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Reinhard Döhl | Zu Karl Fred Dahmens Radierungen in der Galerie Geiger

Die augenblickliche Ausstellung zeigt einen umfassenden Querschnitt durch das Radierwerk Karl Fred Dahmens, das wiederum nur ein Teil des drucktechnischen Oeuvres ist, das unter anderem auch Serigrafien und Lithografien umfaßt. Karl Fred Dahmen hat zu seinen Lebzeiten fast keine Drucktechnik ausgelassen. Und immer ging es ihm um etwas, das sich auch an der heutigen Ausstellung sehr schön studieren läßt: um das Experiment, das ihn innerhalb der einzelnen Drucktechnik, aber auch in ihrer wechselseitiger Kombination interessierte. Allerdings ist Experiment hier nicht im traditionell naturwissenschaftlichen Sinne gemeint, als Versuchsanordnung mit vorgeschriebenem Verlauf und vorgegebenem Ziel. Experiment meint vielmehr in seinem ursprünglichen Sinne den Versuch, das Herumprobieren, das auf überraschende Ergebnisse neugierige Spiel mit den Materialien. Und auch Material ist hier nicht in seinem planen Sinne gemeint, sondern so, wie Kurt Schwitters es für die Kunst des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal formuliert hat: als alles, was das Kunstwerk im Mit- und Gegeneinander ausmacht. Konkret gesprochen: die Materialien dieser Ausstellung sind nicht nur die verwandten Radierplatten, Radier- und Kaltnadeln, Säurebäder, Farben, Papiere etc. Material sind auch die Zahlen, Buchstaben, Textfragmente, die Fenster, die Rahmen und die auffällig häufigen Türen. Denn diese stehen niemals für sich, sind weder abgebildeter noch imaginierter Gegenstand. Sie zeigen weder diese oder jene Tür, weder ihre Häßlichkeit noch Schönheit. Sie sind farblich und formal determiniertes Bildelement, zu dem weitere Elemente in einem materialen Prozeß hinzugetreten sind, um in ihrer wechselseitigen Bedingtheit ein Ganzes zu bilden, in dem die informelle Geste eine gelegentlich nicht unbedeutende Rolle spielt. Was zugleich die intensive Spannung dieser Blätter miterklärt. Will man also überhaupt von Türen auf den Radierungen Karl Fred Dahmens sprechen, dann allenfalls so, wie es Robert Musil in seinem ,"Nachlaß zu Lebzeiten", in "Türen und Tore" getan hat, als er schrieb:

Türen gehören der Vergangenheit an, wenngleich bei Bauwettbewerben Hintertüren noch vorkommen sollen. Eine Tür besteht aus einem rechteckigen, in die Mauer eingelassenen Holzrahmen, an dem ein drehbares Brett befestigt ist. Dieses Brett läßt sich gerade noch zur Not verstehen. Denn es soll leicht sein, damit man es gut bewegen kann, und es paßt zu dem Eichen- oder Nußgehölz, das bis vor kurzem in jedem ordentlichen Familienzimmer angepflanzt worden ist. Dennoch hat auch dieses Brett das meiste von seiner Bedeutung eingebüßt. Noch bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte man an ihm horchen, und welche Geheimnisse erfuhr man bisweilen! Der Graf hatte seine Stieftochter enterbt, und der Held, der sie heiraten sollte, hörte gerade noch rechtzeitig, daß man ihn vergiften wolle. Das sollte einer in einem zeitgenössischen Haus versuchen Ehe er dazu käme, an der Tür zu horchen, hätte er alles schon längst durch die Wände erfahren...

Undsoweiter. Ich möchte nicht mißverstanden werden, ich habe aus diesem Text Musils, der wegen seiner Pfiffigkeit eine Lektüre lohnt, nicht vorgelesen, weil ich der Meinung bin, daß er der geeignete Kontext zu den Arbeiten Karl Fred Dahmens ist. Aber so, wie in ihm die Tür willkommener Vorwand für eine hintersinnige Spielerei ist, sind die Elemente der hier ausgestellten Radierungen Teile eines ästhetischen Spiels, das letztlich immer auf sich selbst zielt, auf seine eigene, die ästhetische und nur die ästhetische Realität. Karl Fred Dahmen steht schließlich nicht zufällig in der Tradition des Informel, wie die Gesten seiner auch späteren Arbeiten immer noch ablesen lassen. Auch dort, wo sich die anderen Formen deutlich verfestigen und scheinbar konkretisieren.

Die 60er Jahre sind - wie wir heute aus dem Abstand sehen - von einer kunstgeschichtlich ähnlichen Bedeutung wie die 20er Jahre, in denen ihre Wurzeln liegen. Und wie die 20er Jahre im Jahrzehnt davor sich vorbereiteten, stehen den 60ern die 50er Jahre voran. In ihnen hielt sich Karl Fred Dahmen, wie Sie der Einladung entnehmen können, längere Zeit in Paris auf und knüpfte Kontakte und Freundschaften mit Künstlern der neuen Ecole des Paris. Zu einer Zeit übrigens, in der auch die Stuttgarter "Gruppe 11" enstand, deren Vertreter Kirchberger und Atila den Freunden der Galerie Geiger ja wohl vertraut sind. Und wie diese Gruppe, so hatte auch Dahmen damals Kontakt zu einer Stuttgarter Galerie, in der ich ihn kennenlernte. Aus seinem und meinem Interesse am Experimentieren entstand damals ein Buchprojekt, bei dem es darum ging, gleichzeitig mit der Entstehung einer Folge von Lithografien einen Kontext zu finden, der mit sprachlichen Mitteln parallel zu der Folge der Lithografien "so etwas wie eine geschichte von etwas" sein sollte. Daß dieser Text gleichzeitig Helmut Heißenbüttels "Gruppentheorie" anspielte, sei hier ohne Kommentar wenigstens angemerkt. "So etwas wie eine Geschichte von Etwas" wurde zum Teil in Stuttgart, zum Teil in Dahmens Atelier in Stolberg geschrieben und erschien vor genau 25 Jahren zusammen mit den Lithografien in einer kleinen Auflage, gedruckt von Klaus Burkhardt . Sie mögen es meiner Sentimentalität anlasten, wenn ich Ihnen jetzt und abschließend diesen Text vorlese. Denn als mich Herr Geiger fragte, ob ich die heutige Ausstellung eröffnen würde, in Unkenntnis meiner Bekanntschaft mit Karl Fred Dahmen übrigens, fiel mir dieses gemeinsame Experiment wieder ein. Und so lese ich es jetzt nicht nur als nahe liegende Hommage auf den 1981 verstorbenen zeitweiligen Gesprächspartner zwischen den Stühlen der Kunst, sondern auch als erneutes Experiment, mit der Frage, ob der Text nach 25 Jahren noch zu leisten vermag, was wir uns seinerzeit von ihm versprochen hatten.
[1987]

So etwas wie eine Geschichte von Etwas