Meine Damen und Herren, was Sie heute Abend hier sehen können, sind ästhetische Gegenstände, die von ihrem Erfinder und Hersteller, Bruno Demattio, schlicht und einfach und ganz allgemein "Objekte" genannt werden. Und vor diesen Objekten ist just das erlaubt und sogar angelegentlich zu empfehlen, womit zahlreiche Besucher moderner Kunstausstellungen sonst in der Regel ihre Ratlosigkeit beziehungsweise Fassungslosigkeit demonstrieren: nämlich das bedächtige Schütteln des Kopfes. Weniger zu empfehlen ist eine - wenn man den Karikaturisten glauben darf - andere Tätigkeit fassungs- bzw. ratloser Ausstellungsbesucher: nämlich das intensive Studium der ausgestellten Arbeiten durch die gespreizten Beine. Auch ein beifälliges Nicken mit dem Kopfe - eine modernen Kunstgegenständen gegenüber durchaus nicht übliche Reverenz - dürfte kaum den gleichen Effekt erzielen wie das besagte bedächtige Kopfschütteln, oder ein stetiges Hin- und Herbewegen, ein wiederholtes Auf- und Abschreiten vor den von Bruno Demattio hergestellten Objekten.
Wenn sich nämlich der Betrachter - um jetzt ernsthaft zu reden - vor den Objekten Bruno Demattios wie beschrieben verhält, geschieht plötzlich etwas (wovon noch zu sprechen sein wird). Diese vom Erfinder und Hersteller (was nicht unbedingt ein und dasselbe sein muß), diese vom Erfinder und Hersteller derartiger Objekte augenscheinlich erwartete Aktivität des Zuschauers ebenso wie die Tatsache, daß Bruno Demattio ästhetische Gegenstände der hier ausgestellten Art ganz allgemein Objekte nennt, deuten einige Aspekte an, die ich im folgenden wenigstens skizzieren will.
Man unterscheidet heute gerne zwischen gegenständlicher und gegenstandsloser Malerei, wobei die Vorstellung vorzuherrschen scheint, daß gegenständliche Bilder etwas Abbildbares zeigen, also etwas, das ich wiedererkennen kann. (Analog dazu erkennt man dann gelegentlich in tachistischen Bildern das "gestaltete Innen- bzw. Seelenleben des Malers"). Gegen ein solches Mißverständnis speziell gegenständlicher Malerei haben sich bereits die Maler in der sogenannten Kunstrevolution energisch zur Wehr gesetzt, indem sie sich weigerten, abzumalen, was abzumalen überflüssig ist. Entsprechend schreibt Otto Flake in "Nein und Ja", einem Schlüsselroman des Züricher Dadaismus: "Hängen Sie (eines dieser) Bilder an die Wand, suchen Sie umsonst Kuh und Nymphe darauf. Halten Sie sich für bedeutender, ernster, weil Sie von dreißig bis siebzig unermüdlich Spargel und Mädchen malen? Spargel und Mädchen haben einen ganz andren Zweck, als in Ihrem Öl aufzuerstehn, gegessen und beschlafen zu werden."
Die Auseinandersetzung mit einer sogenannten und so verstandenen gegenständlichen Malerei führte konsequent zur Deformation der traditionellen Bildgegenstände (etwa bei den Kubisten) und in einer radikalen Gegenposition zur Deklaration alltäglicher banaler Gebrauchsgegenstände - etwa eines Urinoirs, eines Flaschenständers - zum Kunstwerk, zum ästhetischen Objekt. Hinzu kam die Aufnahme von Realitätsfragmenten, Realitätsfetzen, oft in der Nähe zu Abfallprodukten der Zivilisation, die Aufnahme der Schrift und schließlich der puren Materialien als neuer Bildinhalte. Und dabei erreichte die Kunst durch Aufnahme von Realitätsfetzen, die Entdeckung der Objets trouvés einen - wie wir es heute sehen - weit größeren Wirklichkeitsbezug, als Spargel und Mädchen in Öl ihn je hatten.
An Stelle der abgebildeten Gegenstände begegnen seit der sogenannten Kunstrevolution aber nicht nur ins Bildganze integrierte Objets trouvés, also gefundene Gegenstände, sondern es begegnen in der freien Organisation von Farbe und Form gleichzeitig ästhetische Gebilde, die man als "erfundene Gegenstände" charakterisieren könnte. In diesem Sinne und in dieser Tradition sind die ausgestellten Objekte Bruno Demattios erfundene Gegenstände.
Speziell für eine Kunst, die auf erfundene Gegenstände aus ist, ergab sich dabei als generelles Problem, daß bei ihr etwas hinzu kommen mußte, wollte eine solche Kunst mehr sein als bloß Gegenposition zu einer falsch verstandenen Gegenständlichkeit. Sehr früh wurde für sie bereits die Aktivität des Betrachters gefordert. Das Kunstwerk - in zunehmendem Maße ein immer anonymeres, vom Hersteller losgelösteres Objekt, war zum Beispiel für Hans Arp Meditionsobjekt, Mandala, Wegweiser ins Unendliche. Ein solcher, wenn man so will, metaphysischer Überbau ging allerdings allmählich verloren. Das Kunstwerk wurde immer materialer verstanden.
Stattdessen kam mit der Bewegung etwas Neues hinzu, (was - ebenfalls bereits in der sogenannten Kunstrevolution vorbereitet - eigentlich erst in den letzten zehn Jahren wesentlich zum Tragen kam.) Kunstwerke, die sich bewegen, aber auch der optische Bluff zielen dabei bewußt auf den Spieltrieb des Betrachters, auf seine Bereitschaft zum Mitspielen. Und hier wurde in den letzten Jahren noch ein entscheidender Schritt weiter gemacht: in der Entwicklung nämlich von Kunstgegenständen, die vom Betrachter ein Mitspiel verlangen, die als Objekt gleichzeitig die Spielregeln liefern, innerhalb derer der Betrachter spielen kann und muß, wenn er wissen will, was es mit diesen Objekten auf sich hat. Und es scheint mir, diese Provokation zum Mitspiel zu sein, die - wenn Sie so wollen - an die Stelle dessen getreten ist, was man immer noch gerne den "Aussagewert" eines ästhetischen Gegenstandes nennt.
In diesem Sinne sind die ausgestellten Objekte Bruno Demattios nicht nur erfundene Gegenstände, sondern sie sind erfundene Gegenstände, die vom Betrachter das Mitspiel verlangen. Nur wenn er mitspielt, wenn er z. B. bedächtig den Kopf schüttelt, sich vor ihnen hin und her bewegt, geschieht etwas, zeigen die Objekte - innerhalb der vom Erfinder vorgegebenen Spielregeln - jeweils eine andere Konstellation, die sich sofort wieder verwandelt und verändert. Was ins Spiel gerät, ist eine vorgegebene Organisation von Farbe und Form, die von ihrem Organisator nicht definitiv gedacht ist, sondern instabil, als etwas, was sich verändern kann und soll. Mit einer solchen Auffassung ist aber zugleich eine Gegen-Position zum traditionellen Kunstwerk und dem daran geknüpften Originalitätsanspruch bezogen. Die Objekte Bruno Demattios sind z.B. keine ästhetischen Gegenstände mehr, die man als einmalig schön bezeichnen könnte, bei deren Herstellung dem Künstler ein idealtypischer Endzustand vor Augen schwebte. Sie sind im Gegenteil leicht reproduzierbar, industriell ohne besonderen Aufwand herstellbar und bei Wegnahme oder Zufügung von Regeln als Spielzeug jederzeit leicht weiterzuentwickeln.
Ich kann es mir ersparen, die Spielregeln der hier ausgestellten Objekte im einzelnen zu erläutern. Sie sind nicht allzu zahlreich und bei näherem Hinsehen leicht überschaubar. Aber auf einen Aspekt möchte ich dennoch abschließend hinweisen: Ich fand in einer Besprechung einer Demattio-Ausstellung folgende Beschreibung: "Orange wird zu Dunkelblau, gleichzeitig taucht eine Abfolge tropfenförmiger vollkommen neuer Gebilde auf, verschmilzt mit dem ebenfalls blau verfärbten Hintergrund, um sich sofort wieder zu lösen und sich orange zu verfärben, dann wieder ist es verschwunden. Stattdessen bleibt eine ruhige weiße Wellenlinie auf orangenem Grund".
Ich habe diesen Passus zitiert, weil er stark an Versuche erinnert, einem sogenannten action painting, dem tachistischen Bild auf dem Wege einer Beschreibung des malerischen Vorgangs auf die Sprünge zu kommen. Nun zeigte das tachistische Bild diesen Vorgang aber nur im Nachherein, gleichsam in der Erstarrung. Anders die Objekte Demattios. Im Spiel mit ihnen werden nämlich solche Vorgänge, die z. B. wie oben beschrieben werden können, sichtbar. Die Objekte Bruno Demattios, könnte man vielleicht abschließend pointieren, sind lediglich Instrumente oder Apparate, die notwendig sind, eine Vielzahl instabiler ästhetischer Welten, ästhetischer Vorgänge sichtbar zu machen. Daß sie sichtbar werden, liegt einzig und allein an der Spielbereitschaft des Betrachters.
[5.1.1968 Stuttgart: Buchhandlung/Galerie Niedlich. Siehe auch unter Niedlichs Bücherdienst Eggert / Buchhandlung und Galerie Niedlich]