Eigentlich wollte ich eine Rezension verfassen, eine Rezension über die von Max Bense herausgegebene Schriftenreihe "rot". Aber dann begann plötzlich das Kesseltreiben gegen den Professor für Ästhetik und Philosophie an der TH Stuttgart, ausgelöst durch die Tatsache, daß Bense für einen ordentlichen Lehrstuhl statt seines bisherigen außerordentlichen vorgesehen wurde, was einigen Herren nicht in ihre Konzeption paßte.
Und nun spricht man von Max Bense. Ganz erschreckliche Dinge werden von ihm berichtet: Ein Atheist soll er sein, und also ein Nihilist; die Jugend verführe er, und überhaupt...
Dieser Philosophieprofessor, der sich nun den Attacken des baden-württembergischen Kultusministeriums und des Ministerpräsidenten Kiesinger ausgesetzt sieht, reitet zudem ein gefährliches Hobby: Die moderne Dichtung. Nicht nur, daß er in seiner Zeitschrift "augenblick" ein Forum für avantgardistische Versuche geschaffen hat; daneben oder darüber hinaus will er der Dichtung mit seiner Texttheorie neue Wege weisen, Wege, die in das Ziel einmünden sollen, moderne Texte maschinell herzustellen!
Und zugegeben: Man kann wirklich ungeduldig werden angesichts dieser "modernen" Dichter! Die dichten nämlich nicht nur unverständliches Zeug daher (das wäre zu ertragen, man muß es ja nicht lesen), nein, sie werden auch noch bösartig, aggressiv und provozierend gegenüber dem Staat! Sie sind nicht nur einfach nonkonformistisch, sondern sie bekennen das auch noch! Ihnen fehlt nicht nur der "rechte Glaube" und die ordnungsgemäße gesellschaftliche Haltung, sondern sie sprechen von dieser Mangelerscheinung sogar als von ihrer Eigenart! Das ist der Skandal! Und auf Skandale reagiert man hierzulande mit Prozessen, Verurteilungen, Verweisen und Verweisungen.
Sehen wir uns nun die ersten der drei erschienenen Hefte aus der Reihe "rot" an, so wird es uns in der Tat schwer, sie nicht als rote Tücher zu empfinden, ausgehängt um zu schockieren, um Kopfschütteln und Achselzucken zu erregen. Man konnte in den bisherigen Schriften Benses mancherlei über Innovation und über Streuung lernen, man las vom Zufall der Wortfolge und von Störungen, die in den maschinenähnlichen Herstellungsvorgang eingreifen können, und man fand das alles sehr bedenkenswert und interessant, aber das jetzt vorliegende Ergebnis dieser silben- und wörterzählenden Bemühungen, wie es die "grignan-serie" (rot 1) aufzeigt, dieses Ergebnis als Kunst, Dichtung zu betrachten, das kann man sicher nicht lernen.
Soweit so gut; man kann diese Dinge (wie der Rezensent) skeptisch betrachten oder gar vom literarischen Standpunkt aus verurteilen, aber man sollte Herrn Bense und allen anderen schöpferisch ehrlich bemühten Leuten die Freiheit lassen, unbehelligt von staatlicher Bevorvormundung ihrer Tätigkeit nachzugehen. Es wäre albern, Professor Bense in einen Philosophen, einen Dichter und womöglich noch in einen Agitator zu "zerlegen", um ihm so von irgend einer Seite beizukommen.
Da ist nun das Wort "Freiheit" gefallen, ein beinahe schon peinliches Wort. Was es mit ihm auf sich hat, bekam auch Reinhard Döhl, Autor von "rot 2" in seinem "missa-profana-Prozeß" recht deutlich zu spüren. In jenes bewußte Gedicht waren gewisse Sätze einmontiert, die gewissen Leuten nicht in das bewußte Gewissen paßten. Das Ergebnis: Verurteilung des Autors durch ein Gericht. Würden die Zeugen von damals heute das Heft "rot 2" zur Hand nehmen, sie würden sich gelangweilt abwenden: Es gibt keine neue Prozessierungsgelegenhelt, keine Gotteslästerung, keinen Kommunismus, keine Staatsgefährdung. Ganz langweilig wäre es also für die Zeugen in diesen elf Gedichten und sehr unverständlich ginge es darin zu: Da wird Wittgenstein und Breton zitiert, da wird montiert, kurz, es wird alles getan, was nun einmal unbedingt zu moderner Dichtung zu gehören scheint. Ob diese Gedichte große Kunst sind? Nun, das ist eine ganz andere Frage, über die man aber sprechen müßte. Man könnte und müßte wohl in solchen Gesprächen zu dem Schluß kommen, daß von diesem Reinhard Döhl noch ganz anderes (sich weniger kompliziert gebendes) erwartet werden darf, wenn er die Texttheorie Benses bewältigt und hinter sich gelassen hat.
Ja, man könnte gerade von den noch nicht extrem erkalteten Texten Reinhard Döhls aus fruchtbare Gespräche führen... Aber solche Diskussionen, nämlich sachliche und sachgerechte, scheinen unbeliebt zu sein bei uns; man braucht den Kadi, den Ministerpräsidenten und den Bischof, nicht aber den Autor und den Kritiker, wenn man Urteile über deutsche Literaten fällen will.
"rot". Verlag Der Augenblick, Stuttgart 1960. Heft 1: Max Bense, "grignan-serie". Heft 2: Reinhard Döhl, "11 texte". Heft 3: Jean Genet, "Fragmente".
[Vorwärts, 17.3.1961]