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den
17.2.1972
lieber CREMER - was soll
man sagen, wenn man nichts sagen will, was nichts zu sagen hat, und zu
zeigen versucht, was nichts zu zeigen hat, und was sagen soll zu dem, was
man, statt was zu sagen, zu zeigen versucht, weil man nichts zu sagen hat.
sehen sie doch einfach mal hin (meinetwegen zusammen mit fräulein
feuchtinger oder auch abwechselnd und nacheinander). dann sehen sie nämlich
eine abbildung einer abbildung eines populären artefuckts eines gewissen
Roy. Jetzt können sie ersten wetten, daß eine blitzumfrage ergeben
würde, daß mindestens 75% der befragten bei dem popkönig
Roy auf einen gewissen Black, höchstens 5% auf einen gewissen Lichtenstein
tippen würden und der rest ohne eigene meinung wäre. zweitens
können sie gift darauf nehmen, daß das ganze erstens etwas damit
zu tun hat und zweitens mit comic strips. mit comic strips beschäftigen
sich erstens bildende künstler, zweitens literaten, drittens und viertens
literatur- und kunstwissenschaftler (wenn ich hier untertänigst auf
meine bescheidenen spalten in meyers enzyklopädie verweisen darf)
und fünftens der schneider mit der scher'. nun bezweifle ich schon
lange, daß besagter lichtenstein kunst macht, pop kunst, auch wenn
er massenhaft verbreitete literatur vergrößert und in den artefuckt
überführt. wenn das, was er macht, wie man gesagt hat, eine "bestandaufnahme
des amerikanischen kitsches" ist, bleibt das, was er macht, auch in der
vergrößerung kitsch. von meinem "toy lichtenstein" wissen sie
ja und daß ich mit GCK "text grafik integrationen" und comic strips
gemacht habe ebenfalls. das wäre das eine, zweite und dritte, zählen
sie nach. viertens war ich so frei, nicht nur die abbildung einer abbildung
einer bestandsaufnahme des amerikanischen kitsches zu zitieren, sondern
zugleich, und mich in die niederungen der politik wie unweiland ein gewisser
orpheus an einen locus amoenus begebend, eine manöverkritik zu üben,
einzuschreiben, einzuwischen, reinzuwischen, denen einen reinzuwischen
so platt und plan es ging. womit zum artefuckt der kalauer käme und
alles in schönster ordnung wäre, weshalb denn auch der spraydose
plötzlich ein blatt entsprießt: kunstkonserve so billig wie
möglich und massenhaft zu verbreiten als folge von zeitungslektüre
am 7. oktober 1971, am donnerstag, den 7. besagten besagten. denn - siehe
auch unter Schmidt, Arno: kaff - wer ähnlichkeiten mit personen und
ortschaften aufzuspüren versucht, wird mit gefängnis bestraft.
wer beleidungen, lästerungen o.ä. hineinzukonstruieren versucht,
wird des landes verwiesen. wer nach tieferem sinn schnüffeln oder
gar ein kunstwerk darin zu erblicken versuchen sollte, wird erschossen.
p.s.: wenn sie's tiefsinniger
wollen, schlagen sie bei Herta Wescher: die collage nach. oder versuchen
sie mal, dieses buch in stuttgart in einer öffentlichen, halböffentlichen
oder institutionalisierten bibliothek auszuleihen. das macht wirklich spaß.
oder versuchen sie's mal beim Wendelin Niedlich.
ihr döhl
den
18.2.1972
liebe CREMER, wenn ich schon
mal beim kommentieren bin, oder einmal damit anfange, bleibe ich gelegentlich
sogar dabei. der zusammenhang mit den comics ist also geklärt. aber
da spielt doch halt noch mehr hinein. z.b. die Vexierklischees von André
Thomkins, die überführung von zeitungsklischees durch zeichnung
ins vexierbild. oder verkürzt: die überführung eines stückchens
abgebildeter realität ins kunstwerk. das hat mich seinerzeit, ich
sah diese vexierklischees ja ebenso wie sie erst zehn jahre nach ihrem
entstehen in der galerie der edition Hansjörg Mayer, sehr beeindurckt,
weil es mir u.a. eine interessante verlagerung eines problems schien, für
das man bei den kubisten die formel von der "intergration von realität
im kunstwerk" (Jürgen Wissmann) geprägt hat. und das ist zugleich
ein weiteres, was hier hineinspielt, speziell die aufnahme von schrift
in die collagen der kubisten. nun können sie abgrenzen kombinieren
vergleichen abgrenzen kombinieren vergleichen undsofort. z.b. Roy Lichtenstein
zitiert eine realität: den comic, die werbung was immer. Ich zitiere
Roy Lichtenstein. Roy Lichtenstein erklärt sein zitat als ästhetischen
gegenstand: als bild. ich zerstöre ihm mit der schere das bild, das
er sich von der realität gemacht hat, und lege ein stück zitierte
realität in form eines textfragmentes unter. wenn das das bild zum
bild macht, verbessere ich das ölbild Roy Lichtensteins. wenn das
das bild zerstört, zerstöre ich das bild, das sich Roy Lichtenstein
von der realität gemacht hat. das ist zum einen opposition. zum anderen
haben hier sicher die vexierklischees von André Thomkins zumindestens
anregend mitgewirkt. aber während André Thomkins mit der Zeichenfeder
weiterfahren und aus einer läppischen sprühdose schließlich
ein schönes verxierbild machen würde, habe ich - wenn sie so
wollen - einfach ein paar löcher hineingemacht, um zu sehen oder zu
lesen, was auf den seiten dahinter oder davor ist. ich bin halt ein unverbesserlicher
zeitungsleser und das ergebnis zeigt schließlich auch, welcher art.
womit ich irgendwie sogar beim thema bin. schließlich habe ich seit
1963 zeitungsbilder und collagen gemacht, bedruckt, geschnitten, zerschnitten,
gefärbt, geknäult, gerissen und was weiß ich nicht noch
alles. und da ich ja kein bildender künstler bin, sondern autor oder
texter oder wie sie das nennen wollen, sind alle semantischen beziehungen,
die sich herstellen lassen und was sich da so an assoziationen ergibt,
natürlich mitgemeint. sie können also weiter kombinieren und
assoziieren zwischen wischen und sprühdose, zwischen amerikanischem
spray und ostberlin, zwischen dem preis für eine dose spray (wenn
möglich im sonderangebot) und den hunderttausend mark für die
abbildung, zwischen entspannung und dem druck, unter dem spraydosen stehen,
weshalb man sie "nicht über 50° erhitzen" soll, und von mir
aus auch zwischen dem blatt und kohl und zwischen was immer sie wollen,
blatterdings und platterdings. und wenn sie meinen, daß das banal
sei, verrate ich ihnen gerne, daß wir zwischen 1957 und 1959 in göttingen
in der werkgruppe für dichtung banalyrik und banalysen geschrieben
haben und den farbig verschissenen mö-venfelsen zum originaltachistischen
kunstwerk erklärten, was uns aber damals niemand abkaufen wollte.
ernsthaft: der preisunterschied zwischen einer spraydose und Roy Lichtensteins
spray ist jedenfalls nicht der unterschied zwischen realität und kunstwerk.
und dieser widerspruch scheint mir größer, dieser unterschied
scheint mir widersprüchlicher als daß bahr und kohl in ostberlin
wischen, als der unterschied zwischen amerikanischer spraydose und bundesrepublikanischer
ostpolitik. oder vielleicht doch nicht. noch ernsthafter: mein preis liegt
jedenfalls um die summe über Roy Lichtensteins spray, um die Roy Lichtensteins
spray über dem preis für eine einfach sprühdose liegt. sie
sollten es wirklich verschenken. falls es das überhaupt wert ist.
ihr döhl.
[Druck in Dencker: Text-Bilder. Visuelle Poesie international. Köln 1972]
stuttgart,
im dezember 1972
lieber CREMER, nichts für
ungut, aber ich mag immer noch keine statements, autobiographisches zu
lebzeiten oder erklärungen zu etwas, das ich irgend wann und wie und
zunehmend gegen die sprache versucht habe. da mir die worte abhanden gekommen
sind, lese ich zeitung. da ich ein hartnäckiger zeitungsleser bin,
fehlen mir die worte. wenn ich in meinem leben in einem punkt konsequent
war, dann im ausprobieren der möglichkeiten, was man mit und aus zeitungen
alles machen kann. ich habe aus newspaper use paper gekalauert und dabei
viel gelernt. als kind habe ich gelernt, schiffchen und helme zu falten
und ein ganzes alphabet des origami mit zeitungen durchzuspielen. von den
schwaben habe ich gelernt, abends zwei briketts in zeitungspapier einzuschlagen,
damit's länger vorhält (spezialisten feuchten das zeitungspapier
sogar an). von einem gemüsehändler habe ich gelernt, daß
man kohl. in zeitungspapier eingewickelt, ein paar tage im keller lagern
kann, was eigentlich quatsch ist und ich irgendwie falsch verstanden haben
muß, für endiviensalat stimmt's dagegen. und wenn man ihn gar
erst zubindet, wie ich von meinem großvater gelernt habe, wird er
schön gelb. von den clochards habe ich gelernt, daß sich zeitungspapier
vorzüglich zum zudecken eignet, und schon als pimpf habe ich mich
an den gebrauch der zur verfügung stehenden presse für hinterlistige
zwecke gewöhnt. heute lese ich die stuttgarter zeitung abwechselnd
mit den nachrichten, die süddeutsche zeitung, die frankfurter rundschau,
die zeit und den spiegel. als kluger kopf würde ich ungern hinter
der faz stecken. als clochard würde ich mich ungern mit christ und
welt zudecken. nicht nur als gemüsehändler würde ich meinen
kohl bevorzugt in die welt einwickeln. und meine briketts würde ich
nicht nur als schwabe in bild einschlagen. was ich mit dem bayernkurier
machen würde, sage ich ihnen allerdings nicht. meine hämorrhoiden
verdanke ich jedenfalls unter anderem dem zweckentfremdeten stürmer.
da bin ich empfindsam. damit wir uns nicht mißverstehen: ich tippe
ihnen dies alles ganz ernsthaft zu den gegenständen, die sie sammeln,
weil sie annehmen, daß sie kunst seien, während ich lediglich
sagen würde, daß sie zeigen, was für einen gebrauch man
mit dem gegenstand seiner täglichen lektüre (auch statt einer
täglichen lektüre) machen kann und vielleicht machen sollte,
wenn einen irritiert, was man dort liest, und wenn man nicht weiß,
was man dazu sagen soll, weil einem die worte fehlen, und wenn man seiner
irritastion dennoch einen wenn auch nur privaten und ohnmächtigen
ausdruck verleihen will. deshalb habe ich aus newspaper use paper gekalauert,
ich habe versucht, zeitungen zuzudrucken und mit der endlosen wiederholung
ihrer schlagzeilen unleserlich zu machen (konkret; frankfurter nachtausgabe).
ich habe versucht, sie beim wort zu nehmen: dem grünen blatt zu einem
grünen blatt verholfen und der zeit die zeit eingeschrieben (der schwarze
tag kam und ging mit der zeit um die wette). ich habe bild zum bild erklärt
und den spiegel hinter den spiegel gesteckt. ich habe nachgesehen, wer
wirklich hinter der faz steckt. ich habe hohlköpfe in die faz, abfälle
in die welt und briketts in bild eingewickelt und verbrannt. ich habe zeitungen
angebrannt und mit salzsäure gelöscht. ich habe zeitungen verbrannt
und ihre asche verstreut. ich habe drukerschwärze mit dichtertinte
überschüttet (der anspruch der spd) und war erschrocken, daß
mich die verschüttete rote, grüne, blaue, schwarze tinte zu faszinieren
begann. da habe ich die zeitungen zerknüllt und in den papierkorb
gestopft, bis dieser verstopfung hatte. ich habe zerknüllte zeitungen
in röhren und behälter gestopft, bis sie vergammelt waren (verstopfungen).
ich habe zeitungen zerrissen, zerschnitten und einen zustand vor oder doch
jenseits ihrer sprache (wieder)- herstellen wollen (vor dem sündenfal),
aber da war der wurm drin. ich habe löcher in zeitungen geschnitten,
um zu sehen, was dahinter steckt. das wischten bahr und kohl in ostberlin
(spray 71) und spukte grausliches in den köpfen (sein todestag mahnt
uns; traue keinem über 130). ich habe mich an meine kindliche produktion
von weihnachtsgeschenken erinnert, die darin bestand, daß ich aus
gefaltetem buntpapier muster ausschnitt, die ich auf servietten klebte,
mit denen sich diverse onkel und tanten dann den bratensaft abwischten.
ich habe dasselbe mit zeitungen versucht und künstliche blumen zugefügt
(un rose pour morrison). ich weiß nicht, sie wollten es genau wissen.
und jetzt wissen sie ja vielleicht, wie ich mir mit dem gebrauch von zeitungen
die zeit vertreibe, die sie mir stehlen, weil sie darauf bestehen, daß
ich ihnen etwas über meinen zeitungsvertreib schreibe wie ich ihnen
über meinen zeitvertreib geschrieben habe. herzlichst ihr
reinhard döhl.
[Druck in: Sammlung Cremer.
Europäische Avantgarde 1950-1970. Tübingen 1973]