BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Uta-Maria Heim | Als die Kunst noch lose an Nadel und Reißnagel hing.
In Gedanken versunken kaut die Studentin mit dem kunstvoll zerzausten Pferdeschwanz an ihrem Kugelschreiber. Und der junge Herr daneben starrt meist auf den Boden. Ab und an wirft er den Kopf nach hinten, streicht sich übers Haar und macht kleine Notizen.
Reinhard Döhl hat seinen Weg gefunden, die Studentengeneration anzusprechen, die "nachher" kam. Gewissenhaft und scheinbar unbeteiligt spult der Professor für neuere deutsche Literatur Namen und Daten herunter. Und das, obwohl er über die "Sechziger Jahre in Stuttgart" spricht, über jene Zeit, die auch Döhl geprägt hat.
Daheim in der Botnanger Wohnküche, die seinen Studenten wohl etwas "zu alternativ" wäre, sieht das alles ganz anders aus. Von der nüchternen Welt des trockenen Geistes keine Spur. An der Wand hängen Postkarten und ein ausgerissener Zeitungsausschnitt, es gibt Kaffee und Kuchen mit Beeren aus dem Garten. Auf dem Küchentisch türmen sich Bücher und Papiere, es wird immer mehr. Ständig fällt Reinhard Döhl etwas ein, was es noch holen könnte, und am Schluß muß alles abgeräumt werden, denn auch die Kunstdrucke haben etwas zu sagen.
Angefangen hat das alles schon vor dreißig Jahren, als Reinhard Döhl Mitte zwanzig war und in Göttingen studierte. Seine "Missa profana", eine antiklerikale Schrift in der Studentenzeitung, führte ihn bis zum Bundesgericht. Dort wurde er zwar freigesprochen, aber ein Universitätswechsel war damals in solch einer Situation dennoch angezeigt. Und da er Max Bense schon kannte, kam er 1959 nach Stuttgart.
"Man konnte damals noch provozieren", meint Döhl und erzählt von jener "Aufbruchstimmung am Ende der Adenauerschen Restaurationsepoche". Um Max Bense scharte sich das, was sich später als "Stuttgarter Schule" oder "Stuttgarter Gruppe" einen Namen machte, heute fast ein Mythos. Aber von der "Gruppe" will Döhl nichts wissen. "Eine Gruppe im soziologischen Verständnis ist das nie gewesen. Eher gab es konstituierende Mißverständnisse. Bense sprach zum Beispiel auf einem Vortrag auf Schloß Morsbroich von 'wir in Stuttgart'. Ich glaube, das hielten die Zuhörer damals für ein Stuttgarter Gruppenunternehmen." Ein Merkmal der "Stuttgarter Gruppe" ist jedenfalls daß sie sich nie einigen kann, ob sie nun eine ist oder nicht.
Jetzt, wo sich das alles vor einem ausbreitet, wird die Vorstellung konkreter. Das hat die "konkrete Poesie" ja auch an sich, daß man sie sehen muß. Sehenswert sind sie allemal, die vergilbten Nummern von Benses Zeitschrift "augenblick" und der reihe "rot". Oder die Anthologie "zwischen räume", die Reinhard Döhl 1963 für den Limes Verlag herausgab. Dort findet sich auch Ernst Jandls erste größere Veröffentlichung experimenteller Texte, die heute legendär sind, etwas dieser:
"manche meinen
Überall schossen experimentelle Publikationen und Collagen aus dem Boden. 1968 war die gedruckte Flut auf dem Höhepunkt, unter anderem mit Döhl "wegwerfheften", eine Edition von seltenem bibliophilem Wert, in der auch seine Gedichte zum Wegwerfen angepriesen wurden.
1968, noch einmal ganz groß: eine Ausstellung von Diter Rot, "chaotisch mit Reißnägeln und Nadeln an der Wand befestigt". Sie fand in der damals herausragenden Galerie Hansjörg Mayer statt. Döhl: "Wenn man daran denkt, kriegt man nostalgische Zuckungen".
"Stuttgart war einer der Angelpunkte für konkrete Poesie, diesen Grenzbereich zwischen Literatur und bildender Kunst", sagt Döhl, und hier wurde sie auch begraben. Anfang der 70er Jahre bei einer Ausstellung im Württembergischen Kunstverein. "Konkrete Literatur war museal geworden, eine Entwicklung kaum mehr möglich."
Döhl, vorher voller Schaffensfreude, fiel in die Depression. Von 1970 bis 1976 ist er "abgetaucht". "Alles, was ich in der Zeit gemacht habe, liegt in der 'Black box'. Das ist eine Kiste, die geht unbesehen in den Nachlaß." Dann kamen die Zeitungscollagen, mit das erste, was wieder veröffentlicht wurde: "Stuttgarterleben". Die Stadt, die zu oft als bedrückend erfahren wurde, die Öffentlichkeit, die zu oft abwesend war - sie wurden zum Medium der "use papers", wie Döhl seine "Zersteuten Einsichten in die Kultur der Eingeborenen" nennt.
Döhl hat sich jetzt anscheinend vom "inneren" in ein äußeres Exil geflüchtet. Im Mai hatte er eine Ausstellung in Tokio. Mit "Sho", der japanischen Pinselschrift. "Nein, konkrete Poesie ist das nicht", lacht er. Aber auf die vorsichtige Frage, ob es in Japan vielleicht auch konkrete Poesie gebe, antwortet er begeistert und bestimmt. "Und wie!"
[Zuerst in Stuttgarter Zeitung, 1988. Nachdruck: Helmut Böttiger [Hrsg.]: "Der VfB grüßt den tapferen Vietcong". Stuttgart in den 60er Jahren. Die Serie aus der Stuttgarter Zeitung. Stuttgart: Flugasche 1989, S. 44-46.]