Von Nico Bleutge
Sollten wir uns die Schreibwerkstatt des Dichters und Literaturwissenschaftlers Reinhard Döhl vorstellen, gewiss fiele uns sofort jenes legendäre Wiener Poetenhabitat ein, in dem Friederike Mayröcker den Wildwuchs eines Lebens Tag für Tag in Sprache verwandelt. Kunstvolle Stapel aus Notizen und Manuskripten, Bücher und Fotos, Plastikkörbchen mit Zetteln, die auf andere Zettel und Textablagerungen verweisen - so könnte es ohne Zweifel auch im Botnanger Wortbiotop des Reinhard Döhl aussehen. Vielleicht wäre dort die Linienführung ein wenig filigraner, doch sollten wir allemal auf eine barocke Sprachwunderkammer stoßen, deren einzelne Ornamente wie die döhlschen Textwelten netzartig verbunden wären.
Dass einer wie Döhl mit seinem Faible für gewebeartige Strukturen längst die Möglichkeiten des elektronischen Netzes für sich entdeckt hat, versteht sich beinahe von selbst. Nicht nur hat er zahlreiche Netzkunstwerke entworfen, nicht nur hat er literarische Foren oder Poetenwinkel eingerichtet, auf seiner Homepage http://www.reinhard-doehl. de sind auch all die Gedichte und Prosastücke, all die Essays, Hörspiele und theoretischen Arbeiten versammelt, die ein langes Wortleben zwischen Literatur, bildender Kunst und Wissenschaft hervorgebracht hat.
So mag es fast verwunderlich scheinen, nun ein veritables Lesebuch zu Reinhard Döhl in die Hand zu bekommen, mit griffigen Seiten und dem spröden Geruch von Papier. Und doch liegt nicht wenig Raffinement darin, sich für einen Sammelband über die fein verästelten Gewächse der konkreten Poesie wieder auf die sinnlichen Tugenden des gedruckten Werkes zu berufen. Denn will das Blättern und Riechen nicht wunderbar zu jenen akustischen und visuellen Erlebnissen passen, die der Rekurs auf den Materialcharakter des Wortes verspricht?
In seinem von Wortspielen und kombinatorischen Bildern überbordenden Zuhause hat Reinhard Döhl "laute lieder zur leise" ebenso versteckt wie jene "montage gertrude stein", die schrundige Vokabeln vom "steinbeißer" bis zum "steinhuder meer" ausbalanciert. Was der Autor Döhl hier wie dort betreibt, hat er in seinen "Botnanger Sudelheften" skizziert, knorrigen Notizpflänzchen, die seine eigentlichen Sprachbauten stets aufs Neue umranken: Er stellt die Wörter in feinen Lautreihen aus oder verwebt Zitate, Lektürereste und kleine Gedanken zu genau kalkulierten Verweisungsnetzen, als sei er "in der fremde / nach den konjunktiven lichtenbergs / auf den jandl gekommen". Während so manche Klangformation tatsächlich den Rhythmus einer "kleinen nachtmusik / kuckuckuckuck" annimmt, bleibt allerdings gerade in den Unsinnsstücken der "Stuttgarter Versschule" oft nur kalauernder Klamauk à la "schüttelreim rüttelschleim" übrig.
In einer der Seitenkammern des Lesebuches findet sich auch ein Ausschnitt aus jenen "streck versen", die gerade als bibliophile Einzelpublikation in der Edition Wuz (Freiberg am Neckar) erschienen sind. Auf den Spuren Jean Pauls choreografiert Döhl hier Gedichte als Wörterballett "nach einem freien metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien vers haben, den er nach belieben verlängert, seiten-, bogenlang". Die Grenze dieser bogenlangen Säulenpoeme bilden die 26 Buchstaben des Alphabets, doch was Döhl daraus hervortreibt und mit allerlei Fußnoten und Collagen verknüpft, ist wieder seine ganze Kunst im "quer / denken / quer / schießen" der "silben / der / wörter / welt".
Reinhard Döhl: Lesebuch. Mit einem Nachwort von Bettina
Sorge. Ardey-Verlag, Münster. 140 Seiten, 13,90 Euro.
streck verse & lange gesichter. ein wörterspiel
mit 19 collagen. Unter Mitarbeit von Armin Elhardt. Edition Wuz Nr. 17,
Freiberg am Neckar. 36 Seiten, 10 Euro.
http://www.reinhard-doehl.de