BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Hannelore Schlaffer | Schriftstellerwissenschaftler. Zu Reinhard Döhls sechzigstem Geburtstag

Fast alle Studenten, die bei Reinhard Döhl an der Universität Stuttgart Literaturwissenschaft zu studieren beginnen, kennen ihn bereits als Autor eines Gedichts, das in der Schule zu den klassischen Gedichten der Moderne gezählt wird: der "Apfel", eine Inkunable der konkreten Poesie, bei der aus der vielfachen Wiederholung des Wortes "Apfel" ein Gedicht in eine sichtbare Apfelform gebracht wird - wobei an einer Stelle freilich der "Wurm" sitzt. Die konkrete Poesie entstand im Kreis um Max Bense um 1960 und hat Stuttgart zu einem Hauptort der deutschen Avantgarde gemacht. Innerhalb dieser Gruppe mit streng formalistischem Kalkül (Heißenbüttel, Mon, Gomringer, Harig) bildeten die kleinen Texte Döhl eine humoristische Variante aus. Man kann sie noch in einer seiner letzten Publikationen, den "Botnanger Sudelheften" wiederfinden.

An die Herkunft aus der konkreten Poesie erinnert der formalistische "Haiku":

anna grammatik
ein gramm anna
zwei anna gramme.
Die tiefsinnigen Kalauer, die ein Universitätslehrer zur Erheiterung unerweckter Studentengemüter braucht, spiegelt der witzige Vers:
solo
für einen fliesenleger
kunst der fuge.
Mit den witzigen Erscheinungen der Moderne hält Döhl es auch als Gelehrter: er schrieb Bücher über Hans Arp. Aufsätze über Schwitters und arrangierte einen Ausstellungskatalog über Hermann Finsterlin. Auch heute noch weckt, was die Grenzen der universitären Disziplin der Literaturwissenschaft oder einer Kunst überschreitet, seine Neugier: etwa die Doppelbegabung Maler/Dichter, das Verhältnis von Rundfunk und Literatur beim Hörspiel; nicht zuletzt hat er auch seine eigene Situation zwischen akademischer Literaturwissenschaft als Beruf und Schriftsteller als Neigung zu reflektieren.

Unter den klassischen Autoren, die Reinhard Döhl zur Seminarlektüre an der Universität wählt, überwiegen ebenfalls die Humoristen: Wieland, Jean Paul, Raabe. Man muß wohl vermuten, daß er in den krausen Gängen der Sprache, in den komischen Einfällen der Phantasie wie in seinen eigenen poetisch-spielerischen Konstruktionen eine heilsame Gegenwirkung zum melancholischen Zustand des Gelehrtendaseins gefunden hat. Die - in Deutschland seltene - Doppelfigur des Schriftstellerwissenschaftlers erleichtert das Leben, für das sie wechselnde Antworten oder zumindest wechselnde Formulierungen zu finden weiß. Am morgigen Donnerstag wird Reinhard Döhl sechzig Jahre alt. Eine Ausstellung mit seinen Werken wird am Samstag, 3. September, bei Buch Julius am Olgaeck eröffnet.

[Stuttgarter Zeitung, vor dem 3. September 1994]