lange stand [...] - mit Ausnahme vielleicht von Kurt Schwitters, dem Wesensverwandten - eines voraus hatte: Ihre Vielfalt. Sie montiert[e] auf breiter Front - in Assamblagen, Photomontagen, abstrakten Collagen, in konstruktivistischer Richtung [Heinz Ohff].
Ich finde, hat Hannah Höch das Prinzip ihrer Arbeit nicht nur für die Fotomontage beschrieben, - Ich finde irgendwo etwas Nebensächliches, je nebensächlicher desto besser - etwas Nichtssagendes, das aber meine Phantasie schlagartig anregt und mich zu einer Aussage zwingt. Diese wird dann systematisch erarbeitet. Das heißt, daß von nun an Zufälliges kaum noch eindringen darf, nicht im Formaufbau, nicht in der Farbe, nicht im Inhalt (sofern einer angestrebt wird). Das heißt auch, daß im weiteren Fortgang der Arbeit ein oft mühseliges Suchen nicht aufhört.
Dieses Unterdrücken alles Zufälligen bei der Arbeit unterscheidet ihre Arbeiten nicht nur von der Zufallsästhetik Hans Arps, es verrät auch ein ganz anders gerichtetes Interesse an Wirklichkeit. Speziell in den Fotomontagen Hannah Höchs [und Raoul Hausmanns] geht es nicht um eine gegen die banale Realität entworfene reine Wirklichkeit, aber auch nicht mehr nur um die Aufnahme von Realitätsfragmenten in die ästhetische Wirklichkeit des Bildes, vielmehr gingen Hannah Höch [und Raoul Hausmann] bei der Benutzung von fotografischem und Reproduktionsmaterial von vorgegebenen Abbildern der Wirklichkeit, einschließlich ihrer Retuschen und Fälschungen, aus. Der ursprüngliche Kontext der Abbildung, [des Fotos, der Reproduktion] war immer mitgedacht, wenn ihre Ausschnitte und Bruchstücke zu einer neuen, überraschenden Bildwirklichkeit zusammengesetzt, montiert wurden, die nicht nur die Abbildung ironisch kontrastierte, sondern zusätzlich einen eigenen, meist satirischen Bildwitz entwickelte, der auf die ursprüngliche abgebildete Wirklichkeit zielte: ein Spiel mit doppeltem Boden, das dadurch möglich wurde, daß Realität nicht direkt sondern aus zweiter Hand, als Abbildung ins Bild kam.
Aber noch ein Drittes unterscheidet diesen Typus von Collage von den anderen bisher vorgestellten Spielformen, ihr 'erzählerisches' Moment. Man kann nicht nur, man muß sie regelrecht lesen, wie es beispielhaft Eberhard Roters für den "Schnitt mit dem Küchenmesser [...]" vorgeführt hat, indem er zeigte, daß eine Aufzählung des Grundes [Japanpapier] und der auf ihm kombinierten technischen Gegenstände und Abbildungen aus Illustrierten allenfalls für eine Analyse ausreichen, daß ihre Interpretation dagegen erst möglich wird, wenn der Betrachter den offiziellen Teil der Collage [oben] vom künstlerischen und Privatbereich [unten] trennt, wenn er die [rechts oben] thematisierte Reaktion und die [links unten] zitierte Revolution ebenso als Antithese liest wie den Geist der Zeit [links oben] und das unglückliche Europa [rechts unten], wenn er die obere Mitte des Bildes als Balance-Akt der Republik interpretiert, wobei die eingeklebten Köpfe wie die eingeschriebenen Sätze und Satzfragmente zusätzliche Kontexte andeuten.
Dieses erzählerische Moment wird unterstützt durch die vom Bild nicht zu trennenden Titel, die deshalb auch - wie beim "Dada-Tanz" - als Einschrift gegeben sein können. Max Ernst wird kurze Zeit später diese 'Erfindung' der Berliner Dadaisten fortsetzen, nun aber nicht mehr aus den Abbildern des Alltäglichen das Montagematerial für Kritik und politische Satire gewinnen, sondern aus dem Zerschneiden und Montieren alter Klischees groteske Traumwelten in zugleich bedrohliche wie heitere Bildergeschichten überführen.
Gelesen werden will auch die MERZkunst Kurt Schwitters', wie sich an zwei weniger bekannten Collagen gut demonstrieren läßt. Auf der frühen MERZzeichnung "Bommbild" versammelt Kurt Schwitters z.B. Handzeichnung, Einschrift, unterschiedliche Papiere, das Randstück eines Briefmarkenbogens und zwei dreieckige Zeitungsausschnitte. Die einzelnen Elemente sind einander flächig zugeordnet. Farblich kontrastieren die Braun/ Rottöne der Papiere mit dem Schwarz/Grau der Zeichnung und der Zeitungslettern. Ikonographisch lassen sich die Elemente der Zeichnung als Fenster/Dachluke [rechts oben], als Kreise [rechte Bildhälfte], eventuell als Zifferblatt ohne Ziffern [rechts unten und Mitte] oder auch schon als das für die frühen MERZzeichnungen charakteristische Räderwerk deuten. Die Zeitungsausschnitte verweisen fragmentarisch auf Kriegsende, Reichsregierung, Rußland, Militärisches, zitieren also politische Aktualität, wenn auch nicht so konkret, wie manche Collage oder Fotomontage der Berliner Dadaisten. Zu erklären bleibt die rätselhafte Einschrift BOMM, die der MERZzeichnung den Titel gab. Bei den meist verkürzten Schwitterschen Zitaten muß sie wahrscheinlich zu Bomme ergänzt werden, was in Berlin, wo sich Kurt Schwitters damals häufiger aufhielt, soviel wie Kopf bedeutet und sich vielleicht auf die Kopfcollagen der Berliner Dadaisten beziehen ließe. [In Parenthese: Die Zuschrift unverkäuflich unter dem Titel datiert das "Bommbild" sehr wahrscheinlich vor die erste Ausstellung von MERZbildern und -zeichnungen in der Berliner Galerie Der Sturm am 29. Juni 1919.] Bomme entspricht aber auch dem niederdeutschen Bung, bungen, was nach dem Grimmschen Wörterbuch mit Trommel, trommeln zu übersetzen wäre. Bunge wird ferner, wegen ihrer Form, im Niederdeutschen auch die Fischreuse genannt. Das ergibt einschließlich des Pfeils unter BOMM, der auf den frühen MERZarbeiten Kurt Schwitters' in der Regel die Leserichtung angibt, bereits eine Fülle von auch semantischen Bezugsmöglichkeiten, die der Künstler vorschlägt, die der Betrachter/Leser aber erst herstellen muß.
Ähnliches gilt für die formal wesentlich strengere MERZzeichnung 91, "89 Weggruß" aus dem Jahre 1920, auf der sich ein Zeitungsausriß, mehrere unterschiedlich große Paket- bzw. Kofferaufkleber, ein Express-Etikett, das Etikett einer Cigaretten- oder Cigarrenschachtel [wer will, kann hier an das 'konkrete' Gedicht "Cigarren [elementar]" aus dem Jahre 1921 denken] und ein Straßenbahnfahrschein identifizieren lassen. Die Inschriften auf dem Straßenbahnfahrschein und einem der beiden Koffer- bzw. Paketaufkleber sind zu Dresden zu komplettieren und benennen den Ort, an dem Kurt Schwitters von 1909 bis 1914 die Akademie besuchte, einen Ort, dem er in seinem künstlerischen Werk stets Treue bewahrt hat. Noch kurz vor seinem Tode collagierte er eine Kunstpostkarte nach einer Arbeit Corregios, die er aus der Dresdner Gemäldegalerie kannte.
[Das Thema Dresden im Gesamtwerk Kurt Schwitters' ist so komplex, daß es sich in kurzer Zusammenfassung nicht darstellen läßt. Hier sei der Interessierte auf Annegreth Nills "Ikonographischen Beitrag", "Die Handlung spielt in Dresden", verwiesen, der nicht nur wichtiges Material zusammenträgt, sondern auch konkret vorführt, wie sich die hier einschlägigen Arbeiten [auto]biographisch lesen lassen.]
Zu diesem "Ikonographischen Beitrag" bietet die dort nicht berücksichtigte "MERZzeichnung 91" eine interessante Ergänzung und zugleich ein Rätsel, muß doch beim augenblicklichen Stand der Schwittersforschung offen bleiben, wem der mit 1920 datierte "Weggruß" gilt. Den alten und neuen Freunden in Dresden, wo Kurt Schwitters 1919, nach ihrer ersten Präsentation in der Sturm-Galerie, eine frühe Ausstellung seiner MERZbilder und -zeichnungen hatte? Dann hätten die verwendeten Materialien die Qualität banaler Erinnerungsstücke. Oder handelt es sich um einen "Weggruß" aus Dresden, für den allerdings erst eine Reise nach Dresden im Jahre 1920 nachzuweisen wäre? Entscheidend bleibt aber in jedem Fall die Zweideutigkeit von Weg und/oder weg.
Selbst eine verkürzte Diskussion der beiden MERZzeichnungen deutet also bereits an, daß Kurt Schwitters' Verhältnis zur Realität und seine Handhabung der Collage anders geartet sind als bei den mit ihm befreundeten Hannah Höch, Raoul Hausmann oder Hans Arp.
Für Kurt Schwitters, aber auch für andere Dadaisten, hatten sich die bürgerlichen Kunst- und Moralvorstellungen durch die Realität des Ersten Weltkriegs selbst korrumpiert, war jede traditionelle Ordnung der Werte durch eine als wahnsinnig empfundene Zeit aus den Angeln gehoben. Wir suchten, zitierte ich bereits Hans Arp, eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte. Und ich ergänze: Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik, denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich ist.
Nicht viel anders wie Hans Arp hier die Dichtung, definiert Kurt Schwitters seine MERZkunst, die sich nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlicher Werkzeuge bediene.
Dabei ist es unwesentlich,
ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt
waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und
die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler
schafft durch Wahl, Verteilung und Entformung der Materialien.
Das Entformeln der Materialien
kann schon erfolgen durch ihre Verteilung auf der Bildfläche. Es wird
noch unterstützt durch Zerteilen, Verbiegen, Überdecken oder
Übermalen. Bei der MERZ-Malerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte,
der Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder Bleistiftstrich
zur Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes Butterbrotpapier
zur Lasur, Watte zur Weichheit.
Die MERZ-Malerei erstrebt
unmittelbaren Ausdruck durch die Verkürzung des Weges von der Intuition
bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes.
Diese Verkürzung des Weges von der Intuition zur Sichtbarmachung, diese Gleichgültigkeit allen Materialien gegenüber führten Kurt Schwitters zu einer Materialkunst, für die erstens jeglicher Zivilisationsabfall als mögliches, verteilbares und entform[el]bares Material unter anderem galt. Da die Abfälle der Zivilisation z.T. aber auch lesbar waren, sprengte dies zweitens die Grenzen des nur anschaubaren Bildes in Richtung der Literatur, erfolgte zugleich eine Grenzüberschreitung, die in beiden Richtungen funktionierte.
In einem für das Verständnis seiner Kunst eminent wichtigen, schon im Dezember 1919 entstandenen Aufsatz "Merz" erklärte Kurt Schwitters schließlich:
Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos. Das Kunstwerk entsteht durch das künstlerische Abwerten seiner Elemente.
Dieses Kunstwerk, erhaben und banal [Leben], undefinierbar und zwecklos, konnte sich für den, der es schaffen wollte, nicht mehr nur auf eine Gattung bzw. Kunstart beschränken. So fährt Kurt Schwitters in seinem Aufsatz denn auch fort:
Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.
Kurt Schwitters hat dieses MERZgesamtkunstwerk nicht geschaffen, aber er blieb mit seinen MERZgedichten und Collagen, die er MERZzeichnungen nannte, mit seinen Assemblagen, die er MERZbilder nannte, und schließlich seinem dreimal begonnenen MERZbau in immer neuen Ansätzen auf dem einmal eingeschlagenen Weg, die Welt, wie sie sich ihm in ihren Abfällen und damit in ihrer banalen und trivialen Wirklichkeit darstellte, zu vermerzen, auf einem Weg, der dem erzromantischen Plan, die Welt zu poetisieren, gleichsam im Gegenzug durchaus entsprach, einschließlich des beiderseits sympathischen Scheiterns. Zugleich bestimmen dieser Versuch Kurt Schwitters', aus den Abfällen des Alltags und der Zivilisation Kunst zu machen, sein utopischer Plan, Kunst und Nicht-Kunst zu einem Merz-Gesamtweltbilde zu vereinigen, seinen Platz auch in der Geschichte der Collage.
Ein Aufriß Skizze ihres entwicklungsgeschichtlichen und formalen Panoramas, vor dem sich die hier einschlägigen Werke der letzten Jahrzehnte als Akt der colonization [Wystan Hugh Auden] begreifen lassen, muß einen Typus wenigstens noch skizzieren: den Typus der Décollage, des Plakatabrisses, der im Umfeld des Nouveau Réalisme erneut das Augenmerk auf die großstädtische Realität und hier speziell ihre Plakatwelt richtete.
Zwei Vorbemerkungen sind für die Kunst der Décollagisten, oder, wie sie sich selber nannten, Affichisten wichtig:
Bereits seit 1949 'sammelten' sie Plakatabrisse und arbeiteten kurz nach ihren ersten Abreißaktionen an einem Film mit dem Titel "Gesetz vom 29. Juli 1881", ein Titel, den sie auch der ersten Ausstellung ihrer 'Sammlung', 1957 in der Galerie von Colette Allendy, gaben.
Dieses Gesetz vom 29. Juli 1881 verbot sowohl das wilde Plakatieren auf wie das Abreißen der Plakate von für öffentliche Anschläge reservierten Flächen. Raymond Hains und Villeglé erklärten also, indem sie das Datum des Inkrafttretens dieses Gesetzes ausdrücklich zitierten, das anonyme Beschädigen von Plakatwänden und die Entwendung von zerrissenen Plakatflächen als doppelten politisch subversiven Akt [Annelie Lütgens]. Und sie überschritten gleichzeitig mit ihrer Ausstellung die Grenze zwischen öffentlichem [Plakatwand] und der Kunst zugewiesenem Raum [Galerie/Museum], zwischen anonymer Aktion und persönlicher Zurschaustellung.
Für die Geschichte der Collage ist dabei festzuhalten, daß die Affichisten die von fremder Hand, von anonymen Passanten zerstörten Plakate als Kunst deklarierten und damit in Frage stellten, was für die Collage bisher Voraussetzung war, das Handwerk des Künstlers. Damit sollte die Décollage ein weiteres Mal den Anspruch schöpferischer Individualkunst konterkarieren, der, nach seiner Demontage in Dada und Surrealismus, in der subjektiven Kunst der abstrakten Malerei und des Informel nachdrücklich wieder erhoben worden war.
Bei diesem Rundumschlag der Affichisten wurden sogar die Kubisten mit bedacht, als Villeglé die Décollage von der Collage unterschied als ein Objekt [...], das anfänglich auf eine Fläche fixiert oder geklebt war, abgerissen oder weggenommen [...] und dann ohne neue Verknüpfung als eine eigenständige Komposition betrachtet wird. Dieses Objekt besteht für sich ohne die geringste Zufügung, ohne Arrangement. [...] Was ist eine Collage? Eine kubistische Erfindung, die darin bestand, eine Kohlezeichnung durch Einfügung einer blauen Gauloise- oder grauen Tabakpackung zu kolorieren. [...] In Deutschland beschränkte sich Kurt Schwitters auf Abfälle und Billets, die unsere alltäglichen Aktivitäten begleiten, wie z.B. eine Busfahrkarte. [...] Das Gauloise-Paket oder die Busfahrkarte waren nichts anderes als Elemente der Malerei.
Daß man so einfach mit der kubistischen Collage nicht abrechnen kann, liegt auf der Hand, und bezeichnender Weise beschränkten sich andere Affichisten denn auch nicht auf Objekt[e] ohne die geringste Zufügung, ohne Arrangement. Für den Italiener Mimmo Rotella, den letzten der wichtigen Affichisten, der erstmals 1954 seine römischen Plakatabrisse ausstellte, war z.B. der auf Leinwand aufgezogene Plakatabriß erst der Ausgangspunkt weiterer Bearbeitung.
Plakate von den Wänden abreißen, das ist meine persönliche Form des Protestes gegen eine Gesellschaft, der die Freude an der Veränderung, der Sinn für phantastische Umgestaltungen verloren gegangen ist. Ich selbst klebe Plakate und reiße sie dann wieder ab: Daraus entstehen neue, unvorhersehbare Formen. [...] Ich reiße meine Plakate zuerst von den Wänden ab, dann vom Bildgrund. Eindrücke, Einfälle, Anreize häufen sich in Fülle, stoßen und drängen sich zwischen dem ersten und letzten Abreißvorgang. Dabei geht es nicht nur um abstrakte Farben. [...] Wenn meine Erforschung der Farbe die Materie einbegreift, dann verwandelt sich die Bedeutung, es kommt etwas Dramatisches heraus.
Diesem Sinn für Dramatisches kamen die von Mimmo Rotella zu Beginn der 60er Jahre gerissenen Kinoplakate der Serie "Cinecittà" entgegen, deren Wahl sich einmal erklärt aus der Dominanz des Kinoplakats im Italien der damaligen Jahre vor dem politischen Plakat, das in Frankreich dominierte und Raymond Hains und Villeglé zu voleurs d'affiches déchirées werden ließ. Aber es kommt noch ein Zweites hinzu. Bei der Popularität mancher Filme oder Genres, wie des Western, stellen sich beim Betrachten der Décollagen/Collagen Mimmo Rotellas automatisch epische Inhalte ein, zeigen die Décollagen/Collagen Szenen bzw. 'Einstellungen', die der Kinogänger so nicht unbedingt erwartet, so daß es kaum übertrieben ist zu sagen, daß die Décollagen/Collagen der "Cinecittà"-Serie die Filmstory anders erzählen und damit erwartete Klischees aufbrechen. Das aber rückt nicht nur Mimmo Rotellas "Cinecittà"-Serie in die Nähe der dadaistischen Collagen mit erzählerischem Moment oder der surrealen Bildgeschichten von Max Ernst, wenn auch unter anderen ästhetischen und semantischen Bedingungen.
Damit wäre das entwicklungsgeschichtliche und formale Panorama der Collage in etwa abgeschritten. Der kritische Rekurs Villeglés auf die Collage der Kubisten schließt gewissermaßen den Kreis und markiert gleichzeitig den Anfang einer zweiten Phase ihrer Geschichte. War der Zeitraum von der 'Erfindung' der Collage durch die Kubisten bis zu den Décollagen der Affichisten - einem Begriff des englischen Kunsthistorikers und -kritikers Lawrence Alloway folgend - ihre heroische Phase, setzt mit den Plakatabrissen der Décollagisten - den Begriff Wystan Hugh Audens wiederholend - die Phase der colonization ein, inzwischen gefolgt von einer dritten Phase der Beliebigkeit.
Da keine Vorlage bestehe, die es auszufüllen gelte, konstatierte dies Dietrich Mahlow bereits 1968, betreibe jeder Zweite heute schon [...], weil es so schön sei, Zufall und Glück festzunageln, das Collage-Spiel [...] als Hobby. Doch bleibe es in der Hand des Künstlers eine höchst ernsthafte Angelegenheit, bei der es darum gehe, neue Möglichkeiten aus dem Vorhandenen zu probieren, neue Kombinationen des an sich Bekannten zu versuchen. Dabei brauche der Collage-Künstler [...] keine Regeln, kein Formprinzip: ja sein Prinzip sei geradezu, alles Mögliche außerhalb der bisherigen Möglichkeiten, Formen und Nutzungen zu versuchen. Sein Werk repräsentiere eine Fähigkeit, keinen Stil.
Dennoch gibt es eine Reihe von Bedingungen, die der Collagist erfüllen sollte, will er sich nicht der Gefahr der Beliebigkeit aussetzen. Es sind dies aber zugleich auch Anforderungen, die die Collage an den Betrachter stellt, der sich bei ihr auf ein neues Sehen einlassen muß, ein grundsätzlich gewandeltes Bildverständnis.
Eine zentrale Bedingung der Collage ist ihr Realbezug. Nicht nur die Kubisten und Dadaisten, sondern bis heute haben Künstler wie Robert Motherwell oder Robert Rauschenberg durch die Integration von Gegenständen der realen Umwelt in ihre Arbeiten versucht, ihre Kunst wirklicher zu machen. Da er nicht wolle, sagte es z.B. Robert Rauschenberg, daß ein Bild wie etwas aussehe, das es nicht ist, sei er der Meinung, daß ein Bild wirklicher ist, wenn es aus Teilen der wirklichen Welt gemacht sei.
Das aus Teilen der wirklichen Welt gemacht[e] Bild stellt aber die Frage nach Wahl und Verarbeitung des Materials, das zwar alles nur Denkbare, dessen Kombination aber offensichtlich nicht beliebig sein darf. Grenzfälle scheinen auf der einen Seite Arbeiten mit zu identischen Materialien, die keine Lesespannung aufbauen, auf der anderen Seite Arbeiten, deren heterogene Materialien in keine lesbare Spannung zueinander treten. Im ersten Fall gelingt es dem Collagisten nicht, die identischen Materialien mit kompositorischen Mitteln in eine andere Wirklichkeit, nämlich die des Bildes zu überführen. Im zweiten Fall bezeichnen die heterogenen Materialien nur sich selbst, da sie - in Schwitters Worten - nicht gewertet und derart in eine ästhetische Wirklichkeit entformelt sind.
Eine weitere Bedingung der Collage ist das durch sie gewandelte Bildverständnis. Da sie nicht mehr, wie das traditionelle Tafelbild, Welt darstellt sondern sich in der Aufnahme von Realitätfragmenten Welt anverwandelt, bleibt dieser Prozeß im Ergebnis sichtbar. Das verlangt vom Betrachter, über das Betrachten hinaus, auch die Frage nach Materialität und Verarbeitung zu stellen [eine Frage, die bei der traditionellen Kunst lediglich den Maler[kollegen] und allenfalls den Kunsthistoriker interessierte].
Offensichtlich wird also mit der Collage die Frage nach der Technik des Kunstwerks wichtig, will Collage, indem sie ihre Methoden offenlegt, gerade in ihrer Technizität begriffen werden. Da die Collage die alten bildnerischen Techniken nicht mehr als verbindlich anerkennt, vielmehr ihre Veränderung zum Thema macht, thematisiert sie geradezu das Experiment mit neuen Möglichkeiten der Herstellung, wofür sie den Hauptakzent vom Resultat auf den Herstellungsprozeß und die Aktion verlagert.
Mit ihrer Verlagerung des Hauptakzents auf Herstellungsverfahren und Aktion erweitert die Collage zugleich die Möglichkeiten des Bildes, zunächst zur Assemblage, dann zur Skulptur, schließlich zu gestalteten Räumen, zur Architektur [exemplarisch im Schwitterschen MERZbau].
Das Verbinden heterogener Realitätsfragmente ermöglicht aber nicht nur die Erweiterung des Bildes zum Bild-Raum, es erlaubt auch, in der Verbindung verschiedener Kunstarten, die Superierung der Collage zum Gesamtkunstwerk. Sein Ziel, erklärte dies Schwitters in eigener Sache, sei das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasse zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe er deshalb einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Er habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergebe. Er habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen, wie schließlich Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entstehe. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.
Dieser kleine und große Grenzverkehr war und ist für die Collage möglich, weil es auch in den anderen Künsten eine Collagebereitschaft und -fähigkeit gab und gibt, in der Musik und vor allem in der Literatur, für die ich als stellvertretendes Beispiel Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" nenne.
Collage und Epos. Zur Komposition von "Berlin Alexanderplatz" >
[Für die Vorlesung /
das Projekt "Möglichkeiten, Umfang und Wurzeln experimenteller Literatur
Kunst und Musik im 20. Jahrhundert" durchgesehene Zusammenfassung von Katalogtext
und Eröffnung der Ausstellung "Aspekte der Collage", Reutlingen: Hans-Thoma-Gesellschaft
1996]
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siehe auch unter: Collagen
lesen. Musik, Schrift und Realität im Dialog Braques und Picassos
und Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen
Dialogs und dialogischer Kunst