Mail Art kann man definieren als eine Kunst die es in Kauf nimmt, daß die Post sie bei der Beförderung verändert, zumindest einen Stempel aufdrückt, wenn nicht sogar stärkere Transportspuren hinterläßt. Fast immer ist auch das Format A6 vorgegeben und damit auch Zweiseitigkeit: die Ansichtsseite vorne und die für schriftliche Mitteilungen. für Anschrift, Absender, Briefmarke reservierte Rückseite. Wenn in diesen Tagen gleich zwei Mail-Art-Ausstellungen eröffnet wurden (und eine dritte mit dem Aspekt politischer Opposition als versandfähiger Subversivität in Schwerin, siehe StZ vom 28. August), dann ist das Zufall. Man wußte in Stuttgart und Weil der Stadt nicht voneinander. Umso aufschlußreicher ist der Vergleich: Nach Betrachtung der weit mehr als dreitausend Kunststücke weiß man zumindest, wie unglaublich vielfältig auf dem Poskartenformat gearbeitet werden kann.
Reinhard Döhl, der Stuttgarter Literaturprofessor, Autor und Künstler, beschäftigt sich seit Ende der fünfziger Jahre mit Karten. Er bewunderte zunächst Künstlerpostkarten (wie sie zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler hin- und hergingen) und klebte selbst Collagen in diesem, für Studentenbudenschreibtische äußerst praktischen Format. Von 1962 datiert sein Text über Ansichtskarten. in dem es heißt: "In meinem Karteikasten sammeln sich die Ansichten der ganzen Welt die sie beschreiben" oder "Sie bezeichnen eine Welt, die es sonst auf der Welt nicht gibt. Die es nirgendwo auf der Welt mehr gibt. Und die gezeigte Welt ist jedesmal eine andere." Es ist die Zeit, in der Mail Art ihren Einzug in internationale Kunstwelt hält.
In Döhls umfangreichem Kartenwerk, aus dem die Stadtbücherei im Wilhelmspalais jetzt rund zweitausendfünfhundert Exemplare vorstellt, entstehen zuerst Einzelstücke als Skizzen und Bildideen zur (kultur)politischen Auseinandersetzung, später ganze Serien, Ensembles und sogar komponierte Postkartenbilder aus Vorlagen von Oskar Schlemmer und Max Ernst. Karten dienen als Reiseerinnerung (wie die "Romsiebensachen") sowie als Medium zur Diskussion ästhetischer Fragen, um Projekte in die Wege zu leiten. Der dialogische Aspekt wird immer offensichtlicher, ist unübersehbar in der Korrespondenz mit Ulrike Gauss, der Döhl zwischen 1989 und 1992 täglich Karten sendet, mit Wolfgang Ehehalt ("Kunst & Kompostkarten Projekt") und den Künstlerfreunden in Japan, Frankreich und der Tschechischen Republik. In den achtziger und neunziger Jahren sind diese Arbeiten gelegentlich ausgestellt worden (zuletzt bei Buch Julius zu Else Lasker-Schüler), aber noch nie in dieser schier unübersehbaren Menge und in allen erdenklichen Variationen.
Wie präsentiert man Postkarten in einer solchen Anzahl? Sie im Stapel, im Karteikasten zum Durchblättern oder als Wurfsendung. zu zeigen, verbietet sich bei Kunst von selbst. Die einfachste Lösung, sie in Rahmen oder Vitrinen zu stecken, bedeutet, nur die Schauseite zeigen zu können. Betrachterfreundlicher ist es, die Karten eingeschweißt in Klarsichtfolie, wie Vorhänge ins Treppenhaus zu hängen, wo sie leise, ihrer Postkartenhaftigkeit entkleidet, schwingen und Döhls feine schräge Schrift, akkurat und immer ein bißchen nach unten kippend, gut lesbar werden lassen. - In ihrer Einführung betonte Hannelore Jouly, die Leiterin der Stadtbücherei, das Dialogische der Döhlschen Kunst. Ob mit der Mail Art, ob mit seinen Hörspielen. ob mit der poetischen Korrespondenz zum Japan-Festival oder seit neuem im Internet - Döhl stifte zur Kommunikation an. Um dies zu untermauern, trug er zur Eröffnung einen Text vor, der so witzig, sprachverspielt und hintergründig wie seine Postkarten Stadt und Leute aufs Korn nimmt. Sein Titel: "Das Stuttgarter kleine Kartenspiel".
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"Dialoge. Mail Art. Reinhard Döhl und Freunde" bis zum 26. Oktober in der Stuttgarter Stadtbücherei, Montag bis Freitag 11 bis 19 Uhr, Samstag 10 bis 16 Uhr. Am Mittwoch, 9. Oktober, spricht Reinhard Döhl um 19 Uhr über "Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst".
[Stuttgarter Zeitung 11.9.1996]