Die Plakatwand, die Baugrube, sein täglich Bild von D., das waren in den 80er Jahren die Fundstellen seiner Kunst - einer Kunst, die so gar nichts mit den aktuellen Niedervoltinstallationen, mit Fotochique und Copyart zu tun hat. Und doch sind hier die ausgestellten Arbeiten entschiedener ein ästhetischer Reflex auf unsere technische Zivilisation und Wegwerfgesellschaft als das, was unsere offiziellen und inoffiziellen Kunst- und Kultstätten in der Regel heimzusuchen pflegt.
Kunst, hatte es unser gemeinsamer Freund André Thomkins einmal auf die Formel gebracht, Kunst macht aus etwas etwas anderes. Und er hatte wohlweislich offen gelassen, aus welchem Stoff dieses Etwas sein müsse, um Kunst zu werden. Vertraut aber war er, vertraut sind Siegfried Cremer und sein Eröffner mit dem Werk des Abfallkünstlers Kurt Schwitters, mit der Überzeugung des Schachspielers Marcel Duchamp, daß ein Kunstwerk schon dadurch entstehen könne, daß der Künstler einen Gegenstand zum Kunstwerk erkläre. Das Urinoir, der Flaschentrockner Marcel Duchamps, sie gehören ebenso in die Vorgeschichte der Cremerschen Kunst wie die i-Theorie Kurt Schwitters'.
Ich habe, schrieb dieser 1923, den Buchstaben i zur Bezeichnung einer spezialen Gattung von Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunstwerke sind insofern konsequent, als sie im Künstler im Augenblick der künstlerischen Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerks sind hier dasselbe. - Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhytmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. [...] - Die einzige Tat des Künstlers bei i ist Entformelung durch Begrenzung eines Rhythmus. [...] Wer nun denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich. Es ist viel schwerer als ein werk durch wertung der Teile zu gestalten, denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und selten findet man, wo man nur zuzugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu erhalten.
Werner Schmalenbach, der in seiner Monografie die Kunst Kurt Schwitters' mehr zerredet als erhellt hat, will die i-Kunst allenfalls als Sondergattung gelten lassen, deren wenige Versuche mehr ein theoretisches und experimentelles als ein wirklich dichterisches Interesse an neuen formalen Möglichkeiten dokumentiere. Sehe ich von Schmalenbachs Irrtümern des dichterischen Interesses und der seltenen Versuche ab, - denn natürlich handelt es sich bei Schwitters um ein grundsätzlich künstlerisches Interesse und der einschlägigen Beispiele im Zwischenbereich zwischen bildender Kunst und Literatur sind so wenige nicht -
Sehe ich also von Schmalenbachs Irrtümern ab, bleibt für mich die Frage, was Schmalenbach angesichts des Duchampschen und Schwitterschen Werkes einzuwenden hat gegen Kunstwerke aus: Gegenüberstellung und Wertung von aufgefundenen unkünstlerischen Komplexen in der unkünstlerischen Welt. Und ich käme damit - nach Präludium und Sottise - auf die heutige Ausstellung und das Werk eines Malers ohne Pinsel (Gauss) zu sprechen, der zugleich auch als Skulpteur auf die traditionell zugewiesenen Werkzeuge verzichtet.
Will man das Cremersche Werk der 80er Jahre nach Gruppen gliedern, müßte man vor allem 4 Hauptgruppen herausheben.
Das wäre erstens eine Reihe von Fotos, die Cremer im Wintersemester 1980/1981 auf seinem Wege zur bzw. von der Düsseldorfer Akademie aufnahm und 1984 als sein "Bild von D." in Mappenform publizierte.
Ich nenne die hier nicht ausgestellte Mappe aus drei Gründen. Erstens wegen der Farben, die Cremer beim Druck der Offsetlithografien wählte, um mit diesen in spezieller Kombinatorik die ursprünglich schwarz-weißen Kontaktabzüge dem ursprünglichen Wirklichkeitsausschnitt zu entfremden und in eine neue, ästhetische Wirklichkeit zu überführen. Aus dem Wirklichkeitsausschnitt, aus der Abbildung machte sich der Künstler in Vergrößerung und Kolorierung sein Bild - eben "Mein täglich Bild von D.". Diese Vergrößerung ist der zweite Grund, warum ich diese Mappe nenne, da ich hier einen sinnvollen ästhetischen Schritt sehe im Gegensatz etwa zu dem eher sinnlosen Blow-up-Unternehmen des Stuttgarter Kunstvereins vor einigen Jahren. Der dritte und zugleich wichtigste Grund, diese Mappe zu nennen, sind die ästhetisch funktionabel gemachten Rasterpunkte der Offsetlithografien, denn mit ihnen schlägt sich leicht der Bogen zu den Plakatkollagen dieser Ausstellung, der 4. umfassenden Werkgruppe der 80er Jahre.
Da ich jedoch in der Chronologie bleiben möchte, muß ich mich zunächst den "Unbeabsichtigt entstandenen Skulpturen" zuwenden, die seit 1982 gefunden und von Cremer gelegentlich auch "Absichtslos entstandene Skulpturen" genannt werden. Sie bilden neben den Plakatcollagen den zweiten gewichtigen Bestandteil dieser Ausstellung, und sind hier in zwei Erscheinungsformen vertreten, als Relief und als freistehende Skulptur, deren Sockel als Teil der Skulptur aufzufassen ist. In beiden Fällen (Relief, Skulptur) handelt es sich um das gleiche Ausgangsmaterial, Stahldraht, wie er zur Bündelung von Baustählen Verwendung findet. Es handelt sich also um ein Ausgangsmaterial, das ursprünglich eine Funktion hat: das Bündeln und Zusammenhalten der Baustähle für den Transport, ein Material, das diese Funktion nach Abladen und vor Verwendung der Baustähle im Stahlbeton verliert, funktionslos wird und so meist unbeachtet auf Großbaustellen herumliegt und irgendwann mit verbuddelt wird.
Wenn Cremer diese funktionslos gewordenen Stahldrähte aufhebt, geschieht aber genau das, was Schwitters in seiner i-Theorie für den Künstler gefordert hat, daß er nämlich aus der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzen und aus ihrem Zusammenhang zu reißen braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. Man muß Schwitters' oft ein wenig vertrackte Ausdrucksweise kennen, um zu verstehen, was er hier mit der Gleichsetzung Kunstwerk, d.h. ein Rhythmus gemeint hat. Aber ich denke, dies wird in Anwendung auf Cremers "Unbeabsichtigt (resp. absichtslos) entstandene Skulpturen" leicht einsichtig. Die Stahldrähte, die materiale Grundlage der Cremerschen Skulpturen, erhalten ihre Form in drei Schritten, zuerst, indem sie entsprechend ihrer Aufgabe, Baustähle zusammenzuhalten, in eine funktionsbestimmte Form gebogen, geformt werden. Bei Beladen, auf dem Transport und beim Entladen werden sie durch die großen Druck- und Zugbelastungen erneut aber diesmal verformt, um schließlich beim Aufschneiden und Auseinanderbiegen - bezogen auf ihre ursprüngliche Funktion - entformt zu werden. Bezogen auf den erkennenden, aus der ihn umgebenden Wirklichkeit auswählenden Künstler aber haben sie erst jetzt den Rhythmus gefunden, der sie zum "Unbeabsichtigt (resp. absichtslos) entstandenen" Kunstwerk macht. D.h. der ästhetische Sinn unterläuft den technischen Zweck reziprok. Je mehr letzterer seiner Funktion verlustig geht, umso mehr gewinnt ersterer.
Die Abfolge Zweckform - Verformung - Entformung - ästhetische Form ist aber nur das eine. Ein zweites die Präsentation. Der Stahldraht zum Beispiel auf Ihrer Einladungskarte wirft zwei Schatten, die untereinander und mit ihrem Spender korrespondieren. Es ist leicht vorstellbar, daß bei anderen Lichtverhältnissen andere Resultate, Rhythmen im Schwitterschen Sinne entstehen, wobei die Präsentationsfläche, die Wand als Reliefträger eine besondere Rolle spielt.
Dieses Präsentationsfeld erweitert sich zum Präsentationsraum bei den auf Sockeln frei stehenden Skulpturen. Ich deutete bereits an, daß Cremer diese Sockel nicht als auswechselbare Untersätze versteht, sondern als einen ihren Rhythmus, ihre Wirkung jeweils steigernden Bestandteil der Skulptur. Daher ihre materialbedingte - Cremer verwendet mit Leinölfirnis eingelassene, wachsüberzogene Preßspanplatten - daher ihre regellose amorphe Struktur. Hinzu kommt die ihrer ursprünglichen Funktion des Zusammen- und Festhaltens diametral entgegenstehende Labilität der Skulptur. Cremer selbst hat zur Frage der Subjekt-Objekt-Beziehung hier angemerkt:
Die Skulpturen stehen alle unbefestigt auf ihren Sockeln, wobei einige ziemlich ausladen und wie Tentakeln in den Raum hineinragen. Sie sind sehr stoß- und berührungsempfindlich, und jede Unachtsamkeit läßt sie vom Sockel herunterstürzen. Diese hohe Empfindlichkeit ist von mir so beabsichtigt und gewollt. Wenn eine Skulptur in unserer Umgebung aufgestellt ist, wird unsere Achtsamkeit und Behutsamkeit viel stärker herausgefordert. Wir müßten unser 'Körpergefühl' im Umgang mit den Skulpturen also stärker sensibilisieren.
Wie die "Unbeabsichtigt (bzw. absichtslos) entstandenen Skulpturen" - und ich merke hier an, daß Absichtslosigkeit eine der zentralen Forderungen des Zürcher Dadaismus war (vgl. Flake: "Nein und Ja"), in Verbindung übrigens zur Mystik, was so überraschend nicht sein kann, ist doch mushin (= Absichtslosigkeit) auch ein zentrales Wort des Zen-do -
Wie, sagte ich, die "Absichtslos entstandenen Skulpturen" sind auch Cremers sogenannte "Fossilienbilder" (seit 1984) exemplarische Kunstwerke im wohlverstandenen Sinne der Schwitterschen i-Theorie. Sie sind in dieser Ausstellung nicht vertreten, doch habe ich hier zwei Beispiele, die ausreichen, einen Eindruck zu vermitteln, wenigstens anzudeuten, wie auf unterschiedlichen Bildträgern Zivilisationsfossilien aus zufällig verformten Tempotaschentüchern, Tüten, Zeitungs- oder Plakatfetzen, Pappen etcetera ein weites Assoziationsfeld eröffnen können. Vordergründig in der spielerischen Ausdeutung der vom Künstler gefundenen formalen und/oder figuralen Konstellationen: ein Spiel, das der Künstler gerne auch selber spielt, wie die stets zugehörigen Titel schnell ablesen lassen, etwa: "Versuch einer Darstellung der virulenten Ekstase, die sich jedoch nur im Kopf eines kleinen, unversehrt gebliebenen Heiligen abgespielt hat". Oder: "Blinkend gekrönter Adler, nach abruptem Aufsetzen auf dem Reichsapfel, noch ohne Szepter". Zu diesem vordergründigen entfalten Cremers "Fossilienbilder" einen hintergründigen Sinn, wenn man die Diskrepanz zwischen dem bedenkt, was wir museal als Fossilien präsentieren, und dem was Cremer unserer Wegwerfzivilisation als ihre Fossilien hinter den Spiegel steckt.
Schließlich korrespondieren mit den als Zivilisationsfossilien aufgehobenen Plakatfetzen die zahlreichen Plakatcollagen aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre, tritt der Plakatfossilie die agressive Plakatwand zur Seite, deren Rasterpunkte zugleich auf Cremers "Täglich Bild von D." zurückverweisen.
In der Vielfalt der Überredungskünste haben auch heute noch neben dem Werbefernsehen Plakate ihren hervorragenden Platz. Von zahlreichen Wänden, Bauzäunen, Litfaßsäulen verkünden sie ihr offensichtlich erfolgreiches Du mußt.... Die Künste des 20. Jahrhunderts, seit ihrer Revolutionierung zunehmend auch ein Oppositionsunternehmen, haben immer wieder einmal auf diese übermächtige Plakatwelt reagiert und zum Beispiel in den frühen 60er Jahren vor allem in Paris ganze Plakatwände durch Decollagieren zweckentfremdet. Das Beaubourg, das Musee Moderne in Paris, aber auch Siegfried Cremer haben von solchen Plakatabrissen exemplarische Beispiele zusammengetragen und in ihre öffentlichen bzw. privaten Sammlungen integriert.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre nahm sich Cremer dann selbst des Plakates als eines latent ästhetischen Materials an, ernsthaft und - wie sollte es auch anders sein - spielerisch zugleich. Aber er gewinnt dabei nicht wie die Affichisten aus den Zufällen der Zerstörung sein ästhetisches Programm. Auch nicht, indem er heterogene Elemente zu überraschender Schönheit zusammenleimt wie ein Collagist. Cremer verfährt analytisch und konstruktiv zugleich. Analytisch, indem er das einzelne Plakat präzis zerschneidet, in Bausteine zerlegt, die gerne der Semantik des Bildes, und selbstverständlich der Semantik der Sprache zuwiderlaufen. Konstruktiv, indem er diese Bausteine zu überraschenden, im ursprünglichen Plakat explizit nicht vorhandenen, implizit dennoch vorgegebenen ästhetischen Aussagen ordnet. Wobei das Plakatraster ein solches konstruktives Verfahren erleichtert, ja eigentlich erst ermöglicht.
Dieser doppelte Umgang mit dem Ausgangsmaterial zerstört die ursprüngliche Überredungsfläche, ihre Wirklichkeit und ihre Inhalte. Sie macht aus dem aggressiven Du mußt... der Werbung ein mehrdeutiges, hintersinniges Du kannst... des Spiels. Sie setzt der Plakativität der Werbebotschaft die Vieldeutigkeit ästhetischer Botschaft entgegen und zeigt - anders allerdings als MacLuhan es dachte - daß das Medium wirklich die Botschaft sein kann. Aber hatte das nicht bereits Schwitters erkannt, als er schrieb, der Künstler erkenne, daß in der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werdenbrauche, damit ein Kunstwerk entstehe, d.h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden könne?
Wir haben, kurz entschlossen wie wir in unserer Wörter- und Zeichenwelt nun einmal sind, uns angewöhnt, wenn wir an einem Bahnhof oder Flughafen oder wo immer ein i antreffen, dies als Hinweis auf den nächstgelegenen Informationstreff zu lesen. Wie wäre es, wenn wir es einmal als Kürzel für die Schwittersche i-Theorie, für ästhetische Information verstünden. Dann hätten wir hier und jetzt den i-Punkt!
[Esslingen: Galerie im Heppächer,
1991; Nachdruck (gekürzt) in: Siegfried Cremer. Arbeiten aus fünf
Jahrzehnten. Bonn: Anbau 35, 1999, S. 9-10]