Über Reinhard Döhl adäquat zu sprechen, ist für einen eingleisigen Kunstwissenschaftler - wie mich - eigentlich ein Unding. Ihm auf der Spur zu bleiben, gelingt nicht leicht - er taucht unter, vergräbt sich in Botnang, packt seine Arbeiten, gebündelt und geschnürt, in die Ecke beiseite und redet über die Kunst anderer! Noch schlimmer. Diese Mann hat mehrere schöpferische Leben auszuhalten: als Wissenschaftler und Universitätsprofessor für Germanistik - übrigens unter besonderer Berücksichtigung der Medien -, als Spezialist für das Hörspiel und als Hörspielautor, als Gesamtkunstwerkforscher und Spezialist für die Dada-Kunst, insbesondere Hans Arp und Kurt Schwitters, als Schriftsteller und Dichter, als bildender Künstler im Bereich der visuellen Poesie und der Collage, als mail artist oder Postkartenkünstler, in Wort und Bild engagiert und kritisch.
Heute wird das visuelle Werk dieses Reinhard Döhl erstmals im Überblick vorgestellt. Lassen Sie mich, um ein zu schnelles Vorbeisehen an diesen empfindlichen optischen Phänomenen zu hemmen, zuerst historischen Hintergrund ins Bewußtsein rufen und die Persönlichkeit Döhls kurz skizzieren.
Franz Mon hat in einem Abriß zur epochemachenden Ausstellung "Schrift und Bild" in Amsterdam und Baden-Baden seine und auch Döhls Wurzeln geschildert:
Es erschien nur als einer der abstrusen Einfälle moderner Maler, als die Kubisten Buchstaben und Schriftfetzen in ihre Bilder klebten oder malten, und den Kubisten war es wohl selbst kaum bewußt, daß sie damit einen künstlerischen Vorgang ankündigten, der seitdem nicht mehr abgebrochen ist. Sie stießen auf die Schriftelemente wie auf anderes Material, das in den Bildprozeß einbezogen werden kann und dessen zähe Fremdheit zu überwinden dem Bild eine neue Spannung mitteilt. Ob sie nun Lettern ins Bild kopierten oder Zeitungsfetzen einklebten, die Schrift sollte jedenfalls ihres üblichen Bezuges zur Sprache entkleidet und als bloße Form gesehen werden, die im Zusammenhang des Bildes ihre genaue Stelle fand. Die Buchstaben, die ins Bild gerieten, waren im Gang ihrer Geschichte selbst bereits zum äußersten formalisiert und hatten die Erinnerung an ihren bildmäßigen Ursprung in früher Zeit abgetan: Gebilde aus Kreis und Gerader und aus deren Segmenten und Kombinationen. Wenn diese abstrakten Formen, ledig der ihnen durch eine Konvention beigelegten Lautbezeichnung, nun wieder ins Bild gerieten, geschah ihnen kein Unrecht; sie berührten vielmehr wieder den optischen Grund, dem sie einmal entsprungen waren - freilich nun nur noch im Zusammenhang des Bildes und nicht mehr bedeutsam auf einen Sinn jenseits des puren Zeichenbestandes zu lesen. Auf jeden Fall aber "lesbar", Formmoment in einem Gefüge, das ihm wie einer Letter den bestimmten Stellenwert gibt. Das Bild selbst, aus kleinsten Bildelementen und -facetten aufgebaut, wird zu einer Art Text, der Punkt für Punkt abgelesen werden will.
Auch der Jugendstil hatte die Schrift ihrer Sprachbezogenheit bereits entrückt, indem er sie zum Ornament machte und in den besten Fällen als Positivform mit ihrer Negativform verwob, also zum reinen Ereignis in der Fläche verformte. Diese ersten Erfahrungen mit dem Kontext von Positiv- und Negativformen werden dann in der Malerei wieder aufgegriffen werden und Gebilde von schriftähnlichem Charakter entstehen lassen (Willi Baumeister, Capogrossi, K.O.Götz u.a.). Schrift kehrt ins Bild zurück und wird selbst zum Bild (bei Paul Klee zum Beispiel). Bild und Schrift werden austauschbar. Das Sehen lernt, sich zu den konventionell bedeutenden Zeichen querzustellen, sie als bloße und plötzlich faszinierende Form zu lesen. Das alltäglich belanglos Gewordene, in der Gewohnheit Verrottete, eine Plakatwand etwa oder das Gekritzel an einer Wand, wird "unerhört" und tönt in einer Sprache, die bisher nicht geläufig war. Schwitters wird die Schriftreste des Alltags mit auflesen und in seine Coillagen kleben.
Zu solch neuer unkonventioneller Sehweise treibt auch der Überdruß an der Allgegenwart von Geschriebenem. Durch die Bürokratien, die Zeitungen, die Reklame beherrscht uns das Geschriebene. Rechtskräftig wird eine Verwaltungsmaßnahme erst, wenn sie gedruckt ist. Recht existiert nur insofern, als es "positiv", und das heißt im Grunde auch nichts anderes: als es gedruckt ist. Das konnte geschehen, weil unsere Realität in ungeheurem Ausmaß auf der funktionablen Formel beruht und als real nur das gilt, was formuliert ist, undzwar als Eigentum der Allgemeinheit. Wir haben noch nie so viel Geschriebenes besessen wie heute und haben noch nie so wenig von der Schrift selbst gehabt wie heute. Sie sitzt überall wie ein Schorf - daran ändern auch die heroischen Anstregungen der Typographen nichts. Jeder konsumiert täglich seine nötige Portion davon. Daß dabei auch das Bild wieder in den Lesezusammenhang eingebrochen ist ("Bild-Zeitung"), undzwar nicht nur als Illustration der Schrift dienend, sondern als selbständiger "Text" (und nicht nur in den comic strips), der seine eigenen Mitteilungen zu geben hat, zum Beispiel dem Autofahrer als Verkehrszeichen-Bild, das die Nachricht zuverlässiger und rascher gibt, als wenn sie geschrieben wäre, weist auf der anderen Seite darauf hin, daß unsere Schriftökonomie porös geworden ist. Jenseits einer durchaus leistungsfähigen Buchstabenschrift bilden sich für alle Möglichkeiten des täglichen Ablaufs neue "Schrift"- und "Text"konventionen heraus, in denen Buchstaben und Bildmomente oder Bildmomente und sonstige abstrakte Zeichen, Symbole, Signete kombiniert werden, so daß die Leistung von Schrift vollkommen erfüllt wird: eine Mitteilung, eine Order, einen Impuls zu geben. Ja, die emotionalen Einwirkungen auf Verbraucher, Wähler, Mitglieder, Gläubige und Ungläubige, die das moderne Zivilisationsgetriebe nötig hat, gelingen in unserer durchfunktionalisierten und hinter privaten Masken gesicherten Gesellschaft am besten mit diesen neuen optischen Bildschriften. Die mit psychologischer Routine und artistischer Raffinesse angesetzten Farb-, Bild- und Schriftelemente moderner Plakate etwa imprägnieren ihre Mitteilungen mit Gefühlen und Imaginationen, die der Sprache allein und ihrer verschrifteten Fassung schon gar nicht mehr erreichbar wären. Im Dschungel moderner Großstädte hat sich wieder eine Art von praktikabler Bilderschrift entwickelt, die den Vergleich mit den Piktographien früherer Schriftstufen herausfordert, da sie deren Allgemeinverständlichkeit aufweist: bei ihr sind keine Analphabeten möglich, weil sie sich auf die jedem geläufigen Bildschemen stützt und nur die bereits unterschwellig lagernden Bedürfnisse, Wünsche, Regelungen anspricht.
Für Reinhard Döhl ist der Buchstabe, die Buchstabenverbindung, das Wort, die Wortverbindung ein kostbares Werkzeug. Er und es wird verdreht, zerschnitten, verschoben, geteilt, verdeckt, geknickt, versetzt, immer aber in seiner Eigenschaft als Informationsträger geachtet. Die Titel seiner Werke werden häufig zur Entschlüsselung des Bildes; Klang, Rhythmus, Struktur zu erkennen und zu analysieren läßt Form, Bau und Inhalt verstehen, wie beim Lesen eines Gedichts oder beim Hören einer Partitur.
Nun zur Person selbst:
Reinhard Döhl wurde 1934 in Wattenscheid in Westfalen geboren. 1954 entstehen erste künstlerische Versuche, literarisch und photographisch, 1958 erscheint die erste Publikation.
Döhl wird als Student der Germanistik, Geschichte und Philosophie seit 1957 in Göttingen - schon möglich, daß ihn der kritische Geist Heines dorthin zog - 1958 zum Mitbegründer der "Werkgruppe für Dichtung".
1959 reist er nach Paris, dann zur Documenta 2 nach Kassel.
Der Schock durch die Begegnung mit der Kunst der Gegenwart löst eine erste Publikation zur bildenden Kunst - die "Documemento mori, Betrachtungen eines Unpolitischen" unter dem Pseudonym Traugott Schneider - aus und erste Produktionen von Collagen.
Auf Einladung Max Benses zieht er nach Stuttgart, nachdem ihm die Universität Göttingen wegen seiner gotteslästerlichen "Missa Profana" einen Verweis erteilt hatte, bevor er per Gerichtsurteil freigesprochen war.
In Stuttgart wird er sogleich mit den Mitgliedern der "Gruppe 11" bekannt. Zu ihr gehören Atila (Biro), Kirchberger, Pfahler und Sieber. Es entstehen Gemeinschaftsarbeiten mit Pfahler und Kirchberger 1962-65, und Veröffentlichungen über diese Künstler.
1960 erscheint die erste Buchpublikation in der Reihe "rot". Döhl gehört seitdem zur "Stuttgarter Schule" um Max Bense.
1965 wird Döhl mit einer Arbeit über den Dadaisten Hans Arp promoviert.
Die Ausstellungen "Sinn und Zeichen" 1962 in Darmstadt und "Schrift und Bild" in Amsterdam und Baden-Baden 1963 rütteln den Künstler auf, vor allem die japanische Sho-Kunst, dann die typographischen Arbeiten von Diter Rot z.B., Hansjörg Mayer u.a.
Seit 1967 an der Stuttgarter Universität lehrend nimmt er ruhelos am Tun der Happening- und Fluxus-Künstler teil, verfaßt Hörspiele, arbeitet für den WDR, schreibt und spricht auf Vortragsreisen in Frankreich, Belgien, Holland, Jugoslawien und in der Schweiz zu Kunst und Dichtung.
Nach langjähriger Zurückgezogenheit, eingeigelt in Botnang, seit Ende der 60er Jahre, eröffnet er ab 1976 wieder Ausstellungen, wird 1979 habilitiert, hält 1982 erstmals wieder eine öffentliche Lesung in Stuttgart, bei Niedlich natürlich [recte: im botnanger bücherladen], aus seinen "botnanger sudelheften".
1986 entdeckt er die Technik des Aquarells [für sich] neu,
1987 entstehen Versuche kalligraphischen Schreibens. Auf einer Vortragsreise in Japan schließt er Kontakt zu der Shi-Shi-Gruppe in Tokyo, mit dem Schriftsteller Syun und dem Sho-Meister Kei Suzuki.
Sein stetiges Produzieren von Postkarten führt 1985 zusammen mit Wolfgang Ehehalt zu dem Projekt der "Kunst & Kompostkarten", das in ca zwei Jahren zu einem Umfang von 6-700 Stücken anwuchs, zu einem einmaligen Dokument künstlerischen Austauschs von Ideen, Gedanken, Leben und Handeln.
Jetzt zur Ausstellung:
Gezeigt werden Arbeiten aus 30 Jahren, in 26 Werkgruppen sinnigerweise. 26 Buchstaben hat das Alphabet. Rainer Schultheiß und Reinhard Döhl haben diese Vielzahl wieder in drei Abteilungen untergeordnet und auf die drei Stockwerke der Galerie verteilt.
Chronologisch gesehen beginnt die Ausstellung im Obergeschoß mit den COLLAGEN UND DRUCKSACHEN, subsumiert unter dem Motto von Kurt Schwitters: Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst' erst los werden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen.
Mit Buchstaben wird gebaut und getilgt: so finden Sie in einem der Räume 7 Typoblätter aus dem Jahre 1967 und in einem zweiten Blätter mit übereinandergedruckten Lettern, z.B. auf einem Titelblatt der ZEIT.
Durch den Schnitt bei der Herstellung der Collage werden Bildpartien aus dem Ganzen der ursprünglich selbstverständlichen Bildzusammenhänge herausseziert und in der Montage in neue, befremdliche Zusammenhänge und Verbindungen gebracht, die erschreckende, oder humoristische, oder verrätselte Bildwirkungen auslösen. Das "SpiegelFragmentBilderBuch" der Jahre 1959-62, oben, im Raum zur Linken, ist dafür eine wahre Fundgrube. Die Technik der Collage wird zu einem Untersuchungsinstrument nach bildnerischen Qualitäten des Fragments und der Reihung. Übrigens sind Schnitt, Collage, Montage genauso künstlerische Mittel des Hörspiels.
Mit demselben künstlerischen Mittel entstehen auch die Arbeiten der Gruppierung FORTGESETZT KUNST, erklärt mit dem Motto von André Thomkins': Kunst macht aus etwas etwas anderes, ausgestellt im Kellergeschoß. Collagen-Serien aus Reproduktionen von Kunstwerken. Döhls - alles andere als militante - Zerstören der Vorlagen - wird zur hommage, das Spiel mit den Teilelementen führt zur Verklausulierung, Pointierung, vielfältigen Verwandlung einer ursprünglichen Komposition.
Eine eigene, neue Form des Kunstwerks hat Döhl mit den Zwittergebilden der ANNAGRAMME aus dem Botnanger Anzeiger erfunden - entstanden ab 1985 bis das Blatt eingestellt wurde. Sie finden sie im Treppenhaus. Sie besteht aus dreidimensionaler, [unleserlich] beweglicher Collage und dem poème. Hier einige Kostproben:
orge gab terzinen anDas ständige Suchen des Künstlers nach neuen Ufern, nach Dialog und Beziehung spiegeln die Aquarelle und Pinselzeichnungen der SCHREIB SPUREN WASSER ZEICHEN hier im Erdgeschoß.
tarngeier Bonn zage
nora zeigt bange ern
arno zeig bergtanne
no ganzer betrag nie
birne ragt gen ozean
gorbi tanze an enger
reagan zornig beten
ein erztorenabgang
zinnobergaerten ag
ein zorn gegen abart
rangen an rotzbiege
in roben ganz traege
nerz ging boa traene
i born ganz teenager
erna zeigt onan berg
irre ganze tage bonn.
Eine der jüngsten Serien aus dem letzten Jahr umfaßt 120 großformatige Blätter zu Mallarmés 120 Alexandrinerversen "L'aprés midi d'un faun". Jedes Blatt zeigt ein Faunsgesicht, das Gesicht eines Fauns, dem in Halluzination die beiden Nymphen erscheinen.
Die zu hunderten entstandenen deutsch-japanischen Tagebuchblätter, Pinselmalereien, geschrieben nach Anleitung der Sho-Künstler, und die farbprächtigen, in [unleserlich]manier hergestellten Doppelaquarelle der "Herbste" bilden neue autonome Werkgruppen, die den Maler in den Vordergrund rücken.
Konzentration und Bewegung aus Konzentration werden zur Quelle dieser Malerei. Bilder, deren Inhalt nicht mehr verbalisierbar, Geschriebenes, das nicht mehr verstehbar, ein unerschöpfliches Reservoir hat sich Reinhard Döhl aufgetan, das auszuschöpfen er begonnen hat.
Was bleibt uns übrig, als diesem Grenzgänger für sein Doppel-Doppel-Leben zur wünschen: ZEIT, viel Zeit.
[Galerie der Stadt Wendlingen, 25. Januar 1990]